Seit einigen Monaten grummelt es in der SPD in Sachen Russland. Immer wieder sondiert ein führender Genosse das Terrain, indem er anregt, die Sanktionen gegen Russland auch ohne die volle Erfüllung des Minsker Abkommens aufzuheben. Einen völlig neuen, ungewohnt aggressiven Ton schlug ausgerechnet unser oberster Diplomat an: Außenminister Frank-Walter Steinmeier. Er verstieg sich zu der Aussage, das NATO-Manöver an der Ostgrenze Polens sei „Säbelrasseln“ und „Kriegsgeheul“ und störe den Verständigungsprozess mit Russland. Steinmeier lässt bei dieser ungeheuerlichen Wortwahl völlig außer Acht, dass es Russland war, das durch seine Aggression gegen die Ukraine erst das Sicherheitsbedürfnis der baltischen Staaten und Polens geweckt hat. Was treibt den deutschen Außenminister an, dem auch Ambitionen auf das Amt des Bundespräsidenten nachgesagt werden, Ursache und Wirkung in so eklatanter Weise zu vertauschen? Weiterlesen
Rainer Werner
Putin wird gewinnen
Am 9. Mai 2016 haben die sog. Separatisten in Donezk den zweiten Jahrestag des Bestehens ihrer „Volksrepublik“ gefeiert – mit einem Umzug von ca. 10.000 Menschen, die die Fahnen von „Neurussland“ mitgeführt haben. Das Datum fiel zusammen mit dem 71. Jahrestag des Sieges der Roten Armee über den Faschismus, was dem Jubiläum noch die Weihe historischer Größe verlieh. Einige Tage später fand in Berlin das „Normandie-Treffen“ statt, das Treffen der Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Russlands und der Ukraine, zu dem Außenminister Steinmeier eingeladen hatte. Wie zu erwarten war, gab es bei den Verhandlungen keinerlei Fortschritte. Steinmeier verkaufte deshalb die erneute Versicherung der beiden Streitpartner Russland und Ukraine, künftig die Waffenruhe besser einhalten zu wollen, als Erfolg. Außer Spesen nichts gewesen. Weiterlesen
Rote Karte für die Türkei
Am 2. Juni 2016 hat der Deutsche Bundestag mit überwältigender Mehrheit eine interfraktionelle Resolution verabschiedet, in der das Massaker des Osmanischen Reiches 1915/1916 gegen die christliche Minderheit der Armenier als Völkermord bezeichnet wird. In der Resolution bekennt sich der Bundestag zugleich zur Mitschuld des Deutschen Reiches, das in Waffenbrüderschaft mit dem Osmanischen Reich verbunden war und den Massenmord sehenden Auges geschehen ließ. Rechnet man die Toten hinzu, die die Verfolgung der Armenier durch die Jungtürken schon vor den „Todesmärschen“ gekostet hat, kommt man auf eine Gesamtzahl der Opfer von bis zu 1,5 Millionen Menschen. Hier nicht von Völkermord zu sprechen, ginge an den Tatsachen vorbei. Die Türkei hat bisher stets nur bedauert, dass es Opfer unter den Armeniern gegeben habe, das Ausmaß der Massaker, ihren systematischen und grausamen Charakter jedoch und vor allem die Bewertung der Gräuel als Völkermord stets bestritten, und sie tut es bis heute. Was in Deutschland heute weitgehend unumstritten ist (rechnet man die notorischen Leugner auf der extremen Rechten ab), nämlich die Verbrechen Deutschlands – Angriffskrieg und Holocaust – schonungslos und wahrheitsgemäß aufzuarbeiten und der Opfer würdig zu gedenken, ist in der Türkei noch nie möglich gewesen. Und heute ist es weniger möglicher denn je. Nationalistisches Denken hat die türkische Gesellschaft und das Parteiensystem so sehr infiziert, dass man es von links bis rechts als Beleidigung der türkischen Nation empfindet, wenn man auf die historische Wahrheit pocht. Das kluge Wort des früheren tschechischen Präsidenten Vlaclav Havel, dass ein Volk in der Wahrheit leben müsse, um seine Würde zu bewahren, hat in der Türkei bisher nicht die geringste Resonanz gefunden. Deshalb ist es nicht verkehrt, wenn demokratische Staaten bei der Aufarbeitung der Schattenseiten in der türkischen Vergangenheit etwas nachhelfen – auch mit solchen Resolutionen. In der Schweiz gilt es sogar als Straftatbestand, wenn man den Völkermord an den Armeniern leugnet. Weiterlesen
Die Hälfte des Himmels
„Wo das Weib aufhört, fängt der schlechte Mann an.“ (Heinrich Heine)
„Frauen tragen die Hälfte des Himmels“ lautet ein chinesisches Sprichwort. Auch der Kommunist Mao Zedong ging damit hausieren. In der ganzen Welt ist die Verheißung, die in diesem Satz steckt, noch nicht zur Gänze eingelöst worden. Zu stark sind noch die Traditionen überkommenen Stammesdenkens oder die Vorurteile, die aus einer fragwürdigen, vormodernen Religionsauslegung resultieren. In China will es die konfuzianische Tradition, dass Mädchen, die heiraten, für immer aus der Herkunftsfamilie ausscheiden und sich der Familie des Bräutigams anschließen. Diese Reduktion eines Mädchens auf die künftige Funktion als Schwiegertochter erklärt ihren gegenüber einem Jungen niedrigeren Rang. Im Islam verhindert eine konservativ-orthodoxe Auslegung des Koran vielerorts die Gleichberechtigung der Geschlechter.
Wie sieht es in unserem westlichen, christlich geprägten Kulturkreis aus? Wo Demokratien herrschen, ist die Gleichberechtigung von Mann und Frau immerhin rechtlich garantiert. Auf einem anderen Blatt steht die Benachteiligung im Alltag, in der beruflichen Entlohnung und in der Besetzung von Führungspositionen in Staat und Wirtschaft. Immerhin haben die Frauen hier kräftig aufgeholt. Unter den Abiturienten bilden Mädchen schon seit einigen Jahren die Mehrheit. Jetzt kommt es darauf an, diesen Vorsprung bis zum Ende des Studiums und darüber hinaus zu bewahren. Weiterlesen
TTIP: die letzte Schlacht der Achtundsechziger
Im Oktober 2015 fand in Berlin eine der größten Demonstrationen der letzten Jahrzehnte statt. 200.000 Menschen demonstrierten unter dem Motto „Für einen gerechten Welthandel“ gegen das Freihandelsabkommen der EU mit den USA, TTIP. Die Demonstranten waren dem Aufruf eines Bündnisses aus über 60 Organisationen gefolgt, deren wichtigste Greenpeace, Foodwatch, Compact, Oxfam und Attac sind. Auch die Gewerkschaft der Polizei (sic) und Brot für die Welt waren mit von der Partie. Schaute man sich die Berliner Demonstranten genauer an, fiel auf, dass neben vielen jungen Teilnehmern – vermutlich aus dem studentischen Milieu – viele Silberköpfe unterwegs waren, Menschen zwischen 60 und 75, die auch schon anderenorts durch Militanz und Renitenz aufgefallen waren (Beispiel: Stuttgart 21). Hätte man sie nach ihrer Protestbiografie gefragt, hätten sie sicher viel erzählen können: von den Schlachten um Brokdorf, Wackersdorf und Wyhl; von der Freien Republik Wendland, von der Rathausbesetzung in Bonn; von der Demo im Bonner Hofgarten gegen die NATO-Nachrüstung und vieles mehr. Vermutlich hat sie der antiamerikanische Unterton, der alle Proteste gegen TTIP begleitet, angezogen. Warum sollte man nicht noch im fortgeschrittenen Alter gegen den Staat auf die Straße gehen, den man schon als jugendlicher Rebell als „Feind der Menschheit“ bekämpft hat („Nieder mit dem US-Imperialismus!“; „USA: SA – SS“). In der Werbeindustrie gilt die Devise: „Sex sells“. In der deutschen Protestkultur gilt: „Gegen die USA geht immer.“ Weiterlesen
Quo vadis, SPD?
Auch für Parteien gibt es Konjunkturen, wie es Moden für Musik- und Kleidungsstile gibt. Die SPD hatte ihre starke Zeit mit Willy Brandt – also in den 1960er/1970er Jahren. Zum einen gab es damals einen Reformstau im Inneren („Mehr Demokratie wagen!“) und in der Außenpolitik („Neue Ostpolitik“). Für beides hatte die SDP das passende Konzept und die richtige Persönlichkeit („Willy wählen!“) parat. Außerdem hat ihr die Studentenbewegung von 1968 viele jungen Menschen zugeführt, die zwar stark theorielastig waren, die in der traditionsbewussten Arbeiterpartei aber wie ein Jungbrunnen wirkten. In den 1970er Jahren hatte die SPD über eine Million Mitglieder, heute weniger als die Hälfte. Nicht zu Unrecht spricht man von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als vom „sozialdemokratischen Zeitalter“. Das Konzept der „sozialen Gerechtigkeit“, das zum Markenkern der Sozialdemokratie gehört, war so erfolgreich, dass andere Parteien es zu kopieren versuchten. Die Grünen ergänzten ihr ökologisch ausgerichtetes Programm um sozialpolitische Forderungen (inklusive Umverteilung durch Steuern), die teilweise radikaler waren als die der SPD. Auch die CDU wollte beim Wettkampf um die sozial gerechte Gesellschaft nicht zurückstehen. Angela Merkel und Ursula von der Leyen standen für eine moderne Familien- und Sozialpolitik, die zuvor in der CDU undenkbar gewesen wäre. Weiterlesen
Der Untergang des Abendlandes
„In der Stunde wilder Ausgelassenheit, wo jede Leidenschaft entflammt und jede Zügel entfernt war, […] wurde ein grausames Gemetzel unter den Römern angerichtet […], und die Straßen der Stadt waren mit Leichen bedeckt.“ Dies ist ein Zitat aus „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ von Edward Gibbon (1737-1794), dem bedeutendsten britischen Historiker der Aufklärung. Das sechsbändige Monumentalwerk umfasst den Zeitraum von der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453. Das Zitat beschreibt die Exzesse, die die Westgoten unter ihrem Heerkönig Alarich im Jahre 410 n. Chr. anrichteten, als sie Rom drei Tage lang plünderten. Gibbon begnügt sich nicht mit der Beschreibung der Massaker. Er will den Ursachen auf den Grund gehen, warum ein wildes Reitervolk ein bislang militärisch hocheffektives Imperium kläglich zu Fall bringen konnte. Er schildert ausführlich den Sittenverfall, der sich vor allem in der Hauptstadt des Reiches, in Rom, ausgebreitet habe. Brot und Spiele und ein üppiges Luxusleben hätten die Moral geschwächt und die Widerstandskraft vor allem der Eliten gelähmt. Weiterlesen
Muslimische Staaten in der Pflicht
Seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien im Jahre 2010 sind über 11 Millionen Syrer auf der Flucht. Das ist knapp die Hälfte der ursprünglich 23 Millionen Einwohner. Die meisten davon – 7,6 Millionen – sind Binnenflüchtlinge, die noch relativ sichere Landesteile aufsuchen. 4 Millionen sind in die Nachbarstaaten geflohen, vor allem in die Türkei, nach Jordanien und in den Libanon. Aus den Lagern in diesen Ländern haben sich im Sommer und Herbst 2015 rund 1,5 Millionen Menschen auf den Weg nach Europa gemacht, weil die Lebensmittelversorgung in den Lagern schlechter geworden war. Die Balkanroute glich zeitweilig einer Autobahn der Völkerwanderung. In Deutschland sind seit Sommer 2015 ungefähr 1,1 Millionen Menschen aufgenommen worden. Bei dem gigantischen Andrang, der die Behörden vor Ort vor enorme Herausforderungen gestellt hat, ließ es sich nicht vermeiden, dass sich auch Flüchtlinge aus anderen muslimischen Staaten in den Strom gemischt haben, um sich als „Syrer“ das sichere Ticket für den Eintritt nach Deutschland zu sichern. Hoch ist vor allem der Anteil junger Männer aus Afghanistan, Pakistan, Eritrea und den Maghrebstaaten. Weiterlesen
Darf Satire wirklich alles?
Selten gehe ich mit der Meinung konform, die Jakob Augstein in seiner Kolumne „Im Zweifel links“ auf SPIEGEL-online äußert. Mit seinem letzten Kommentar „Witz, komm raus!“ (18. 04. 2016) bin ich allerdings voll und ganz einverstanden. Die Botschaft ist so einfach wie treffend: Bei Jan Böhmermanns Machwerk handele es sich weder um Kunst noch um Satire, sondern um eine Beleidigung. Und eine Beleidigung sei nach unserer Rechtsordnung strafbar – Kanzlerin-Ermächtigung hin oder her.
Mich hat in der öffentlichen Debatte gewundert, wie sehr die feinsinnigen Feuilletonisten der liberalen Blätter bemüht waren, das beleidigende Potential des anstößigen „Gedichts“ hinter dem Pathos der Verteidigung von Meinungsfreiheit und Kunstprivileg zu verstecken. Man stelle sich einmal folgendes vor: Ein Pegida-Anhänger hätte ein solches Schmähgedicht gegen die Ausländerbeauftrage der Bundesregierung (eine Deutsche mit türkischem Hintergrund) oder gegen Cem Özdemir von den Grünen oder – noch schlimmer – gegen einen homosexuellen Politiker verfasst. Dann wären die Wogen der Empörung hochgeschlagen und die wackeren Verteidiger der Meinungsfreiheit hätten nach dem Kadi gerufen. Weiterlesen
Billiges Geld und die Folgen
Unter Kollateralschäden versteht man im Militärischen die Begleitschäden, die unbeabsichtigt erfolgen, die aber um der eigentlichen Waffenwirkung willen in Kauf genommen werden. In der Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt es auch Kollateralschäden. Nur sind sie weniger offensichtlich als die militärischen, weil es die Opfer nur allmählich merken, dass sie durch etwas in Mitleidenschaft gezogen werden, das sie nicht beeinflussen können.
Am 10. März 2016 hat die Europäische Zentralbank (EZB) den Leitzins auf 0,05 % abgesenkt. Das Volumen der monatlichen Anleihekäufe wurde auf 80 Milliarden Euro angehoben. Der Strafzins, den Banken für Einlagen bei der EZB zahlen müssen, wurde auf minus 0,4% abgesenkt. Gleichzeitig wurde signalisiert, dass dies noch nicht das Ende der Fahnenstange bedeute. Im Jahre 2012 hat Notenbankchef Mario Draghi mit seiner geldpolitischen Bazooka die Politik des billigen Geldes eingeläutet. Draghi wollte damit einerseits das Abgleiten in eine Deflation verhindern, andererseits die Unternehmen dazu veranlassen, mit Hilfe von billigen Krediten Investitionen vorzunehmen, die das Wirtschaftswachstum ankurbeln sollten. Damit glaubte er die Wachstumsschwäche in der Europäischen Union überwinden zu können. Nach vier Jahren ist es an der Zeit zu fragen, ob sich diese Voraussagen erfüllt haben. Weiterlesen
Neue Arbeiterpartei AfD
Bemerkenswert bei den drei Landtagswahlen am 13. März 2016 war die Tatsache, dass die AfD in allen drei Bundesländern massiv Arbeiter und Arbeitslose angezogen hat. Beide Wählergruppen stellten mit Anteilen von 23% / 25% in Rheinland-Pfalz, 30% / 32% in Baden-Württemberg und 35% / 36% in Sachsen-Anhalt die größten Stimmenanteile. Danach folgten erst Selbständige, Angestellte und als Schlusslicht Rentner. Die Wählerwanderung hin zur AfD aus den anderen Parteien bestätigt diesen Befund. Nach der CDU verlor die SPD am stärksten an die AfD. In Sachsen-Anhalt war es die Linke, die nach der CDU am heftigsten zur Ader gelassen wurde. Die Linke stürzte in dem Land, in dem sie vor der Wahl sogar Regierungsambitionen gehegt hatte, regelrecht ab. Beide linke Parteien zusammen (SPD / Linke) verloren in diesem Land 18,3% an Stimmen. Ein beispielloser Absturz zweier Arbeiterparteien. Weiterlesen