starke-meinungen.de https://starke-meinungen.de/blog/ Autoren-Blog Fri, 16 Feb 2024 13:28:21 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=6.3.3 Neid und Missgunst https://starke-meinungen.de/blog/2024/02/16/neid-und-missgunst/ https://starke-meinungen.de/blog/2024/02/16/neid-und-missgunst/#comments Fri, 16 Feb 2024 13:28:21 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=10036 Ich habe bereits meinem Ärger über den plumpen Professoren-Humor in der Biografie des Kaisers Friedrich II von Olaf B. Rader Luft gemacht. Diese dröge Lebensbeschreibung, die aus unerfindlichen Gründen als Standardwerk gilt, verglich ich mit der funkelnden Biografie von Ernst Kantorowicz. Wie es scheint, ist sich Rader des Unterschieds in der schriftstellerischen Potenz bewusst und grenzt sich von Kantorowicz ab... Weiterlesen »

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Ich habe bereits meinem Ärger über den plumpen Professoren-Humor in der Biografie des Kaisers Friedrich II von Olaf B. Rader Luft gemacht. Diese dröge Lebensbeschreibung, die aus unerfindlichen Gründen als Standardwerk gilt, verglich ich mit der funkelnden Biografie von Ernst Kantorowicz. Wie es scheint, ist sich Rader des Unterschieds in der schriftstellerischen Potenz bewusst und grenzt sich von Kantorowicz ab – in einer Art jedoch, die jede Fairness vermissen lässt.

Rader nennt die Friedrich-Biografie von Kantorowicz zwar zutreffend „berauschend und bedrückend“, um sich gleich darüber zu beschweren, dass sie „auch noch heute einen beträchtlichen Ruhm als wissenschaftliche Biographie des Kaisers“ genieße, was sie „gar nicht ist und nach dem Verständnis des Autors auch nie sein sollte.“

Das stimmt wohl, wenn „wissenschaftlich“ gleichzusetzen ist mit thesenarm und fußnotenvoll. Aber das ist schon wieder Polemik. Geben wir zu, dass der Ruhm der Kantorowicz-Biografie wenig mit seinem wissenschaftlichen Rang zu tun hat. Sondern mit den literarischen, ja dichterischen Fähigkeiten des Autors. Das aber will Rader nicht gelten lassen und wird gemein:

„Die Bekanntheit des Buches hat mit den teilweise dramatischen Lebensumständen von Ernst Kantorowicz zu tun“, schreibt der in der DDR 1961 Nachgeborene, „die die vielen politischen und intellektuellen Brechungen des 20. Jahrhunderts exemplarisch spiegeln.“

Diese „dramatischen Lebensumstände“ sind, kurz zusammengefasst: Kantorowicz war nach eigenem Bekenntnis ein „national gesinnter Jude“ und Homosexueller, der zum engeren Zirkel um den Dichter Stefan George gehörte, sich 1914 freiwillig zum Kriegsdienst meldete, nach dem Krieg den Freikorps angehörte, die gegen die Abtretung von Gebieten an Polen kämpften, den Spartakusaufstand in Berlin und die Räterepublik in München niederschlugen. Dennoch musste er 1938 emigrieren und landete in den USA, wo er mit Senator McCarthy Probleme bekam, mit J. Robert Oppenheimer befreundet war und 1963 starb.

Rader insinuiert, die Bekanntheit des Buches hänge vor allem damit zusammen, dass Kantorowicz Jude war. Denn national gesinnt und homosexuell waren ja viele, der George-Kreis hat noch in der Bundesrepublik viele Anhänger und einen großen Einfluss gehabt, Kriegsfreiwillige und selbst Freikorps-Leute gab es ja auch viele. Besonders an Kantorowicz ist nur, dass er als Jude trotz seiner nationalen Gesinnung emigrieren musste. Ob dieses Leben die „politischen und intellektuellen Brechungen des 20. Jahrhunderts exemplarisch spiegele“, ist eine andere Frage. Wenn der Antisemitismus eine „Brechung“ ist, vielleicht.

Olaf B. Rader war fast 30 Jahre alt, als die DDR der Bundesrepublik beitrat, was ja auch „dramatisch“ für viele „gelernte Ossis“ war; ich würde aber nicht unterstellen wollen, seine Friedrich-Biografie sei trotz ihrer Schwächen hauptsächlich wegen der Biografie des Autors, die eine der wesentlichen „Brechungen“ des 20. Jahrhunderts spiegele, bekannt.

Wie dem auch sei: Rader irrt. Das Buch von Kantorowicz war bei seinem Erscheinen 1927 schon eine Sensation, und nicht wegen der „dramatischen Lebensumstände“ des Autors, der erst durch das Werk „schlagartig berühmt“ wurde, wie es bei Wikipedia heißt. Es wird heute wegen seiner sprachlichen und intellektuellen Brillanz gern gelesen, und als rückwärtsgewandte Utopie, als Gegenentwurf zu einer Geschichtsteleologie, die alle Entwicklungen auf die Moderne zulaufen lassen.

Das Buch derart abzutun, wie es Rader tut, ist schlicht gemein – und verrät mehr über Rader, als ihm selbst lieb sein kann. Über Kantorowicz hingegen sagt diese unfaire und unzutreffende Kritik schlicht gar nichts aus.

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Hier lacht der deutsche Professor https://starke-meinungen.de/blog/2024/02/15/hier-lacht-der-deutsche-professor/ https://starke-meinungen.de/blog/2024/02/15/hier-lacht-der-deutsche-professor/#respond Thu, 15 Feb 2024 09:15:25 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=10033 Anlässlich eines Kurzurlaubs in Palermo wollte ich mich über den Stauferkaiser Friedrich II kundig machen. Leider gibt es das Standardwerk von Ernst Kantorowicz nicht als E-Book, jedenfalls nicht in deutscher Sprache, so dass ich mit Rücksicht auf die Gewichtsobergrenze meines Gepäcks mit einem Werk des Historikers Olaf B. Rader vorlieb nehmen musste. Was ich bedauere. Es mag ja sein, dass... Weiterlesen »

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Anlässlich eines Kurzurlaubs in Palermo wollte ich mich über den Stauferkaiser Friedrich II kundig machen. Leider gibt es das Standardwerk von Ernst Kantorowicz nicht als E-Book, jedenfalls nicht in deutscher Sprache, so dass ich mit Rücksicht auf die Gewichtsobergrenze meines Gepäcks mit einem Werk des Historikers Olaf B. Rader vorlieb nehmen musste.

Was ich bedauere. Es mag ja sein, dass Kantorowicz, beeinflusst durch die Ideen des George-Kreises, dem idealisierten Kaiser einiges andichtete, was einer sachlichen Überprüfung nicht standhält, aber er begriff immerhin, dass jede große Geschichtsschreibung eben auch Dichtung ist, Erzählung und  Verdichtung. Schon in der – schlechten – englischen Übersetzung, deren erstes Kapitel ich, an der Drögheit des Rader’schen Werks verzweifelnd, als Leseprobe auf mein Kindle herunterlud, sprüht es vor Ideen und Erzählungen. Aber, gewiss, Numismatiker und Dokumentenkundler kommen vermutlich bei Rader eher auf ihre Kosten.

Hin und wieder scheint Rader selbst aufzugehen, dass er seine Leser langweilen könnte. Und so baut er hier und da Humoristisches ein. Hier lacht der deutsche Professor. Etwa, wenn er davon berichtet, wie Friedrich im Jahre 1212 auf dem Weg nach Deutschland, um sich zum Kaiser krönen zu lassen, am Fluss Lambro von mailändischen Truppen angegriffen wurde, die dem amtierenden Kaiser Otto IV anhingen. Nur durch die Flucht auf einem ungesattelten Pferd durch den reißenden Fluss konnte sich der Achtzehnjährige vor den Verfolgern retten. Rader zitiert eine mittelalterliche Quelle, in der es heißt: „Friedrich badete seine Hose im Lambro.“ Dazu der Professor: „Nasse Hosen hatte Friedrich sich bei seiner Flucht geholt. Ob sie nur von außen oder vielleicht auch gleich von innen feucht geworden sind, mochte sich ein Leser mit dazudenken.“

Ähm, nein, danke. Zu dieser Vorstellung habe ich weder Anlass noch Lust. Nirgends wird berichtet, dass Friedrich feige gewesen wäre, und weshalb ich mir „dazudenken“ soll, dass er sich bei dieser Gelegenheit in die Hosen gemacht habe, bleibt das Geheimnis des Professors.

„Diese gehässige Formulierung ist neben der Häme bemerkenswert“, schreibt Rader, und er hat Recht; meint aber nicht sich und seine Aufforderung an „einen“ Leser, „von innen fecht gewordene“ Hosen „dazuzudenken“, sondern die Formulierung, der Noch-Nicht-Kaiser habe „seine Hose im Lambro gebadet“. Sie ist leicht erklärt, denn die zitierten Annalen sind eben friedrichfeindlich. Aber auch die gehässige Formulierung des deutschen Professors ist leicht erklärt. Er fand das lustig. Höhö.

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Berlin ist nicht Weimar https://starke-meinungen.de/blog/2024/01/22/berlin-ist-nicht-weimar/ https://starke-meinungen.de/blog/2024/01/22/berlin-ist-nicht-weimar/#comments Mon, 22 Jan 2024 09:14:46 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=10023 Ich danke Martin Jander für seinen Beitrag. Er zeigt beispielhaft, mit welchen Ausblendungen, Halbwahrheiten und sprachlichen Tricks selbst hoch gebildete und seriöse Menschen arbeiten müssen, um bestimmte Positionen von vornherein aus der Debatte um den Umgang mit der Neuen Rechten auszuschließen. Ich gehe davon aus, dass wir – Martin Jander und ich – im Wesentlichen die gleichen Ziele verfolgen. Wir... Weiterlesen »

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Ich danke Martin Jander für seinen Beitrag. Er zeigt beispielhaft, mit welchen Ausblendungen, Halbwahrheiten und sprachlichen Tricks selbst hoch gebildete und seriöse Menschen arbeiten müssen, um bestimmte Positionen von vornherein aus der Debatte um den Umgang mit der Neuen Rechten auszuschließen.

Ich gehe davon aus, dass wir – Martin Jander und ich – im Wesentlichen die gleichen Ziele verfolgen. Wir wollen ein Deutschland, das eingebunden ist in den Westen, das heißt verteidigungspolitisch in die Nato, wirtschaftspolitisch in den global agierenden liberalen Kapitalismus, gesellschaftspolitisch in die Riege der demokratischen Rechtsstaaten; das ein vereintes Europa anstrebt und verteidigt; und das im Inneren jeden Extremismus, ob von rechter, linker oder islamischer Seite, entschlossen bekämpft, ohne dabei seinen liberalen und demokratischen Charakter zu verlieren, das heißt, ohne aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen.

Selbstkritik

In diesem Zusammenhang – und nur in diesem Zusammenhang sind meine Äußerungen verständlich – hatte ich in einem Artikel gefragt, ob die CDU nicht „in den sauren Apfel beißen“ und angesichts der zu erwartenden Wahlerfolge der AfD in drei östlichen Bundesländern Koalitionen mit der AfD – bei gleichzeitiger klarer Ablehnung einer Koalition auf Bundesebene – eingehen sollte. Ich sollte vorwegsagen, dass diese Überlegung erstens nicht mit der Redaktion der WELT abgesprochen und zweitens völlig unzureichend begründet war. Zumal in der Aufregung nach den Recherchen von „Correctiv“ hätte ich, drittens, die Gedanken für mich behalten sollen – und wenn schon, viertens, dann in einer Art Abwägung – was spricht dafür, was dagegen – vortragen, was ja auch meinem eigenen Gedankenstand entspricht. Und fünftens ist es völlig klar, dass die CDU in diesen sauren Apfel nicht beißen wird, selbst wenn es einige Funktionäre in Thüringen und Sachsen gibt, die dafür wären, weil das der sicherste Weg wäre, der Ampel vier weitere Jahre in der Regierung zu sichern. Wogegen ich übrigens nichts hätte.

Ausblendungen: Was will die Linkspartei?

Ich komme aber zurück zu der Frage, ob Martin Jander und ich wirklich die gleichen Ziele verfolgen. Wie Martin wählt, weiß ich nicht, und es geht mich nichts an, aber er scheint ein Bündnis aller demokratischen Parteien für ein Verbot der AfD oder wenigstens einen „Demokratiepakt“ dieser Parteien zu befürworten, also die Zusammenarbeit gegen die AfD.

Und er zählt ausdrücklich die Linkspartei zu diesen Parteien.

Doch will die Linkspartei ausweislich ihres Programms, „dass Deutschland aus den militärischen Strukturen des Militärbündnisses (Nato A.P.) austritt und die Bundeswehr dem Oberkommando der NATO entzogen wird.“ Die Linkspartei fordert „ein sofortiges Ende aller Kampfeinsätze der Bundeswehr. Dazu gehören auch deutsche Beteiligungen an UN-mandatierten Militäreinsätzen nach Kapitel VII der UN-Charta“ – etwa gegen Terrorgruppen wie den Islamischen Staat.

Die Linkspartei lehnt auch eine „Beteiligung an militärischen Einsätzen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (der EU A.P.) und der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie an EU-Battle Groups und EU-Interventionsstreitkräften“ ab.

Kurzum: Die Linkspartei will Deutschland und die EU wehrlos machen gegen Bedrohungen von russischer oder islamistisch-terroristischer Seite und will einen Keil treiben zwischen uns und unsere Verbündeten im Westen. Sie ist keine Partnerin im Kampf gegen den Rechtsextremismus, weil sie hier die gleichen Ziele verfolgt wie die Rechtsextremen.

Was die Europäische Union jenseits von Battle Groups und dergleichen betrifft, so will die Linkspartei „eine Europäische Union, die Demokratie und nationalstaatliche Souveränität nicht den Finanzmärkten opfert.“ Das könnte so im Programm der AfD stehen und stand so ähnlich im Europawahlprogramm 2019 der AfD, wo ein „Europa der Vaterländer“ gegen die „Bankenunion“ gefordert wird.

Die Linkspartei will „ein anderes Europa“. Kein Europa auf der Basis der sozialen Marktwirtschaft, denn diese stelle „einen Kompromiss zwischen Lohnarbeit und Kapital dar, der die Herrschaft des Kapitals nicht in Frage stellte.“ Mit „Herrschaft des Kapitals“ (die Rechten sagen: der „Globalisten“) ist aber nichts anderes gemeint als der liberale Kapitalismus, der historisch und aktuell der gesellschaftliche und wirtschaftliche Garant der liberalen Demokratie war und ist.

Die Linkspartei ist also programmatisch ein Feind des Westens. Von den antiisraelischen Aktivitäten eines Teils ihrer Funktionäre – Stichwort Marvi Marmara und „Gaza-Solidaritätsflotte“ – ganz zu schweigen.

Und dennoch war ich dafür, sie – wie es die SPD in verschiedenen Ländern getan hat – in Koalitionen einzubinden, um den sozialen Frieden vor Ort zu wahren (etwa in Berlin, wo die Beteiligung an der Landesregierung dazu beigetragen hat, die nach wie vor bestehende Ost-West-Spaltung zu überbrücken), bei gleichzeitiger Klarstellung, dass diese antikapitalistische und antiwestliche Partei, die Waffenlieferungen zur Verteidigung der Ukraine ablehnt, also faktisch, wie die AfD, als fünfte Kolonne Putins agiert, niemals an der Regierung im Bund beteiligt werden darf.

Martin Jander kritisiert, ich würde „vom Totalitarismusparadigma ausgehen“. Ja, das tue ich. Ich halte aber weder die AfD noch die Linkspartei für totalitäre Parteien. Ich halte sie für populistische und antiwestliche Parteien, deren Ziele bei oberflächlicher Differenz ähnlich sind; nicht zufällig war Sarah Wagenknecht, deren Partei ganz bewusst mit Ressentiments gegen Zuwanderung und Globalisierung im Milieu der AfD-Wählerschaft fischt, bis vor Kurzem Mitglied der Linkspartei. Übrigens finde ich die Spaltung der Linkspartei gut, und ich hoffe, dass es Wagenknecht gelingt, auch die AfD-Wählerschaft zu spalten und auf diese Weise die Gefahr abzuwenden, dass die AfD zur stärksten Partei im Osten wird.

Was aber neue Fragen aufwirft. Sollten SPD und Grüne in Sachsen, Thüringen und Brandenburg lieber Bündnisse mit der Linkspartei und Wagenknecht schließen als mit CDU und FDP? Sollten CDU und FDP mit der Linkspartei und Wagenknecht koalieren, um die AfD von der Regierung abzuhalten? Geht Nationalismus, Antiamerikanismus und Antikapitalismus von links, nur von rechts nicht? Gehören die Linkspartei und die Partei Wagenknechts in einen nationalen „Demokratiepakt“ gegen die AfD? Anders gefragt: Hatten die Trojaner Recht, das hölzerne Pferd in die Stadtmauern zu holen?

Halbwahrheiten: Berlin ist nicht Weimar

Die halbe Wahrheit ist oft schlimmer als eine ganze Lüge. Ich rede hier nicht davon, obwohl es dringend nötig wäre, dass die Demokratie nicht nur von rechts bedroht wird, und auch nicht nur von rechts und „links“ – etwa mit „woken“ Denk- und Sprechverboten im akademischen und journalistischen Bereich – , sondern auch von islamischer Seite, wie jetzt an einer Gesamtschule in Neuss bekannt wurde, wo Schüler eine Scharia-Polizei gegründet und vor allem muslimische Mädchen eingeschüchtert haben. Das ist, wie Martin Jander weiß, kein Einzelfall. Viele Schulen sind längst für muslimische Mädchen und jüdische, schwule und lesbische Kinder, für Lehrkräfte, die über den Holocaust unterrichten sollen und wollen und Toleranz und Gleichberechtigung einfordern, kein demokratischer Raum mehr. Dafür bei Martin Jander kein Wort.

Nein, ich rede von dem „Nie wieder!“, von der Gleichsetzung oder Parallelisierung von Weimarer und Berliner Republik. Die AfD ist nicht die NSDAP, gibt Martin Jander zu; sie bediene sich jedoch – und da hat er Recht – beim Vokabular und Gedankengut der „konservativen Revolution“ in der Weimarer Republik. Der Punkt aber ist dieser: Die AfD ist nicht nur nicht die NSDAP; die herrschenden Eliten der Bundesrepublik sind nicht die herrschenden Eliten von Weimar.

Damals war einzig die SPD eine gesichert demokratisch-republikanische Partei. Bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933, mit dem erst Adolf Hitler die diktatorische Macht bekam, die er brauchte, stimmten die deutschnationale DNVP, das katholische Zentrum und mit Ausnahme der SPD alle anderen noch im Reichstag vertretenen Parteien, auch die Liberalen, dafür. Indem sie den 30. Januar 33, die so genannte „Machtergreifung“, zum Sündenfall erklärten, wollten die dank der Niederlage Deutschlands demokratisch geläuterten Nachfolgerinnen dieser Republikfeinde, die CDU, CSU und die FDP – Bundespräsident Theodor „Papa“ Heuss stimmte dafür, Hitler zum Diktator zu machen! – von ihrer damaligen verblendeten Feigheit ablenken.

Eine Abstimmung wie am 24. März 1933 wäre heute im Bundestag nicht denkbar.

Aber nehmen wir den 30. Januar 33. Der war Teil eines „Masterplans zum Regime Change“, nicht ausgedacht von einem verkrachten Wiener Studenten mit einem T-Shirt-Versand, sondern von wesentlichen Elementen der herrschenden Klasse. Da waren wichtige Teile der Schwerindustrie, allen voran der Rüstungs-, Montan- und Medien-Tycoon Hugenberg; da waren die „ostelbischen Junker“; da war ein großer Teil des Bauerntums in Norddeutschland; da war die rechte Intelligenz an den Hochschulen und in der Literatur; da war, wichtiger noch, die Spitze der Reichswehr und der „Schwarzen Reichswehr“, da war die Spitze der Protestantischen Kirche (ja, doch) in Preußen; da war die reaktionäre DNVP. Da war schließlich der Reichspräsident Hindenburg. Wahrscheinlich habe ich die eine oder andere mächtige Gruppe vergessen.

Sie alle hatten die Republik satt und wollten Deutschland nach den Vorstellungen der „konservativen Revolutionäre“ umgestalten, nach Ideen, die auch ein Thomas Mann in „Betrachtungen eines Unpolitischen“ oder Stefan George in seinen Gedichten entwickelt hatten, die bei Friedrich Nietzsche und Oswald Spengler anklingen: Elitär, hierarchisch, antiwestlich, antidemokratisch, korporatistisch, antisozialistisch, antikommunistisch sowieso; zum Teil militaristisch und revisionistisch, antifranzösisch und antislawisch, zum Teil antikapitalistisch, größtenteils antisemitisch, da gab es Abstufungen und Differenzen, aber im Wesentlichen war man sich einig: Die Republik musste weg! Einzig darüber, ob man sich den Hitler dafür „engagieren“ sollte, gab es Meinungsunterschiede.

Dass man ihn m Interesse der Rettung der Republik habe „einhegen“ und „zähmen“ wollte, erzählten die betrogenen Betrüger nach dem Krieg, sofern sie noch lebten; nein, sie wollten ihn auf die SPD und KPD, auf die Republik selbst loslassen, nicht die Republik schützen; sie wollten ihn dabei als Bluthund an der Leine halten; das gelang ihnen nicht, der Bluthund riss sich los und hat nicht wenige der Verbrecher, die ihn eingesetzt haben, selbst zerfleischt.

Von Ähnlichkeiten zwischen der NSDAP und der AfD zu reden und von der völlig anderen Situation, der völlig anderen Einstellung der herrschenden Eliten, von der Industrie über die Bundeswehr und die Hochschulen bis hin zur Kultur und zu den Parteien (bis in die Reihen der AfD hinein) zu schweigen, heißt eine halbe Wahrheit zu referieren, die zur großen Lügenerzählung wird.

Sprachliche Tricks

Die Lüge muss durch sprachliche Tricks verdeckt werden. So wird aus einem Treffen von Rechtsextremisten, an dem auch vier Mitglieder der AfD und zwei Mitglieder der Werteunion zusammen mit einem verkrachten Backwarenvertreiber, einem IT-Kleinunternehmer, einem Zahnarzt und einer Dame mit mehr Geld als Verstand teilnahmen, wird „eine Tagung von AfD-Politikern, CDU-Mitgliedern und Unternehmern mit dem Rechtsradikalen Martin Sellner“. Es wird, ohne zu quantifizieren, behauptet, dass „Mitglieder der CDU“ mit dem „völkischen Nationalismus sympathisieren“.  Sicher gibt es solche Leute, aber es handelt sich allenfalls ein paar Prozent – wenn überhaupt – der Mitglieder. Es wird ohne Beleg behauptet, Leute wie ich glaubten, „die AfD werde nicht tun, was sie sage“. Was genau sagt sie aber? Was davon glauben Leute wie ich nicht? Glaube ich, dass die AfD die Ideen Martin Sellners umsetzen wird? Nein, das glaube ich nicht, selbst wenn nicht wenige AfD-Mitglieder und noch mehr AfD-Wähler davon träumen.

Tu felix Austria?

Am Ende allerdings löst sich alle Panikmache in Wohlgefallen auf. Nach all dem Beschwören der „Machtergreifung“ durch Hitler, des „Nie Wieder!“, des rechtsextremen Terrors, der „Rückabwicklung der Demokratie“, ja der „Selbstzerstörung der Demokratie“ seit der Wiedervereinigung, sagt Martin Jander, ich würde der Union raten, „auf eine Kopie österreichischer Verhältnisse zuzusteuern“.

Nein, das tue ich nicht, den ich lehne explizit eine Koalition mit der AfD (oder der Linkspartei oder der Wagenknecht-Partei) auf Bundesebene ab, während Sebastian Kurz eine Regierungskoalition mit der FPÖ auf nationaler Ebene schmiedete.

Nun ist Kurz ein unsympathischer Mensch, und die FPÖ ist ein widerlicher Haufen. Es roch in seiner Rechtskoalition von Anfang an nach Korruption und Machtmissbrauch, und darüber stolperte Kurz zu Recht. Aber dass es zu Zeiten der FPÖ-Regierungsbeteiligung die Gefahr einer konservativen Revolution gab, wie sie etwa die Austrofaschisten vor 1938 planten, kann man nicht behaupten. Zu Zeiten der Koalition mit Kurz fielen sogar die Zustimmungswerte der FPÖ.

Dass allerdings die Österreicher und Österreicherinnen auch nach Ibizagate und dem Bruch der Koalition die FPÖ wieder in Massen wählen, das ist ein Problem, dem man mit Verboten und „Demokratiepakten“ mit zweifelhaften Verbündeten, mit falschen Parallelisierungen, mit halben Wahrheiten, mit der Ausblendung anderer Gefahren für die Demokratie, mit sprachlichen Tricks und Unterstellungen nicht beikommt.

Und das gilt mutatis mutandis auch für Deutschland.

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Nie wieder ist Jetzt! Soll man die AfD an den Landesregierungen der fünf neuen Bundesländer beteiligen, um sie an der Macht zu entzaubern? https://starke-meinungen.de/blog/2024/01/21/nie-wieder-ist-jetzt-soll-man-die-afd-an-den-landesregierungen-der-fuenf-neuen-bundeslaender-beteiligen-um-sie-an-der-macht-zu-entzaubern/ https://starke-meinungen.de/blog/2024/01/21/nie-wieder-ist-jetzt-soll-man-die-afd-an-den-landesregierungen-der-fuenf-neuen-bundeslaender-beteiligen-um-sie-an-der-macht-zu-entzaubern/#respond Sun, 21 Jan 2024 16:23:34 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=10020 (Demonstration am 14. Januar 2024 in Potsdam. Reaktion auf die Recherche der Journalistenvereinigung „Correctiv“ über ein Treffen von AfD, CDU und Rechtsradikalen in einem Hotel der Stadt zur Diskussion über einen Masterplan zur Vertreibung von nicht zur Volksgemeinschaft gerechneten Menschen (Foto: Martin Jander). Eine Erwiderung auf Alan Posener Seit dem Bekanntwerden einer Tagung von AfD-Politikern, CDU-Mitgliedern und Unternehmern mit dem... Weiterlesen »

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(Demonstration am 14. Januar 2024 in Potsdam. Reaktion auf die Recherche der Journalistenvereinigung „Correctiv“ über ein Treffen von AfD, CDU und Rechtsradikalen in einem Hotel der Stadt zur Diskussion über einen Masterplan zur Vertreibung von nicht zur Volksgemeinschaft gerechneten Menschen (Foto: Martin Jander).

Eine Erwiderung auf Alan Posener

Seit dem Bekanntwerden einer Tagung von AfD-Politikern, CDU-Mitgliedern und Unternehmern mit dem rechtsradikalen Martin Sellner in Potsdam wird in der Bundesrepublik verstärkt über die Frage diskutiert, wie die Demokratie mit der AfD weiter umgehen soll. Die Tagungsteilnehmer hatten über einen „Masterplan“ gesprochen. Große Teile von Flüchtlingen, Einwanderern u. a., mit oder ohne deutschen Pass, sollen danach aus der Bundesrepublik vertrieben werden. Martin Sellner hat diese Ideen bereits in dem Buch „Regime Change von rechts“ im Antaios Verlag von Götz Kubitschek ausgebreitet.[1]

In der jetzt anhebenden Debatte über den weiteren Umgang mit der AfD hat Alan Posener behauptet, Geschichte wiederhole sich – wie schon Marx gesagt habe – nur als Farce. Die AfD sei nicht die NSDAP von 1933, das Seminar in Potsdam sei nicht die Wannsee-Konferenz von 1942. Um die AfD einzuhegen, solle die CDU in den fünf neuen Bundesländern mit der AfD Koalitionen eingehen und sie dann durch die Beteiligung an den Landesregierungen entzaubern. Die CDU müsse mit den Rechtsradikalen das machen, was die Sozialdemokraten nach 1968 mit den Linksradikalen gemacht hätten.[2] Der Historiker und Terrorismusforscher Martin Jander hält in seinem Beitrag dagegen. Er hält Poseners Idee für selbstmörderisch.

Das öffentliche Bekanntwerden der Absicht von AfD-Politikern, Rechtsradikalen und CDU-Mitgliedern, sich gemeinsam für eine „Remigration“ genannte Vertreibung von Menschen einzusetzen, die von ihnen nicht als Teile der deutschen Bevölkerung angesehen werden, hat mich nicht gewundert.[3] Dass die AfD völkischen Nationalismus vertritt und dass einzelne Mitglieder der CDU mit diesem anti-pluralen Konzept einer Nation sympathisieren, ist lange bekannt.[4] Es brauchte Jahrzehnte der CDU abzuringen, die Bundesrepublik als Einwanderungsland zu verstehen. Wer Friedrich Merz und anderen Anti-Merkelisten in der Union zuhört, weiß, dass sie ihre Niederlage in dieser Auseinandersetzung immer noch nicht verwunden haben, auch wenn sie selbst keinen völkischen Nationalismus verbreiten.

Ich war dagegen positiv überrascht, dass eine Journalistenvereinigung wie das Recherchenetzwerk „Correctiv“ so viel Energie investierte, das Treffen in einem Hotel in Potsdam am 25. November 2023 so genau wie möglich zu recherchieren und der Öffentlichkeit bekannt zu machen. Nicht immer kommen Journalisten ihrer Aufgabe, als vierte Gewalt in der Demokratie zu wirken, so vorbildlich nach.

Wie die Bundesrepublik mit einer politischen Partei und der sie unterstützenden sozialen Bewegung umgehen soll, die einen völkischen Nationalismus vertreten und damit immer größere Unterstützung in der Gesellschaft erlangen, wird seit langem diskutiert. Dass dabei die Stimmen sehr laut sind, die glauben, die AFD werde nicht tun, was sie sage, sie werde sich, einmal an der Macht beteiligt, „entzaubern“, wird den Lesern von Leitmedien wie Social Media Blogs seit Beginn dieser Debatte immer wieder erzählt, jetzt leider auch von Alan Posener in „Die Welt“ (Paywall). Diese Auffassung ist irreführend und aus meiner Sicht auch selbstmörderisch.

AfD: Rückabwicklung der Demokratie

Natürlich ist die AfD nicht die NSDAP. Sie jedoch lediglich als „Farce“ zu verstehen, wie Posener das tut, verharmlost ihre Ambitionen. Sie hat sich nicht weniger vorgenommen, als die Zerstörung der Bundesrepublik, wie wir sie heute kennen.

Entstanden ist die Partei aus unterschiedlichsten bürgerlichen und antibürgerlichen Strömungen. Ohne den rechten Radikalismus, der mit dem Ende der DDR förmlich explodierte, ist sie nicht denkbar. Seit ihrer Gründung ist es ihr gelungen, die unterschiedlichsten Motive bürgerlicher und antibürgerlicher Gruppen zu sammeln und, ähnlich der FPÖ in Österreich, den Eindruck zu verbreiten, man habe mit Hitler und dem Nationalsozialismus nichts zu tun.

Ideologisch stützt man sich aber dennoch auf die intellektuellen Traditionen der „Konservativen Revolution“, die bereits beim Sturz der Weimarer Republik Pate standen, weil sie, wenngleich zumeist selbst keine Parteigänger der NSDAP, mit ihrem völkischen und antidemokratischen Denken Wegbereiter für das waren, was die NSDAP sodann auf die Spitze trieben.  Der heutigen „Neuen Rechten“, die sich diese rechtsintellektuellen Traditionen der „Konservativen Revolution“ zu Vorbildern gemacht hat, ist es gelungen, entscheidende Beratungs- und Schulungsfunktionen in der AfD und der ihr nahestehenden „Desiderius-Erasmus-Stiftung“ zu erringen. Es ist nicht verkehrt, die AfD als eine Partei der „Neuen Rechten“ anzusehen

In der AfD bewegen sich Funktionäre und Gruppen, die deutlich zu erkennen geben, dass sie die für die Bundesrepublik Deutschland konstituierende und in Form der Erinnerungskultur hochgehaltene fortwirkende Verantwortung für die deutschen Verbrechen des Nationalsozialismus wie des Kolonialismus ablehnen und stattdessen als „Schuldkult“ denunzieren oder wie der Thüringer AfD-Vorsitzende Björn Höcke sogar eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ fordern. Weiterhin sind in der AfD viele diejenigen versammelt, die die Einführung einer Staatsbürgerschaft für alle in der Bundesrepublik lebenden Menschen, auch Einwanderer, ablehnen. Darüber hinaus wird die AfD unterstützt von vielen, die eine Transformation und Verwestlichung der DDR zurückweisen.

 

Unterstützer der AfD lehnen ein weiteres Zusammenwachsen eines demokratischen Europas ab, ein Bündnis der Bundesrepublik und Europas mit den USA und Israel ebenfalls. Sie favorisieren eine Kooperation mit Putin. Darüber hinaus ist es der Partei gelungen, mit weiteren rechtsradikalen Netzwerken zu kooperieren, deren völkische Zielsetzungen aber gleichzeitig in der Außendarstellung zu verbergen.

Kurz gesagt, die AfD ist die Partei, die wesentliche demokratische Fortschritte der Bundesrepublik seit dem deutschen Zivilisationsbruch ablehnt, sich für ihre Rückabwicklung einsetzt und sich ideologisch bei den Autoren bedient, die bereits auf eine Zerstörung der Weimarer Republik hinarbeiteten.

SPD und CDU zerstören Art. 16 des Grundgesetzes

Der Versuch, den rechten Radikalismus einzuhegen, wie das Alan Posener vorschlägt, wurde von den beiden großen Parteien der Republik, SPD und CDU, bereits unternommen, bevor es die AfD gab. Dieser Einhegeversuch ist gründlich schiefgegangen.

Der Rechtsradikalismus, der zum Beginn der Vereinigung beider Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus explosionsartig an die Öffentlichkeit trat, wir erinnern uns an den Versuch vom August 1992 ein Asylbewerberheim und seine Bewohner in Rostock-Lichtenhagen zu verbrennen, ist deshalb so attraktiv, weil er erfolgreich war.

Kurz nach dem Pogrom in Rostock-Lichtenhagen verabschiedete der Bundestag mit einer 2/3-Mehrheit eine fast vollständige Abschaffung des in der Verfassung niedergelegten Asylrechts. Damals gab es noch keine AfD. Die Parlamentarier gestanden damit implizit den Pogromisten gute Gründe zu. Angeblich, so musste man das verstehen, hätten sie sich nur für eine Verringerung des Zuzugs von Asylsuchenden eingesetzt.[5]

Für die Ideologen der „Neuen Rechten“ und viele andere war das ein Freudenfest. Es war sogar möglich das Allerheiligste der Demokratie, ihre Verfassung, auszuhebeln. Und, noch besser, die verachteten „Systemparteien“ vollzogen diese Zerstörung des Rechts selbst, sie entzauberten sich. Es war gelungen, sie durch den Einsatz von Gewalt vor sich herzutreiben.

Die Gewaltexzesse der rechtsradikalen sozialen Bewegung appellieren heute wie damals an die Faszination des Bösen, an den Wunsch, jedes Gesetz, Gewissen, Ethik, jede Zivilität abzulegen. Die AfD liefert die Ideologie dazu: „man wird doch mal sagen dürfen.“ Diejenigen, die Individualität, Recht, Freiheit, Gewaltenteilung und Ethik verteidigen, werden von ihr als „Gutmenschen“ oder „politisch korrekt“ tituliert und als Feinde betrachtet.

Wer eine solche Bewegung zu integrieren versucht und ihr nicht den Widerstand aller Demokraten entgegensetzt, der gibt sich selbst auf. Das haben die beiden großen Parteien der Republik mit der faktischen Abschaffung des Asylrechts getan. Dieser Sieg des rechten Radikalismus speisen die Energie und das Selbstbewusstsein der AfD bis heute.[6]

Selbstzerstörung der Demokratie seit 1989/90

Der Selbstaufgabe der Demokraten in der Legislative folgte ihr Rückzug in Judikative und Exekutive,  Justiz und Polizei. Und auch dieser Rückzug kann vom rechten Radikalismus und der AfD als Erfolg verbucht werden.

Viele Kommunen zunächst nur in den fünf neuen Bundesländern, später auch in den alten, haben ein rechtsradikales Problem und leugnen es. Wenn dann Menschen totgeschlagen und totgetreten werden oder verbrennen, werden Zusammenhänge von Polizei und Verfassungsschutz nicht angemessen aufgeklärt. Bis heute streiten sich Verfassungsschutz und Journalisten über die genaue Anzahl der von Rechtsradikalen Ermordeten. Nach der Zählung der Amadeu Antonio Stiftung sind es seit der Vereinigung 1990 genau 219 Todesopfer und 16 Verdachtsfälle. Verfassungsschutz und Polizei gehen von 113 aus.[7]

Aber nicht nur die Zahl der Ermordeten wird verklärt, dort wo es zu Anzeigen kommt, dort wo die Täter ermittelt werden können, kommt es in vielen Fällen nicht zu angemessenen Verurteilungen. Der Journalist Walter Wüllenweber stellte in einer Rückbetrachtung aus dem Jahr 2020 fest, dass die Sicherheitsbehörden bei ihrer wichtigsten Aufgabe versagt hätten, „beim Kampf gegen rassistische Gewalt, gegen die organisierte Kriminalität von Neonazigruppen, gegen Skinhead-Mobs und digital vernetzte Einzeltäter.“[8] Besorgniserregend sei nicht nur die mangelnde Aufklärung der rassistischen Anschläge selbst. Bei den Taten mit rassistischen Motiven seien überhaupt nur 17 Prozent ermittelt worden, nicht einmal die Hälfte von ihnen wurde verurteilt. Etwa zwei Drittel von ihnen sei lediglich mit Geld- oder Bewährungsstrafen sanktioniert worden.

Vergleichbares Versagen von Polizei und Justiz wird auch bei den Anschlägen auf Juden erkennbar, die der Journalist und Historiker Ronen Steinke für sein 2020 erschienenes Buch „Terror gegen Juden: Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt“ recherchiert hat.[9] Er zeigt in der ersten umfassenden Darstellung des Terrors gegen Juden in den beiden deutschen Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus seit 1945, dass das Versagen von Polizei und Justiz trotz offensichtlicher Bedrohungen zum Alltag von Juden und jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik gehört. Die Synagoge in Halle zum Beispiel, auf die am Jom Kippur-Feiertag 2019 ein verheerender Anschlag verübt wurde, dem alle Besucher der Synagoge zum Opfer fallen sollten, war an diesem Tag ohne Polizeischutz. Die Dokumentation der von Steinke erfassten Anschläge hat 99 Druckseiten. Steinke zeigt in seiner Untersuchung, wie verzweifelt viele jüdische Gemeinden um Polizeischutz ringen müssen.

Auch Menschenrechtsaktivisten, Politiker, Mitarbeiter von Gedenkstätten, Lehrer u.a., die sich an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, der Zurückdrängung von rechtsradikalen Aktivisten beteiligen, erhalten häufig nur ungenügend Schutz von Polizei, Staatsanwälten und Richtern. Die Journalistenvereinigung „CORRECTIV“, die das Treffen der AfD-Politiker, CDU-Mitglieder und Rechtsradikalen in Potsdam recherchierte, hat vor noch nicht langer Zeit eine Sammlung und Analyse der Geschichten von 57 Menschen veröffentlicht, die auf Todeslisten von Rechtsradikalen verzeichnet sind, von Polizei und Justiz aber nur unzulänglich geschützt werden.[10]

Frank Jansen, der Experte für rechten Radikalismus bei der liberalen Berliner Zeitung „Tagesspiegel“ bezeichnete die vom Bundeskriminalamt 2022 vorgelegten Zahlen zu politischer Kriminalität als einen „Albtraum“.[11] 55.000 Straftaten hätten Fanatiker 2021 verübt, mehr als 1400 Menschen seien verletzt worden. Diese Zahlen kämen nicht plötzlich, schrieb der Journalist, sie hätten sich in den vergangenen 10 Jahren verdoppelt. Er resümiert: „Die innere Sicherheit der Republik befindet sich offenkundig in einem langen Prozess der Erosion. Diese hat sich in der Pandemie durch den zuvor kaum vorstellbaren Hass von Verschwörungstheoretikern und Impfgegnern noch beschleunigt.“

Links und rechts. Die gleiche Bedrohung für die Demokratie?

Alan Poseners Vorschlag, die AfD an der Macht, wenn auch nur in den fünf Bundesländern, zu beteiligen, muss als geradezu selbstmörderisch angesehen werden. Eines der wesentlichen Probleme bei der Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Rechtsradikalismus und der AfD besteht darin, dass Exekutive und Judikative nicht in der Lage sind, beide angemessen zu sanktionieren. Jetzt soll man der AfD, wenn es nach Alan Posener geht, zumindest in den fünf neuen Bundesländern, Zugriff auf Exekutive und Judikative gewähren? Posener glaubt, in Landesregierungen könnte die AfD nicht so viel „Unsinn“ anrichten, wie in der Bundesregierung. Was aber wohl würde passieren, wenn AfD-Politiker in Thüringen z. B. für Bildung oder innere Sicherheit zuständig wären?

Poseners Denkansatz ist aus meiner Sicht untauglich. Er geht vom Totalitarismusparadigma aus und setzt den rechten Radikalismus und die AfD heute, mit den linken Radikalen von 1968 und danach gleich. Das lässt ihn die Bedrohung der Demokratie und ihrer Institutionen heute nicht angemessen erkennen. Eine vergleichbare Bedrohung für die Demokratie, wie sie AfD und Rechtsradikalismus heute bedeuten, haben die aus dem zerfallenden SDS hervorgehenden Gruppen und Bewegungen nie dargestellt. Sie hatten auch niemals einen vergleichbaren Massenanhang. Auch der Terrorismus, der aus der radikalen Linken hervorging, hat die Republik nicht in derselben Weise bedroht, wie der Rechtsterrorismus das heute tut. Den Sturz der Republik hatte er wohl zum Ziel. Eine wirklich große Unterstützung in der Gesellschaft aber hatte er nicht.

Demokratiepakt

Da sind die Ideen der neuen Protestbewegung für eine bunte Republik, die sich nach der Berichterstattung über das Seminar in Potsdam entwickelt haben, schon wesentlich angemessener.  Das Jahr 2024, die Europa- und die Landtagswahlen, eignen sich für diese Protestbewegung gut. Sie wird die demokratischen Parteien gehörig unter Druck bringen. Der Versuch der Einhegung der AfD und des rechten Radikalismus ist gescheitert. Er hat die AfD nur stärker gemacht.

Auch wenn die AfD nicht die NSDAP ist, so wird sich diese Protestbewegung ganz sicher des Mottos „Nie wieder!“ bedienen und ihn durch ein „Nie wieder ist Jetzt!“ ergänzen. Das alles hat, anders als Alan Posener meint, nichts damit zu tun, dass die AfD fälschlich mit der NSDAP gleichgesetzt würde. Dieses Vorgehen resultiert aus der richtigen Erkenntnis, dass völkisches Denken und die Idee einer kulturell homogen deutschen Gesellschaft Elemente des Nationalsozialismus waren. Gerade die werden von der AfD und ihren Ideologen, den „konservativen Revolutionären“, in Anspruch genommen.

Die Protestbewegung hat auch richtig verstanden, dass die Ideologie der AfD dem Grundgesetz widerspricht, dass in Artikel 1 und 3 die Gleichwertigkeit aller Menschen festhält. Eben diesen zentralen Gehalt der Verfassung, der sich gegen völkischen Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus wendet, wird die Protestbewegung gegen die AfD verteidigen.

Das Motto „Nie wieder ist Jetzt!“ ist auch deshalb angemessen, weil die Weimarer Republik nicht untergehen musste. Es hätte am Ende der 20er und zu Beginn der 30er Jahre andere Handlungsmöglichkeiten gegeben. Der Sieg des Nationalsozialismus war damals so wenig notwendig, wie es heute die Entstehung von Bundes- und Landesregierungen ist, in denen nach dem Modell Österreichs Konservative und AfD zusammenarbeiten.

Ob es zu einem „Demokratiepakt“ der demokratischen Parteien gegen die AfD kommt, ist ungewiss. Freunde eines Parteiverbots der AfD gibt es in CDU, FDP, SPD, Grünen und in „Die Linke“. Da die Union aber noch nicht entschieden hat, ob sie nicht doch lieber Alan Poseners Ratschlägen folgt, die AfD zu integrieren und auf eine Kopie österreichischer Verhältnisse zuzusteuern, ist ungewiss, ob sie sich beteiligen wird. Verweigert sich die Union, könnte die „Ampel“ einen solchen gesellschaftlichen „Demokratiepakt“ auch alleine ansteuern. Verweigert sich auch die „Ampel“, dann kann ein solcher Demokratiepakt auch von der Zivilgesellschaft erzwungen werden.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat am 9. November 2023 in einer Synagoge Berlins anlässlich einer Trauerzeremonie für die von der Hamas am 7. Oktober 2023 ermordeten Menschen und in Erinnerung an die Reichspogromnacht 1938 folgendes Versprechen abgegeben: „Meine Damen und Herren, unser Deutschland gründet darauf, dass wir unteilbar zusammenstehen, dass Bürger und Bürger*innen jüdischen Glaubens selbstverständlich dazugehören und dass wir Terror und Hass gemeinsam die Stirn bieten. „Nie wieder“, das gilt, das lösen wir ein, heute, morgen für alle Zeit.“[12]

Ein solches Versprechen könnte sich die entstehende Protestbewegung gegen die AfD und den Rechtsradikalismus zum Motto machen.

 

[1] Martin Sellner, Regime Change von rechts, Steigra 2023.

[2] Alan Posener, AfD als Koalitionspartner? Wir sind nicht in einem Thriller namens 1933. In: Die Welt vom 16. Januar 2024 (https://www.welt.de/debatte/kommentare/plus249527532/AfD-als-Koalitionspartner-Wir-sind-nicht-in-einem-Thriller-namens-1933.html).

[3] Siehe: Geheimplan gegen Deutschland (https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigration-vertreibung-afd-rechtsextreme-november-treffen/).

[4] Siehe zum Beispiel: Samuel Salzborn, Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der neuen Rechten. Beltz Juventa, Weinheim, Basel 2017.

[5] Siehe dazu: Patrice Poutrus, Umkämpftes Asyl, Berlin 2019.

[6] Siehe dazu: Fabian Virchow, Nicht nur der NSU. Eine kleine Geschichte des Rechtsterrorismus in Deutschland. Erfurt 2020.

[7] Siehe dazu: Amadeu Antonio Stiftung, Todesopfer rechter Gewalt seit 1990 (https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/).

[8] Zitiert nach: Walter Wüllenweber, 30 Jahre – 208 Opfer. In: Der stern vom 27. Februar 2020. Online verfügbar unter: https://www.stern.de/gesellschaft/30-jahre—208-opfer–so-viele-menschen-starben-mindestens-seit-der-einheit-durch-rechte-gewalt-9158748.html.

[9] Siehe: Ronen Steinke, Terror gegen Juden: Wie antisemitische Gewalt erstarkt und der Staat versagt. Berlin 2020.

[10] Siehe: Correctiv (Hrsg.), Menschen im Fadenkreuz des rechten Terrors. Essen, Eigenverlag 2021.

[11] Zitiert nach: Frank Jansen, Trauriger Rekord bei extremistischen Straftaten. Staat und Zivilgesellschaft müssen gemeinsam den Fanatikern entgegentreten. Der Tagesspiegel vom 10.05.2022. Online verfügbar unter https://www.tagesspiegel.de/politik/staat-und-zivilgesellschaft-mussen-gemeinsam-den-fanatikern-entgegentreten-4329412.html.

[12] Siehe dazu das Video beim Fernsehkanal phoenix (https://www.youtube.com/watch?v=viouDuZALmw).

 

 

 

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Benedikt XVI, der Jerry Lee Lewis der Theologie https://starke-meinungen.de/blog/2024/01/06/benedikt-xvi-der-jerry-lee-lewis-der-theologie/ https://starke-meinungen.de/blog/2024/01/06/benedikt-xvi-der-jerry-lee-lewis-der-theologie/#comments Sat, 06 Jan 2024 14:28:49 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=10010 Demnächst werden die Predigten veröffentlicht, die der emeritierte Papst Benedikt XVI in seiner Privatkapelle hielt und die – angeblich ohne sein Wissen, wer’s glaubt, wird selig – mitgeschnitten wurden. Eine wurde bereits veröffentlicht: eine Predigt über Joseph, den Ziehvater des Jesus von Nazareth. Dass Benedikt am vierten Advent des Jahres 2013 dieser biblischen Gestalt gedachte, berührt mich ein wenig, hatte... Weiterlesen »

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Demnächst werden die Predigten veröffentlicht, die der emeritierte Papst Benedikt XVI in seiner Privatkapelle hielt und die – angeblich ohne sein Wissen, wer’s glaubt, wird selig – mitgeschnitten wurden. Eine wurde bereits veröffentlicht: eine Predigt über Joseph, den Ziehvater des Jesus von Nazareth.

Dass Benedikt am vierten Advent des Jahres 2013 dieser biblischen Gestalt gedachte, berührt mich ein wenig, hatte ich doch genau ein Jahr zuvor in der WELT Joseph als „neuen Mann“ gefeiert.

Benedikt geht (wie ich) von der Feststellung des Matthäus aus, Joseph sei „ein Gerechter“. Das heißt, er befolgt als guter Jude das Gesetz, wie es in der Thora niedergelegt wird. Und nun kommt Benedikt in Schwierigkeiten. Denn er geht einerseits von einem fundamentalen „Unterschied zwischen Altem und Neuem Testament“ aus: Im Alten Testament ist die wesentliche Haltung noch eine andere. „Das Wort Gottes erscheint im Alten Testament grundsätzlich in Gestalt des Gesetzes“; hingegen bestehe die „wesentliche Haltung“ eines Christen „in der Begegnung mit Jesus, in der Begegnung mit dem Wort Gottes, das Person ist. Indem wir Jesus begegnen, begegnen wir der Wahrheit, der Liebe Gottes. So wird das freundschaftliche Verhältnis mit der Zeit zur Liebe, unsere Gemeinschaft mit Gott wächst, wir sind wahrhaft Gläubige, ja, werden zu Heiligen.“

Was, so muss man annehmen, Juden vor Jesus nicht möglich war, denn „die Ankunft Christi stand ja erst noch bevor, also konnte es höchstens um eine Bewegung auf Christus hin gehen, ihm entgegen, aber noch nicht um eine wahre Begegnung mit ihm als solche“. Was mit heutigen Juden ist, da ihr  Messias angeblich schon vor 2000 Jahren angeblich erschienen ist, sie aber weder „ihm entgegen“ gehen noch ihm „begegnen“ wollen, sondern stur – halsstörrig nannten es die Christen früher – an der Thora festhalten, sagt Benedikt nicht.

Doch von Joseph sagt er, sein Verhältnis zu der – nicht von ihm – schwanger gewordenen Verlobten sei zeige ein anderes Verhältnis zum Gesetz: „Für ihn bedeutet das Gesetz nicht schlicht Gehorsam, sondern entfaltet sich als Wort der Liebe, als Einladung zum Austausch, und nach dem Gesetz zu leben bedeutet für ihn, der Einladung zu folgen und hinter den großen und kleinen Vorschriften die Liebe Gottes zu entdecken. Er versteht, dass all die Vorschriften nicht um ihrer selbst willen gelten, sondern dass sie Regeln der Liebe sein wollen, dazu da, die Liebe in uns wachsen zu lassen. Ja, das Gesetz als Ganzes erweist sich letztlich als nichts anderes als Liebe: Es ist die Liebe zu Gott und zum Nächsten, und nur in dieser Einsicht lässt sich das Gesetz vollgültig einhalten.“

Richtig.

Benedikt sagt aber: „So wird mit Josef, dem wahrhaft Gerechten, das Alte Testament zum Neuen“. Ähm, nein. Eben nicht. So wird mit Joseph eine Haltung zum Gesetz sichtbar, die im Judentum damals wie heute galt. So wird von Rabbi Hillel überliefert, der in Babylon lehrte und ein Zeitgenosse des Joseph war, dass er die unter Rabbinern beliebte Frage nach der „Grundnorm“ der Thora wie folgt beantwortete: „Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht; das ist die ganze Gesetzeslehre, alles Andere ist nur die Erläuterung, gehe und lerne sie.“ Diese Norm aber beruht auf dem von Moses den Hebräern gegebene Gebot: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (3 Mose 19,18).

Jesus von Nazareth erweist sich als getreuer Schüler des Pharisäers Hillel: „Als aber die Pharisäer hörten, dass er den Sadduzäern das Maul gestopft hatte, versammelten sie sich. Und einer von ihnen, ein Lehrer des Gesetzes, versuchte ihn und fragte: Meister, welches ist das höchste Gebot im Gesetz? Jesus aber sprach zu ihm: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5. Mose 6,5). Dies ist das höchste und erste Gebot. Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.“

Weder mit Joseph noch mit Hillel noch mit Jesus „wird das Alte Testament zum Neuen“. Und weder Joseph noch Hillel „bewegen sich auf Christus zu“. Würde mit Joseph aber „das Alte Testament zum Neuen“, das Gesetz zum Gesetz der Liebe, wozu brauchte es denn Jesus? Wenn der „wesentliche“ Unterschied zwischen einem Christen und einem Juden, der etwa Hillel folgt, darin besteht, dass der Christ „in der Begegnung mit Jesus“ das „Wort Gottes, das Person ist“, erfährt, während der Jude das eben durch die Begegnung mit dem Wort als Wort erfährt, dann wäre das Christentum lediglich eine jüdische Sekte, die einen Personenkult betreibt.

Nun will ich nicht überheblich sein. Schrieb ich doch 2012 selbst: „Man übertreibt nur wenig, wenn man sagt, das Christentum verdanke alles, was an seinem Gottesbild neu und schön ist, diesem bescheidenen – und wohl ein wenig verträumten – jüdischen Bauhandwerker, diesem merkwürdig modernen, neuen Mann“ – Joseph nämlich. Da gehe ich auch davon aus, dass das Gottesbild der Christen „neu und schön“ ist, oder zu Teilen jedenfalls neu und schöner als das alte Bild der Juden. Da kannte ich weder Hillel noch die lange rabbinische Tradition, in der er steht. Ich war und bin aber auch kein Theologe, nicht der Chef – oder Ex-Chef – einer Weltkirche.

Freilich hat Joseph Ratzinger immer wieder Dinge gesagt, die zentralen Dogmen der Kirche widersprechen. So etwa, als er in seiner „Einführung in das Christentum in Bezug auf Joseph sagte: „Die Gottessohnschaft Jesu beruht nach dem kirchlichen Glauben nicht darauf, dass Jesus keinen menschlichen Vater hatte; die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre. Denn die Gottessohnschaft, von der der Glaube spricht, ist kein biologisches, sondern ein ontologisches Faktum“. (S. 199f.)

Eine merkwürdige Formulierung. Wenn die Gottessohnschaft kein biologisches Faktum ist, dann muss wohl Joseph (oder ein anderer Mann) der Vater des Jesus sein. Dann sind aber auch die jungfräuliche Geburt und die immerwährende Jungfrauschaft Mariens, zwei zentrale katholische Dogmen, ebenso „ontologisch“ zu verstehen. Man fragt sich dann auch, wie es mit der Auferstehung ist, die ja offensichtlich ausweislich der Joseph-Predigt des emeritierten Papstes nicht nötig ist, damit sich das „Alte“ in das „Neue“ Testament verwandelt.

Ratzinger wird zuweilen als „Mozart der Theologie“ bezeichnet. Ich sehe ihn eher als einen Jerry Lee Lewis der Theologie. Mochte er gesellschaftspolitisch erzreaktionär gewesen – oder geworden – sein, wie ich in meinem Buch „Benedikts Kreuzzug“ gezeigt habe; theologisch war er, ob mit Absicht oder aus Unvermögen, ein großer Umwerfer, vor wie nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil.

 

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Aufruf deutscher Feministinnen an die Bundesregierung: Solidarität mit Israel ohne Wenn und Aber https://starke-meinungen.de/blog/2023/12/23/ein-aufruf-deutscher-feministinnen-an-die-bundesregierung-solidaritaet-mit-israel-ohne-wenn-und-aber/ https://starke-meinungen.de/blog/2023/12/23/ein-aufruf-deutscher-feministinnen-an-die-bundesregierung-solidaritaet-mit-israel-ohne-wenn-und-aber/#comments Sat, 23 Dec 2023 09:40:51 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=10005 Zahlreiche Feministinnen, aus viele der Berliner Frauenbewegung der 70ger und 80ger Jahre, haben sich in einem gemeinsamen Aufruf gegen die Hamas, den islamistischen Terror und an die Seite Israels gestellt. Initiatorin der Aktion ist die Publizistin Rebecca Schönenbach vom Verein „Frauen für Freiheit“: Der Angriff der Hamas am 7. Oktober 23 hat sich bewusst gegen Frauen gerichtet. Zur Strategie der Terrororganisation gehörte die... Weiterlesen »

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Zahlreiche Feministinnen, aus viele der Berliner Frauenbewegung der 70ger und 80ger Jahre, haben sich in einem gemeinsamen Aufruf gegen die Hamas, den islamistischen Terror und an die Seite Israels gestellt. Initiatorin der Aktion ist die Publizistin Rebecca Schönenbach vom Verein „Frauen für Freiheit“:

Der Angriff der Hamas am 7. Oktober 23 hat sich bewusst gegen Frauen gerichtet. Zur Strategie der Terrororganisation gehörte die möglichst öffentliche Erniedrigung von Frauen, die Aufnahme dieser Grausamkeit und die darauffolgende Zurschaustellung über soziale Medien sowie in den Straßen Gazas. Obwohl drei Wochen nach dem Massaker an Israelis und den äußerst grausamen Massenvergewaltigungen von israelischen Frauen und Kindern sowie der Entführung von über 200 Menschen das Ausmaß der Gräuel durch die islamistische Terrororganisation Hamas mehr als deutlich wurde, kehren weite Teile der Gesellschaft zur Relativierung des Angriffs auf Israel und auf israelische Frauen zurück.

 

Trotz den offensichtlichen Tatsachen stellt sich auch die Bundesregierung erneut gegen das einzige demokratische Land im Nahen Osten, das Frauen und Männer Gleichberechtigung gewährt. Nicht nur enthielt sich Deutschland bei einer UN-Resolution, die Israel zur Waffenruhe zwingen sollte, sondern das Auswärtige Amt versprach zudem humanitäre Hilfe in Höhe von 50 Millionen Euro für den Gazastreifen, ohne diese Hilfe zumindest an die Bedingung zu knüpfen, dass die Gaza beherrschende Hamas die Geiseln freilassen muss. Unter den Geiseln sind vor allem Frauen und Kinder, denen erneut durch die Terrororganisation Gewalt angetan wird.

Wer nun die totalitär herrschende Hamas mit Waffenruhe und Hilfsgütern trotz der unfassbaren Verbrechen stabilisiert, unterstützt den Terror einer antisemitischen, frauenverachten und homophoben islamistischen Organisation. Einer Organisation, zu deren Ideologie neben dem Hauptziel der Vernichtung Israels die systematische Entrechtung von Frauen und Minderheiten gehört und die nun die Zivilistinnen und Zivilisten in Gaza mit Waffengewalt daran hindert, sich in die von Israel ausgewiesene sichere Zone im Süden zu retten. Eine Organisation, die wahllos in Israel gemordet hat, muslimischen Zivilistinnen mit Kopftuch, Beduinen, tanzende jungen Leute, Säuglinge, Holocaustüberlebende. Einer Organisation, die ihrer eigenen Bevölkerung seit Jahren die empfangenen Hilfsleistungen verweigert und weiter verweigern wird.

Jedes „ja, aber“ ist eine unzulässige Relativierung dieser Gewalt. Wir fordern von der Bundesregierung:

  • Alle Hilfsgelder und -lieferungen nach Gaza zu stoppen, bis die Geiseln freigelassen wurden.
  • Eine Überprüfung aller Hilfsgelder an die palästinensischen Gebiete und die Einstellung der bisherigen Förderpraxis, die nachweislich nicht sicherstellen konnte, dass Gelder missbraucht werden.
  • Israel aktiv mit jeder Hilfe zu unterstützen, die das Land braucht, um sich gegen die Hamas, den Palästinensischen Islamischen Dschihad sowie Hisbollah, die iranischen Revolutionsgarden, Huthi-Miliz und andere Angreifer zu verteidigen.
  • Ein klares Abstimmungsverhalten bei den Vereinten Nationen zum Schutz Israels.
  • Die klare Benennung der Ursache für das Leiden der Zivilbevölkerung in Gaza: Hamas.
  • Das politische Ziel zu fassen, die islamistischen Terrororganisationen in Gaza zu eliminieren, die nicht nur ihre eigene Bevölkerung als Dauergeiseln halten, sondern nun auch europäische Geiseln gekidnappt haben.
  • Von Forderungen von Waffenstillstand abzusehen, denn die Waffenruhe 2021 hat der Hamas die Zeit gegeben, die Angriffe am und seit dem 7. Oktober 23 vorzubereiten und durchzuführen. Jede Waffenruhe ohne einen Sieg über die Hamas nimmt weitere Morde an Israelis in Kauf und ist daher eine Form der Terrorismusunterstützung.
  • Die Änderung der Iranpolitik, denn das Regime im Iran ist ein Hauptunterstützer der Hamas und des PIJ. Das heißt: Keine Verhandlung mit dem Regime, Zurückstufen der diplomatischen Beziehungen auf Geschäftsebene; Entzug der Landeerlaubnis für iranische Airlines; Snapback-Sanktionen auslösen; den Botschafter ausweisen; die Vertretungen des Regimes in Deutschland wie das Islamische Zentrum Hamburgs und die Al Mustafa-Institute schließen; die Listung der Revolutionsgraden als Terrororganiation auf EU-Ebene.
  • Die Überprüfung aller Abkommen mit Katar, denn das Königreich ist ebenfalls Hauptunterstützer der Hamas. Das heißt für sämtliche Abkommen mit Katar: Voraussetzung ist die Auslieferung der Hamas-Führung wegen Kriegsverbrechen sowie die sofortige Einstellung aller Terrorismus- und Extremismusfinanzierung aus Katar. Solange diese Bedingung nicht erfüllt werden, sollte den Mitgliedern der katarischen Regierung und des Könighauses die Einreise verweigert werden.
  • Ein Verbot und strenge strafrechtliche Verfolgung von Samidoun und anderer Vorfeldorganisationen der Terrororganisation PFLP, die in Deutschland Pro-Terror-Demonstrationen organisieren oder dazu aufrufen sowie sonstige Terrorismus- und Extremismusunterstützung leisten.
  • Die Aussetzung jeder staatlichen Förderung in Deutschland von islamischen Organisationen oder Organisationen mit anderen antisemitischen Verbindungen. Die sofortige Auflösung der Deutschen Islam Konferenz, die diese Organisationen zusätzlich seit Jahren legitimiert und damit Antisemitismus, Homophobie und Frauenhass befördert.
  • Den dauerhaften Schutz aller jüdischer Einrichtungen in Deutschland und ein konsequentes Vorgehen gegen jede Form von Antisemitismus. Dazu gehört die Verpflichtung auf die IHRA-Definition bei jeder Vergabe von Fördergeldern und die Überprüfung der Einhaltung dieser Verpflichtung.

 

Wir fordern die Bundesregierung auf: Stellen Sie sich ohne Wenn und Aber an die Seite von Demokratie und Frauenrechten, an die Seite Israels!

 

Unterzeichnerinnen:

Sharon Adler, Publizistin und Fotografin

Seyran Ateş Rechtsanwältin, Autorin, GF‘in Ibn Rushd-Goethe Moschee

Güner Yasemin Balci, Journalistin und Autorin

Inge Bell, Menschenrechtsaktivistin

Halina Bendkowski, Aktionsforscherin für Feminismus&Geschlechterdemokratie

Ilona Bubeck

Naïla Chikhi, Initiative Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung

Annette C. Eckert

Eva-Maria Epple

Dr. Elvira Grözinger

Almut Ilsen, ehemals „Frauen für den Frieden Ost-Berlin“

Alexandra Jacobson, Journalistin

Dr. Gabriele Kämper, Literaturwissenschaftlerin

Fatma Keser, Initiative Migrantinnen für Säkularität und Selbstbestimmung

Cristina Perincioli

Prof. i.R. Dr. Cillie Rentmeister

Lea Rosh, Vorsitzende Förderkreis „Denkmal für die ermordeten Juden Europas e.V.“

Angela Schoschana Reinhard, Psychotherapeutin

Rebecca Schönenbach, Frauen für Freiheit

Gunda Schumann, Vorständin Lesbisches Aktionszentrum (LAZ) reloaded e.V.

Gesine Strempel, Autorin

Eva Quistorp, MdEP a. D., feministischeTheologin, Autorin, Mitgründerin der Grünen

Maya Zehden, stellv. Vorsitzende der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Berlin und Brandenburg

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Maurenbrecher 1: Litfaßsäule https://starke-meinungen.de/blog/2023/12/20/maurenbrecher-1-litfasssaeule/ https://starke-meinungen.de/blog/2023/12/20/maurenbrecher-1-litfasssaeule/#respond Wed, 20 Dec 2023 11:15:26 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=10002 Früher gab es – hach! Ich liebe es, wenn ein Text so anfängt, Opa erzählt vom Krieg – früher gab es eine Kabarett-Truppe in West-Berlin, sie nannte sich „Zwei Drittel“. Und das wirklich Besondere an dieser Truppe war, dass sie sich nicht die regierende SPD oder CDU (in West-Berlin: same difference) vornahm, sondern ihr eigenes Publikum, die Linke, Spontis und... Weiterlesen »

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Früher gab es – hach! Ich liebe es, wenn ein Text so anfängt, Opa erzählt vom Krieg – früher gab es eine Kabarett-Truppe in West-Berlin, sie nannte sich „Zwei Drittel“. Und das wirklich Besondere an dieser Truppe war, dass sie sich nicht die regierende SPD oder CDU (in West-Berlin: same difference) vornahm, sondern ihr eigenes Publikum, die Linke, Spontis und Revis, WGs und Kommunen, Ex-Maoisten und Noch-Trotzkisten. Ja, es gab eine Zeit, da konnten die Guten über sich selbst lachen.

Die Truppe veranstaltete auch im Mehringhof, so ein „alternativer“ Veranstaltungsort, immer einen Jahresrückblick. Der wurde mit der Zeit zusammen mit dem Publikum immer gemütlicher. Die Referendare von einst waren nun Studienräte, die Maoisten via die Grünen zu Stadträten avanciert, man hatte Kinder und Ärger mit der Bürokratie wie andere Leute auch, und fand sich plötzlich gar nicht mehr so komisch. Nur einer blieb zornig, und das war Manfred Maurenbrecher, der es irgendwie nicht schaffte, ein Reinhard May oder Herbert Grönemeyer und schon gar nicht ein Rio Reiser zu werden und vielleicht deshalb schärfer als andere sah, was da in Kreuzberg vor sich ging.

Ich wähle diesen Einstieg, weil ich am 27. Dezember zum ersten Mal seit bestimmt 15, gefühlt 25 Jahren, wieder zum Jahresrückblick in den Mehringhof gehe. Hauptsächlich, weil Freunde die Idee hatten, und ich die Idee nett finde, mit Freunden etwas zu unternehmen; aber auch, weil ich Manfred Maurenbrecher wieder seine Lieder ins Mikrofon nuscheln hören will. „Menschen machen Fehler“ heißt sein letztes Album, und darauf fand ich dieses schöne Stück Nostalgie:

 

LITFASSSÄULE

Wer dich erfunden hat, musste gemütlich sein,
rund und verträglich sein, ein Freund der Nachbarschaft,
dacht’ ich als Kind.
Schon, dass er Litfaß hieß und uns dich nutzen ließ,
du dicke Säule, auf der all das stand,
was unsere Neugier stach,
weil wir so sind –

Oma suchte Filme mit Ruth Leuwerik,
Opa fand den Tanztee im Kempinski schick,
für Mama war der Tag der Offenen Gärten da,
Papa traf Carl Orff in der Urania,
und all das hatten wir von den Plakaten,
um deinen runden Leib geklebt, Namen und Daten,
ein bisschen Werbung zwischendrin, leise und bunt,
unsere Litfaßsäule, der dezente Informant –

jedes Ding hat seine Stunde,
jede Erfindung auf der Welt dreht ihre Runde.

Lange sah ich dich als Teil Erwachsenenwelt,
nichts wirklich Heißes, nichts, was, wenn es wegfällt, fehlt,
doch irgendwann auf dir war ein Plakat der Kinks,
da dachte ich zum ersten Mal: Das ist auch meins, dies Dings,
dies runde Etwas, Werbeobelisk getauft,
und dachte gleichzeitig: Die Kinks auf einer Litfaßsäule?
Jetzt ha’m sie sich verkauft.

Irgendwann bei dir gab’s einen Vorabendkuss,
Riesenriesenrad im Bauch, dann gleich schon wieder Schluss,
da stand ich neben dir allein, Kassettenspieler laut wie’n Schock,
’ne Bravo cool im Hosenbund, Tretroller aufgebockt –
hätt’ mich damals wer gefragt,
was von den Dingen denn noch da sein würd’ in 60 Jahren,
hätt’ ich gesagt: die Säule und das Deck bestimmt, die Illustrierte höchstwahrscheinlich –
nur so’n Roller: wird später irgendwer sowas noch fahren?

Jedes Ding hat seine Stunde,
jede Erfindung auf der Welt dreht ihre Runde.
Manche auch zwei.
Dann ist etwas weniger Abschiedsschmerz dabei.

Ich wünsch dir gute Zeiten in dem Dingehimmel,
grüß mir das ganze tolle Zeugs im Nostalgiegewimmel,
Wählscheibentelefone, Löschblätter,
btx-Modems, die Kutschen und die Gäule,
du alte schlanke oder dicke, immer elegante,
einst topaktuelle, dunkle oder helle,
ökologisch voll korrekte, immer schicke Litfaßsäule.

 

Der „Dingehimmel“ ist schön, das Nostalgiegewimmel mit all den Geräten, die man entsorgt – aber heute war ich froh, die Kabelmaus nicht weggeschmissen, sondern nur in den Keller gebracht zu haben, als nämlich mein PC aus mir unerfindlichen Gründen einfach das Bluetooth ausschaltete und meine schicke Bluetooth-Maus nicht weiterwusste: „Jede Erfindung auf der Welt dreht ihre Runde. / Manche auch zwei.“

Menschen machen Fehler, und die Abschaffung der Litfaßsäule war einer. Da sie rund war, sparte sie Platz; man lief einmal herum und wusste, was angesagt war: Das Kino-Programm zum Beispiel hing da. Sehr wichtig, als es noch kein Internet gab. Das Theaterprogramm auch, und Theater war da noch ein Ereignis, oder konnte es sein. Bin gespannt, ob der Jahresrückblick – ich meine, das war ein heftiges Jahr! – ein Ereignis wird. Und freue mich auf Maurenbrecher.

Übrigens habe ich, glaube ich, mein Bluetooth-Problem gelöst.

 

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Das Jagger-Richards-Songbuch (14): Coming Down Again https://starke-meinungen.de/blog/2023/12/18/das-jagger-richards-songbuch-14-coming-down-again/ https://starke-meinungen.de/blog/2023/12/18/das-jagger-richards-songbuch-14-coming-down-again/#comments Mon, 18 Dec 2023 09:15:53 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=9998 Da es mir bei diesen Besprechungen in erster Linie um die Texte geht, mag es ein wenig verwundern, wenn ich zu Keith Richards‘ 80. Geburtstag einen Song auswähle, der im Wesentlichen aus einer Zeile besteht: „Coming down again“. Wie „Knockin‘ on heaven’s door“. Während mich aber das Pochpochpochen bei Dylan ärgert, ist dieses todtraurige Herunterkommen nach dem Drogen-Himmelssturm wunderbar, und... Weiterlesen »

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Da es mir bei diesen Besprechungen in erster Linie um die Texte geht, mag es ein wenig verwundern, wenn ich zu Keith Richards‘ 80. Geburtstag einen Song auswähle, der im Wesentlichen aus einer Zeile besteht: „Coming down again“. Wie „Knockin‘ on heaven’s door“. Während mich aber das Pochpochpochen bei Dylan ärgert, ist dieses todtraurige Herunterkommen nach dem Drogen-Himmelssturm wunderbar, und Keith Richards zeigte hier zum ersten Mal, was für ein großartiger Sänger er ist. Nicht technisch, versteht sich, Virtuosität ist bei den Rolling Stones sowieso nie der Punkt gewesen, weshalb Mick Taylor da nicht reinpasste, sondern in dem, was bei einem Blues-Sänger am wichtigsten ist: Gefühl.

Ich empfehle niemandem, die Erfahrung zu machen, die hier geschildert wird. Selbst habe ich es nie so exzessiv wie Richards getrieben, und auch nicht so intensiv: Mescalin und LSD waren bei mir das Höchste der Gefühle, Heroin und Opium habe ich gemieden. Und wenn ich ehrlich bin, nach einem zweitägigen sehr merkwürdigen Mescalin-Abenteuer in Darmstadt war ich sehr froh, wieder herunterzukommen. Später aber, mit LSD, gab‘s diese Rückkehr aus einer Welt, die immer hart am Rand des Himmels – knock, knock knockin‘ – war, in die trübe Realität ungemachter Betten, unaufgeräumter Küchen, eines unzulänglichen Lebens, und darum geht es hier. Und um die bange Frage: „Where are all my friends?“

Zugleich ist der Song die Beichte einer Affäre – man sagt, mit Anita Pallenberg, der Freundin von Brian Jones: „Slipped my tongue in someone else’s pie …“ Der Betrogene, grün vor Neid, will sich rächen. Der „green-eyed monster“ ist im englischen Sprachraum die Eifersucht, ein Dämon. John Lennon schreibt in seinem großartigen Song „Scared“: „Hatred and jealousy, gonna be the death of me / I guess I knew it right from the start / Sing out about love and peace / Don′t wanna see the red raw meat / The green eyed goddamn straight from your heart…“

Hungrig sein sei kein Verbrechen, meint Richards wider besseres Wissen, aber nun ist auch die Affäre vorbei, oder die Nacht im fremden Bett mit der Zunge im fremden „pie“: „Coming down again …“ Die Parallelität von Drogensucht und Sexsucht ist offenkundig.

Wer nach oben fährt, ob mit Heroin, der Frau eines Freundes oder der Bild-Zeitung, muss wieder herunter. Wie Tom Petty in „Learning To Fly“ singt: „Coming down is the hardest thing“. Wer’s nicht glaubt, der soll Keith Richards zuhören.

 

Coming down again, coming down again
Coming down again, coming down again

Share your thoughts, there’s nothing you can hide
She was dying to survive
I was caught, oh, taken for a ride
She was showing no surprise

Coming down again, coming down again
Where are all my friends? Coming down again

Coming down again, coming down again
On the ground again, coming down again

Slipped my tongue in someone else’s pie
Tasting better every time
He turned green and tried to make me cry
Being hungry, it ain’t no crime

Coming down again, all my time’s been spent
Coming down again

Coming down again (sky fall down again)
Coming down again (sky fall down again, sky fall down again)
Coming down again (sky fall down again)
Coming down again
Where are all my friends?

Coming down again, coming down again
Where are all my friends?
(Sky fall down again)
Coming down again (sky fall down again)
Coming down again (sky fall down again)
Coming down again
Coming down again
Where are all my friends
Coming down again
On the ground again

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Wie spät ist die Moderne? Und wenn ja, wie viele? https://starke-meinungen.de/blog/2023/12/03/wie-spaet-ist-die-moderne-und-wenn-ja-wie-viele/ https://starke-meinungen.de/blog/2023/12/03/wie-spaet-ist-die-moderne-und-wenn-ja-wie-viele/#comments Sun, 03 Dec 2023 15:31:48 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=9992 In der letzten Zeit befasse ich mich ein wenig mit dem Libertarismus. Eigentlich halte ich die Bewegung für intellektuell wenig anspruchsvoll, eine Mischung aus Friedrich Nietzsche und Fritz Teufel; aber ich kann mich ja irren, also versuche ich mich schlauer zu machen. Zuletzt griff ich das hoch gelobte Buch „Gekränkte Freiheit“ von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, die beide an... Weiterlesen »

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In der letzten Zeit befasse ich mich ein wenig mit dem Libertarismus. Eigentlich halte ich die Bewegung für intellektuell wenig anspruchsvoll, eine Mischung aus Friedrich Nietzsche und Fritz Teufel; aber ich kann mich ja irren, also versuche ich mich schlauer zu machen.

Zuletzt griff ich das hoch gelobte Buch „Gekränkte Freiheit“ von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey, die beide an der Universität Basel lehren, die eine Literatursoziologie, der andere Soziologie ohne Zusatz. Nun bin ich, obwohl mein Cousin Yochanan Peres Soziologe war und wir viele interessante Gespräche hatten, skeptisch gegenüber einer Disziplin, die es – anders als etwa die Naturwissenschaften – nicht schafft, auch nur einen Minimalkonsens über die in ihrem Untersuchungsgebiet herrschenden Gesetze herzustellen. Aber die Autoren geben an, ihr Buch beruhe auf Interviews etwa mit Angehörigen der Querdenkerszene, schien also relativ faktengesättigt. Also fing ich an zu lesen.

Und merkte bald, dass „Gekränkte Freiheit“ mitnichten auf Interviews beruht, sondern auf der so genannten „Kritischen Theorie“, einer Mischung aus Marx und Freud, die sich aber, anders als die Theorien jener intellektuellen Giganten, nicht auf eine tatsächliche Änderung der Zustände – die Heilung des Patienten bei Freud, bei Marx das Umwerfen „aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“ – richtet, sondern auf die permanente Kritik. Was für einen Akademiker sehr angenehm ist. Solange nur kritisiert wird, wirft kein Prolet seinen Lehrstuhl um.

Wer mit der „Kritischen Theorie“ eine beliebige Erscheinung der Gegenwart analysiert, wird immer finden, dass die kapitalistische Entfremdung daran schuld ist. So wie bei Katholiken die Erbsünde und der Teufel, bei Libertären der Staat. Ist der Sinn der Erkenntnis für den modernen Menschen die Überwindung, so ist er für Gläubige die Bestätigung des Dogmas.

Das zeigt sich bei Amlinger und Nachtwey auch daran, dass sie ständig von der „Spätmoderne“ reden. Nun kann man im Nachhinein bei Gesellschaftsformationen frühe, mittlere und späte Phasen unterscheiden, etwa beim Mittelalter. Man ist nachher immer schlauer; die Menschen des Spätmittelalters aber betrachteten sich nicht als „spät“, nicht als die Letzten ihrer Art, nicht als Vorläufer der Renaissance. Wer die Gegenwart als „Spätmoderne“ bezeichnet, gibt vor, ein Wissen zu haben, das er gar nicht haben kann, nämlich, dass auf die Moderne bald etwas Anderes, Nichtmodernes folgt.

Wenn die Leninisten vom „Spätkapitalismus“ sprachen, so auch deshalb, weil sie selbst dafür sorgen wollten, dass auf ihn der Sozialismus folgte. Das hatte eine gewisse Logik, auch wenn in der Praxis der Leninismus nur in halbfeudalen Gesellschaften siegte und sich der angeblich todgeweihte Kapitalismus als erheblich langlebiger erwies als die Diktatur des Proletariats. Die Rede von der „Spätmoderne“ aber ist so unsinnig wie die libertäre Entgegensetzung von Staat und Markt. Wir haben die Postmoderne schon lange hinter uns, und der Staat muss immer noch und immer wieder den Markt vor sich selbst retten.

Nächstes Buch?

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Ein Ruck allein wird nicht genügen – Deutschland im November 2023 https://starke-meinungen.de/blog/2023/11/30/ein-ruck-allein-wird-nicht-genuegen-deutschland-im-november-2023/ https://starke-meinungen.de/blog/2023/11/30/ein-ruck-allein-wird-nicht-genuegen-deutschland-im-november-2023/#respond Thu, 30 Nov 2023 10:05:18 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=9981 Credit: IMAGO / Stefan Zeitz. Schwer nachvollziehbar: „Queers for Palestine“ am 4. November 2023 in Berlin Ein Beitrag von Harald Stollmeier Viel zu wenige Menschen in Deutschland sind bereit, die Freiheit entschieden zu verteidigen. Nach defätistischen Äußerungen zur russischen Invasion in der Ukraine fehlt es jetzt sogar an einer Solidarität mit Israel, die diesen Namen verdient. Harald Stollmeier analysiert die... Weiterlesen »

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Credit: IMAGO / Stefan Zeitz.

Schwer nachvollziehbar: „Queers for Palestine“ am 4. November 2023 in Berlin

Ein Beitrag von Harald Stollmeier

Viel zu wenige Menschen in Deutschland sind bereit, die Freiheit entschieden zu verteidigen. Nach defätistischen Äußerungen zur russischen Invasion in der Ukraine fehlt es jetzt sogar an einer Solidarität mit Israel, die diesen Namen verdient. Harald Stollmeier analysiert die dunkle Lage im November 2023.

Es ist November. Ein dunkler Monat, der leider sehr gut zu der derzeitigen Lage in Deutschland passt. Es ist nicht mehr selbstverständlich, dass unser Land den freien Westen entschlossen verteidigt.

Enttäuschende Parteireaktionen auf den russischen Einfall in der Ukraine

Bereits in ihren Reaktionen auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine haben längst nicht alle im Bundestag vertretenen Parteien überzeugt. Dass die AfD enttäuschen würde, hatte man erwarten müssen. Auch die gleichwohl immer noch als koalitionsfähig geltende Linkspartei hatte ihre guten Kontakte nach Moskau schon vorher nie verworfen. Aber das armselige Bild, dass die SPD abgab, erschütterte zutiefst. Bis hin zu in prominenten Vertretern der Bundestagsfraktion (Rolf Mützenich, Ralf Stegner) war ein naives Appeasement verbreitet. Und selbst vielen an sich mutigen Erklärungen sind dann – vor allem in puncto Waffenlieferungen – doch keine gleichwertigen, also vor allem: schnelle Taten gefolgt. In Mecklenburg-Vorpommern ist Gazprom-Freundin Manuela Schwesig trotz aller Skandale rund um „Nord Stream 2“ weiterhin als Ministerpräsidentin im Amt. Hoffnungsträger der SPD ist insoweit derzeit allein Verteidigungsminister Boris Pistorius, der jüngst klarmachte, dass Deutschland „kriegstüchtig“ werden müsse. Den erwartbaren Unmut des SPD-Fraktionsvorsitzenden Mützenich übergeht Pistorius souverän. Stattdessen, so der „SPIEGEL“ richtig beobachtend, „wiederholt [er] das Reizwort immer und immer wieder“. Dabei geht es ihm keineswegs nur um Deutschland, sondern den freien Westen an sich. Es sei, so betonte Pistorius ebenfalls erst kürzlich, mit Blick auf die Ukraine und Israel an der Zeit, „allen revisionistischen Mächten“ zu zeigen, „dass wir zusammenstehen, wenn unsere Werte und legitimen Interessen angegriffen werden“.

Immerhin, die Grünen – die schon seit der Krim-Annexion 2014 vor Putin warnen – sprangen über ihren pazifistischen Schatten. Es war Bundesaußenministerin Baerbock, die zuerst und am klarsten Stellung bezog, und zwar so klar, dass man ihr, die nun fraglos großem Hass ausgesetzt ist, den Personenschutz von Herzen gönnte. Doch leider konnte auch sie Bundeskanzler Scholz nicht aus seinem Zaudern und Zögern herausholen und nahm vielleicht zu viel Rücksicht auf den Koalitionspartner SPD.

Das übergroße Verständnis für den Terror der Hamas gegen Israel

Dann kam der 7. Oktober 2023, der größte und grausamste Massenmord an Juden seit der Shoah, und an vielen Orten in Deutschland strömten die Menschen auf die Straße (und in die sozialen Medien), um den Hamas-Antisemiten zuzujubeln. Überwiegend waren das Muslime arabischer oder auch türkischer Herkunft. Aber Wohlwollen und Verständnis für die Hamas, wenn nicht geradeheraus Beifall, äußerten auch Mitmenschen ohne diesen biographischen Hintergrund. Eine Reihe gehörten zur AfD, erschütternd viele aber waren „gute“ Sozialdemokraten, Grüne und Linke, Leute, die sich unter dem Hashtag „#wirsindmehr“ jederzeit als wackere Kämpfer „gegen rechts“ zusammenfinden würden.

Greta Thunberg und weite Teile von „Fridays for Future“ (die deutsche Sektion distanzierte sich immerhin, bleibt aber an Bord), „Last Generation“ und wie sie alle heißen, schlugen sich gleich ganz auf die Seite der Hamas. Ganz extreme Fälle wie die „Queers for Palestine“ verdienen zwar nicht ernst genommen, wohl aber benannt zu werden, weil man an diesen erkennt, wie weit manche es mit der Wirklichkeitsverleugnung gebracht haben. Denn anders als in Israel können Queere in Gaza nicht gefahrlos händchenhaltend durch die Straßen laufen.

Die CDU/CSU und die FDP haben sich weniger blamiert

Man muss es bei aller ansonsten berechtigten Kritik an ihnen zugeben: FDP und CDU/CSU haben sich sowohl in der Ukraine- als auch in der Israel-Frage unter den relevanten Parteien am wenigsten blamiert. Bei SPD und Grünen mischten sich Entsetzen und Verwirrung (weil nicht sein kann, was nicht sein darf), aber die größte Anerkennung verdiente sich, wie schon beim russischen Angriffskrieg, ein Vertreter der Grünen, nämlich Vizekanzler Robert Habeck. Seine sowohl klare als auch maßvolle Stellungnahme, die er in diversen sozialen Medien veröffentlichte, könnte in die Geschichte eingehen. Hoffentlich wird sie schnell genug durch hinreichende Taten ergänzt, damit sie wirklich als Startschuss zur Wachsamkeit in die Geschichte eingeht, statt ein bloßes Lippenbekenntnis zu bleiben.

Das Richtige nicht nur wollen, sondern auch tun

Deutschland hat schon bei der Unterstützung für die Ukraine das Richtige mehr gewollt und gesagt als wirklich getan. Wenn Deutschland jetzt Israel nicht wesentlich besser unterstützt, könnten seine Bürger sehr bald noch stärker als ohnehin schon selbst erfahren, wie der Judenhass hierzulande um sich greift.

Und, so schmerzlich es auch ist, es ist an der Zeit, die zwar gutgemeinte, aber doch größte Lebenslüge der Merkel-Ära zu entlarven: das alternativlose „Wir schaffen das!“ Gewiss war es human, Menschen in Not zu helfen. Aber die mit Flucht und Migration aus arabischen Staaten fast zwangsläufig verbundenen Probleme wie der verbreitete Antisemitismus wurden ignoriert. Es herrschte ein Wegsehen und kein Hinsehen. Etwa an Schulen. Dort hätte man viel früher versuchen müssen, muslimischem Antisemitismus entgegenzuwirken. Hinzukommt die staatliche Kumpanei mancher Bundesländer, darunter leider auch das CDU-geführte Nordrhein-Westfalen, mit fragwürdigen Organisationen wie der DITIB in Sachen Religionsunterricht, die Verharmlosung des muslimischen Antisemitismus sogar in der offiziellen Statistik, das häufige antiisraelische Framing in der ARD und die in manchen Kreisen auffällige Tendenz, Kritik an der Haltung vieler Muslime zu Israel bzw. aktuell dem Schweigen von muslimischen Verbänden zum Hamas-Terror als „antimuslimischen Rassismus“ zu brandmarken, fallen jetzt nicht nur den Verantwortlichen vor die Füße, sondern in Wirklichkeit Deutschland an sich.

Wie soll dieses Land in zehn Jahren aussehen? Noch ist das Gute zu schaffen: Ein friedliches Land mit integrierten Migranten, in dem das Grundgesetz gemeinsame Grundlage für alle und der Erhalt des freien Westens handlungsleitend ist. Das heißt insbesondere: Die eher linken Parteien mittig der Linkspartei müssen es wollen, allen voran die Grünen und die SPD.

In der SPD gibt es nach wie vor pragmatische Oberbürgermeister und Landräte (manche treten allerdings verzweifelt aus), die das Kind beim Namen nennen, und bei den Grünen hat Robert Habeck das Banner des Grundgesetzes überzeugend aufgerichtet.

Klare Werte, klare Prioritäten, ein Miteinanderreden auf dem Boden des Grundgesetzes und Interesse an Problemlösungen statt einer Polarisierung für Mausklicks. Pack es an, Deutschland.

Harald Stollmeier hat Geschichte, Englisch und Volkskunde studiert. Er hat das Pressesprecherhandwerk bei Krupp erlernt und übt es heute bei einer Krankenkasse aus. Außerdem ist er (katholischer) Blogger und Märchenautor.

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Aus meinem Songbuch (5): I Don’t Know https://starke-meinungen.de/blog/2023/11/28/aus-meinem-songbuch-5-i-dont-know/ https://starke-meinungen.de/blog/2023/11/28/aus-meinem-songbuch-5-i-dont-know/#respond Tue, 28 Nov 2023 19:42:55 +0000 https://starke-meinungen.de/blog/?p=9988 Auf der Suche nach einem anderen Song von mir entdeckte ich auf Klaus Kluges YouTube-Kanal diesen Blues, den ich völlig vergessen hatte. Also schiebe ich ihn hier ein, bevor ich wieder vergesse, dass ich ihn geschrieben habe. https://www.youtube.com/watch?v=ScEnjLUhtKE Aufgenommen haben wir den Song mit der Band „Blues & Loose“, das muss also um 1999 herum gewesen sein. Der Sänger von... Weiterlesen »

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Auf der Suche nach einem anderen Song von mir entdeckte ich auf Klaus Kluges YouTube-Kanal diesen Blues, den ich völlig vergessen hatte. Also schiebe ich ihn hier ein, bevor ich wieder vergesse, dass ich ihn geschrieben habe.

https://www.youtube.com/watch?v=ScEnjLUhtKE

Aufgenommen haben wir den Song mit der Band „Blues & Loose“, das muss also um 1999 herum gewesen sein. Der Sänger von „Blues & Loose“, Michael Sellin, hatte aus irgendwelchen Gründen die Band zeitweilig verlassen, und Klaus hatte mich wider alle meine Instinkte überredet, als Ersatz einzuspringen.

Das war ein Fehler, denn erstens hatte Sellin eine Stimme, die ich weder imitieren noch toppen konnte, und das Repertoire der Gruppe war nun einmal auf diese Stimme ausgerichtet. Ich war mir also stets der Tatsache bewusst, in etwas zu großen, jedenfalls nicht passenden Schuhen herumzulaufen. Zweitens aber hatte ich in der Zeit schriftstellerisch und als Übersetzer erfreulich viel zu tun, so dass ich auch gar nicht die Zeit hatte, mich voll in die Arbeit mit der Band zu werfen und fremdelte auch persönlich mit den Leuten. Als ich dann bei der WELT anfing, im Frühjahr 2000, habe ich die Band verlassen – und erst 15 Jahre später wieder begonnen, Musik zu machen.

„I Don’t Know“ habe ich bestimmt nicht für „Blues & Loose“ geschrieben. Wahrscheinlich wieder 15 Jahre davor für die „Berlin Blues Band“. Denn die beschriebene Situation ist etwas zu nahe dran an bestimmten frustrierenden Erlebnissen der 1980er Jahre, eine etwas zu realistische Beschreibung eines wiederkehrenden Ehestreits, um in die alles in allem für mich sehr viel weniger frustrierenden späten 1990er zu passen; und ein so guter Songwriter, dass ich mir das alles sozusagen durch Einfühlung in die Vergangenheit ausdenken könnte, bin und war ich nicht.

Meistens brauchen solche Songs wenigstens als Ausgangspunkt eine reale Situation: „I once had a girl, or should I say she once had me …“ John Lennons Beichte einer außerehelichen Affäre mit einer Journalistin, die er aber aus Feigheit oder Rücksicht umbiegt in eine surrealistische Brandstiftergeschichte: „So I lit a fire, isn’t it good Norwegian wood?“Bei „I Don’t Know“ war der Ausgangpunkt bestimmt erstmal Klaus Kluge; ich wette, er wollte „I Don’t Know“ im Refrain haben. Obwohl es ja einen von der Blues Band und den Blues Brothers popularisierten Song von Willie Mabon mit dem Titel schon gab. Da dreht es sich auch um einen Ehestreit, und der Refrain geht so: (Mit gespielter Unschuld gesungen:) „What did I say to make you mad this time, bay-bee? She said Mmmmmm … I don’t know …“ Vielleicht hat Mabons Blues mich auf die Idee gebracht, einen Ehestreit-Blues zu machen. Ich weiß es nicht mehr. I don’t know.

Mabons Song ist humorvoll. Ein bisschen männlich-chauvinistisch, aber er ist auch aus dem Jahr 1952. Meiner ist überhaupt nicht humorvoll. Ziemlich bitter:

It’s late in the evening, I gotta go

Don’t ask me where, cause baby I don’t know.

I feel so lonesome, feel so cold

When I’m with you you make me feel so old.

Conversation going round and round

Communication breaking down

Get off of your cloud, don’t wear that thorny crown

You say that you love me, but I don’t know

You say that you need me, I don’t know.

Now you’re criticizing everything I do

When I don’t do anything you criticize me too

Every woman I talk to, you see us in bed

All thos crazy pictures, Mama, they’re in your head

Conversation …

 

Es gibt solche Abrechnungssongs, „How Do You Sleep?“ von Lennon, oder „Gratitude“ eine tolle späte Nummer von Paul McCartney; „Don’t Think Twice“ und viele andere von Bob Dylan, und das ganz wunderbare „Diamonds And Rust“ von Joan Baez, in dem sie über das Ende ihrer Liebesbeziehung mit Dylan sinniert. Und, und, und; aber wenige sind so unnachgiebig traurig wie dieser hier. Wahrscheinlich müsste man den als Shuffle spielen, damit wenigstens die Musik einen nicht so herunterzieht.

Der Text hat, zugegeben, hier und da etwas Witz: „Du kritisierst alles, was ich tue; tue ich aber gar nichts, passt dir das auch nicht.“ Das wäre gelegentlich wiederverwertbar. Ansonsten ist „Get off of your cloud“ natürlich ein Zitat, geklaut von Mick Jagger, aus Faulheit , nehme ich an, und die Dornenkrone auch: „She took my crown of thorns“, singt Dylan: „Come on, she said, I’ll give you shelter from the storm“. Die Dornenkrone als Bild der Selbststilisierung als Märtyrer hat mir immer gut gefallen. Außerdem reimt sich „crown“ auf „down“ und „town“ und „round and round“ und „sound“ …

Die Dornenkrone taucht auch in dem Song „Hurt“ auf, den Trent Reznor 1994 für Nine Inch Nails geschrieben hat, aber ich habe ihn erst viel später kennen gelernt, nämlich seit Peter Gentsch ihn – in der Version von Johnny Cash – bei uns singt. „I wear my crown of thorns on my liar‘s chair / full of broken thoughts I cannot repair …“ Da geht es um einen Junkie, der sich und andere belügt, er sei eigentlich ein Opfer, während er in Wirklichkeit bloß zu selbstsüchtig ist, mit der Sucht zu brechen. Auch ein sehr, sehr düsteres Lied, aber poetischer als dieser hier.

Na gut. Der Vollständigkeit halber. Bitte sehr.

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