Fragte man die Deutschen nach ihrer Wunschkoalition im Deutschen Bundestag, wäre die Antwort eindeutig: Große Koalition for ever! Die Bürger lieben ein sozialdemokratisches Programm, aber durchgeführt von einem christdemokratischen Kanzler. Für sozialdemokratische Angebote ist immer Bedarf: Dem einen ist die Miete zu hoch. Er verlangt deshalb nach einer effektiven Mietpreisbremse. Der andere hätte gerne einen höheren Bafög-Betrag für die studierende Enkeltochter. Auch billige Seniorentickets im Öffentlichen Nahverkehr sind willkommen. Trotzdem möchten die Wähler das wichtigste Amt, die Kanzlerschaft, nicht gerne einem Sozialdemokraten anvertrauen. Diese Vorsicht hat einen plausiblen Grund. Sozialdemokraten neigen dazu, die Leistungsfähigkeit der Wirtschaft zu testen. Die Bürger sind zu gut informiert, um die Quelle allen Reichtums, auch der steuerlichen Umverteilung, die Wirtschaft, irgendwelchen sozialpolitischen Experimenten auszusetzen. „Keine Experimente!“ – diese Uralt-Losung der CDU bleibt für den Kernbereich unseres Wohlfahrtsstaates immer gültig. Weiterlesen
Türkei
Glaubensstark gegen die Moderne
Blättert man in Zeitschriften aus den 1950er und 1960er Jahren und betrachtet die Schwarz-Weiß-Fotos, reibt man sich verdutzt die Augen. Scharen junger Frauen flanieren untergehakt durch die Straßen, die Röcke sind kurz, die Haare flattern im Wind. Im Mundwinkel glimmt kokett die Zigarette. Die Szenen spielten in Kairo, Damaskus und Teheran. Von Straßenszenen in Berlin, Paris und London waren solche Demonstrationen selbstbewusster Weiblichkeit nicht zu unterscheiden. Heute fahren in Teheran Sittenwächter der Religionspolizei durch die Straßen und verhaften Frauen und Mädchen, die das Kopftuch zu sehr gelockert oder die Schminke „unislamisch“ aufgetragen haben. Ich kenne kein islamisches Land, in dem die Frauen heute gleichberechtigt wären. Sie sind es weder in der rechtlichen Stellung gegenüber dem Mann noch im wirklichen Leben in Familie und Gesellschaft. Die Fotos beweisen, dass es einmal Zeiten gegeben haben muss, in denen sich Frauen auch in muslimischen Gesellschaften frei entfalten konnten. Warum sind diese Zeiten sang- und klanglos untergegangen? Ein Blick in die Geschichte gibt Auskunft. Weiterlesen
Pädagogik statt Diplomatie
Diplomatie ist eine altbewährte Staatskunst. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, den Interessenausgleich zwischen Staaten so zu regeln, dass es zu einem einvernehmlichen und dauerhaften Modus Vivendi kommt. Entstanden ist die moderne Diplomatie während der Renaissance in Norditalien, wo die damaligen Stadtstaaten mit Hilfe von Gesandten ihre Interessen absteckten. Heute gehört es zum Einmaleins der Diplomatie, dass man im staatlichen Miteinander durch Kompromisse einen verlässlichen Ausgleich der Interessen sucht. Das gelingt am besten, wenn man es vermeidet, den Verhandlungspartner bloßzustellen oder in die Enge zu treiben. Jeder Vertragspartner muss sich in der erreichten Übereinkunft wiederfinden können. Schon die römische Antike hat mit dem Leitsatz „Do ut des“ dieses Prinzip der Gegenseitigkeit formuliert. Weiterlesen
Zeit für Selbstkritik
Das Referendum in der Türkei zur Einführung eines Präsidialsystems hat Erdogan vor allem auch deshalb gewonnen, weil in der europäischen Diaspora größere Mehrheiten mit Ja gestimmt haben als im Mutterland selbst. In Deutschland waren es 63,1%. Viele Kommentatoren äußerten ihr Unverständnis darüber, dass die Türken in Deutschland Demokratie und Wohlfahrtsstaat genössen, dann aber von der Couch aus ihren Brüdern und Schwestern in der Türkei eine Diktatur verordneten. Dieses Verhalten ist tatsächlich nur schwer zu verstehen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass hier Protest am Werke war, dass etliche Türken es den Deutschen heimzahlen wollten, dass sie hier nicht als vollwertige Bürger angesehen werden. Deprimierend ist der Befund allemal. Weiterlesen
Krise als Chance
„Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Friedrich Hölderlin)
Das Wort Krise bedeutet im ursprünglichen griechischen Wortsinn neben der heute gebräuchlichen Übersetzung „krisenhafte Zuspitzung“ auch „Wendepunkt“ und „Entscheidung“. Das sollte man im Auge behalten, wenn man über die gegenwärtige Krise in der Weltpolitik diskutiert. Weiterlesen
Mit Erdogan den Strauß wagen
Die jüngste Entwicklung in der Türkei wird auch dem größten Türkei-Freund die Augen darüber geöffnet haben, dass dieses Land in der EU nichts verloren hat. Erdogan arbeitet zielstrebig darauf hin, ein autoritäres Präsidialsystem nach dem Vorbild Wladimir Putins zu errichten. Alle Maßnahmen, die er in den Monaten seit dem Militärputsch im Sommer unternommen hat, dienen diesem Ziel: „Säuberung“ aller gesellschaftlichen Bereiche (Justiz, Armee, Schule, Hochschule, Verwaltung, Wirtschaft) von „Feinden“, denen die Regierung entweder Sympathie für die Gülen-Bewegung oder für die PKK unterstellt. Alle unabhängigen Zeitungen und Fernsehkanäle wurden entweder geschlossen oder durch dubiose Eigentumsübertragungen gefügig gemacht. Um seine Gegner auch physisch ausschalten zu können, plant Erdogan die Wiedereinführung der Todesstrafe. Die Partei der kurdischen Minderheit HDP wird von der Regierung als politischer Arm der PKK stigmatisiert. Ihre ganze Führungsspitze wurde inhaftiert, ihr droht ein Prozess wegen Terrorunterstützung. Zuvor war allen Abgeordneten der HDP von einem inzwischen Erdogan-hörigen Parlament die Immunität aberkannt worden. Weiterlesen
Fünfte Kolonne
Wer wissen will, wie eine Fünfte Kolonne funktioniert, muss sich nur noch einmal die Episode um das deutschrussische Mädchen vergegenwärtigen, das angeblich von muslimischen Flüchtlingen vergewaltigt wurde, was in der russischsprachigen Gemeinschaft unseres Landes eine Welle der Empörung ausgelöst hat. Später stellte sich heraus, dass es eine vermutlich durch den russischen Geheimdienst bewusst lancierte Falschmeldung war, um die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel in Misskredit zu bringen. Die Deutschen sollten verunsichert werden: Seht, was die Flüchtlinge anrichten! Frau Merkel kann eure Mädchen nicht vor sexuellen Übergriffen schützen. Dass der russische Geheimdienst seine Hand im Spiel hatte, konnte man daran sehen, dass binnen kürzester Zeit an allen Orten, wo überdurchschnittlich viele russische Aussiedler wohnen, Demonstrationen gegen die „Schandtat gegen unser russisches Mädchen“ stattfanden und die Demonstranten in allen Städten die gleichen gelben Pappschilder mit den gleichen Parolen mit sich führten. Dass der sexuelle Übergriff, gegen den man protestierte, eine Ente war, vermutlich eine gezielte Falschmeldung der russischen Propagandamaschine, war später nicht mehr wichtig. Die Meldung war in der Welt und hatte die gewollte Wirkung entfaltet: Sie hatte die Fünfte Kolonne, die russischen Aussiedler, im Sinne Wladimir Putins gegen die deutsche Regierung mobilisiert. Politisch hatte die Einmischung Russlands in die deutsche Innenpolitik keinerlei Folgen, wenn man von dem diplomatischen Geplänkel zwischen Frank-Walter Steinmeier und dem russischen Außenminister Sergej Lawrow absieht. Unsere Toleranz ist so groß, dass wir einer ausländischen Macht gestatten, auf deutschem Boden Demonstrationen gegen die eigene Regierung zu organisieren. Weiterlesen
An Angela Merkels Flüchtlingspolitik ist ziemlich alles falsch
Dass es nun auch in Deutschland zu Attentaten durch Flüchtlinge kommt, zeigt deutlich, dass die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung unter Angela Merkels Führung fehlerhaft ist – und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Es wird Zeit, dass die Differenzierung endlich wieder Einzug in die Politik hält und Lösungen entwickelt werden, die in der Zeit der bipolar aufgeheizten Stimmung zwischen plattem „Refugees Welcome“ und noch platteren rechtsradikalen Pauschalisierungen und Untergangsszenarien keine Chance hatten. Weiterlesen
Erdogans Diktaturmethoden haben den Abbruch der EU Beitrittsverhandlungen verdient
Einiges wäre vorherzusehen gewesen von den jetzigen sich überschlagenden Schritten der Einführung einer Diktatur in der Türkei durch Erdogans Allmachtswahn und seinen paranoiden Hass auf die Gülenbewegung und jede demokratische Opposition, der bis in die türkische community, in die Ditib und Moscheen in Deutschland reicht und in den sogenannten sozialen, eher a- sozialen Hass Netzwerken aktuell wüten und schon Scheiben einschlagen bei demokratischen Türken in Deutschland! Da wäre doch Solidarität mit allen demokratischen Deutschtürken hier und mit den verhafteten und in ihrer Existenz bedrohten Akademikern , Journalisten, demokratischen Aktivisten in der Türkei angesagt
Klein-England siegt
Was tun? Die Aussichten in Großbritannien sind düster. Schottland und Nordirland könnten das Vereinigte Königreich verlassen. In England zeichnet sich ein Klassenkampf ab zwischen Jung und Alt, Groß- und Kleinstadt, Gewinnern und Verlieren der Globalisierung. Die Sieger der Volksabstimmung werden sich schnell verfeinden: die einen wollen ein modernes, dereguliertes Großbritannien, die anderen wollen zurück in die 1970er Jahre. Der Kampf wird nicht intellektuell ausgetragen werden.
Rote Karte für die Türkei
Am 2. Juni 2016 hat der Deutsche Bundestag mit überwältigender Mehrheit eine interfraktionelle Resolution verabschiedet, in der das Massaker des Osmanischen Reiches 1915/1916 gegen die christliche Minderheit der Armenier als Völkermord bezeichnet wird. In der Resolution bekennt sich der Bundestag zugleich zur Mitschuld des Deutschen Reiches, das in Waffenbrüderschaft mit dem Osmanischen Reich verbunden war und den Massenmord sehenden Auges geschehen ließ. Rechnet man die Toten hinzu, die die Verfolgung der Armenier durch die Jungtürken schon vor den „Todesmärschen“ gekostet hat, kommt man auf eine Gesamtzahl der Opfer von bis zu 1,5 Millionen Menschen. Hier nicht von Völkermord zu sprechen, ginge an den Tatsachen vorbei. Die Türkei hat bisher stets nur bedauert, dass es Opfer unter den Armeniern gegeben habe, das Ausmaß der Massaker, ihren systematischen und grausamen Charakter jedoch und vor allem die Bewertung der Gräuel als Völkermord stets bestritten, und sie tut es bis heute. Was in Deutschland heute weitgehend unumstritten ist (rechnet man die notorischen Leugner auf der extremen Rechten ab), nämlich die Verbrechen Deutschlands – Angriffskrieg und Holocaust – schonungslos und wahrheitsgemäß aufzuarbeiten und der Opfer würdig zu gedenken, ist in der Türkei noch nie möglich gewesen. Und heute ist es weniger möglicher denn je. Nationalistisches Denken hat die türkische Gesellschaft und das Parteiensystem so sehr infiziert, dass man es von links bis rechts als Beleidigung der türkischen Nation empfindet, wenn man auf die historische Wahrheit pocht. Das kluge Wort des früheren tschechischen Präsidenten Vlaclav Havel, dass ein Volk in der Wahrheit leben müsse, um seine Würde zu bewahren, hat in der Türkei bisher nicht die geringste Resonanz gefunden. Deshalb ist es nicht verkehrt, wenn demokratische Staaten bei der Aufarbeitung der Schattenseiten in der türkischen Vergangenheit etwas nachhelfen – auch mit solchen Resolutionen. In der Schweiz gilt es sogar als Straftatbestand, wenn man den Völkermord an den Armeniern leugnet. Weiterlesen