An einem 31. Oktober fragte ich die Schüler meines Geschichtskurses in der Gymnasialen Oberstufe, ob sie wüssten, welchen Tag wir heute feierten. „Halloween“ schallte es mir vielstimmig entgegen. An meiner Miene, die sich verfinsterte, sahen die Schüler, dass ihre Antwort nicht optimal ausgefallen war. Nach einigem Hin und Her fand schließlich eine Schülerin, die in einer evangelischen Gemeinde aktiv war, die richtige Antwort: Es war der Reformationstag. Was Luther damals wollte und worin seine bleibende geschichtliche Leistung besteht, wussten die Schüler spontan nicht zu sagen. Im Geschichtsunterricht war das sicher irgendwann einmal „dran gewesen“. Nur hängen geblieben ist nichts. So sieht es auch mit anderen wichtigen historischen Ereignissen aus. Kaum ein Schüler weiß etwas über die wichtigsten römischen Kaiser der Deutschen im Mittelalter zu sagen, die Fragen nach den demokratischen Bestrebungen im 19. Jahrhundert bleiben ohne Antwort. Selbst Ereignisse, die ihre Eltern oder Großeltern noch selbst erlebt haben, wie der Volksaufstand am 17. Juni 1953 in der DDR oder der Mauerfall 1989, sind im Gedächtnis der Schüler nicht präsent. Weiterlesen
Rainer Werner
Martin Schulz als Pädagoge
„Mehr Geld für Bildung!“ – keine Forderung kommt häufiger aus sozialdemokratischem Munde als diese. Sie klingt griffig und plausibel. Wer könnte etwas dagegen haben? Auch Martin Schulz hat die Formulierung für sich entdeckt. Dabei wirft er mit Milliarden nur so um sich. Bei einer Diskussion vor Lehrern und Schülern am 18. 05. 2017 in Berlin-Neukölln nannte er zuerst eine Zahl zwischen 10 und 12 Milliarden, die er als Kanzler jährlich mehr in die Bildung stecken wolle. Nach kritischen Nachfragen erhöhte er den Einsatz auf 30 Milliarden. Weiterlesen
Pädagogik statt Diplomatie
Diplomatie ist eine altbewährte Staatskunst. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, den Interessenausgleich zwischen Staaten so zu regeln, dass es zu einem einvernehmlichen und dauerhaften Modus Vivendi kommt. Entstanden ist die moderne Diplomatie während der Renaissance in Norditalien, wo die damaligen Stadtstaaten mit Hilfe von Gesandten ihre Interessen absteckten. Heute gehört es zum Einmaleins der Diplomatie, dass man im staatlichen Miteinander durch Kompromisse einen verlässlichen Ausgleich der Interessen sucht. Das gelingt am besten, wenn man es vermeidet, den Verhandlungspartner bloßzustellen oder in die Enge zu treiben. Jeder Vertragspartner muss sich in der erreichten Übereinkunft wiederfinden können. Schon die römische Antike hat mit dem Leitsatz „Do ut des“ dieses Prinzip der Gegenseitigkeit formuliert. Weiterlesen
Die Ranschmeißer
Erfolgreiche und charismatische Menschen müssen es erdulden, dass sie von Personen, denen bisher wenig Erfolg beschieden war, umschmeichelt werden. So geschieht es gerade mit Emmanuel Macron, dem frisch gewählten französischen Präsidenten. Wer sich dabei besonders hervortut, ist unser Außenminister Sigmar Gabriel, der nicht müde wird, Macron als „seinen Freund“ zu bezeichnen. Dieses Verhalten könnte man als Marotte eines Sprunghaften und Rastlosen ertragen, wenn da nicht die Erinnerung an eine andere Freundschaftsinszenierung wäre. Als François Hollande 2012 zum Präsidenten gewählt worden war, flog die sozialdemokratische Trias Gabriel, Steinmeier und Steinbrück flugs nach Paris, um sich im Glanze des Wahlsiegers zu sonnen. Er gehörte ja schließlich zur sozialistischen Familie. Weiterlesen
Ein Abschied
Liebe Grüne,
leicht fiel es mir nicht, diesen Brief zu schreiben. Fast kam es mir so vor, als würde ich einer alten Freundin die Freundschaft aufkündigen. Seit ich wählen darf, habe ich die Grünen gewählt. Bei der nächsten Bundestagswahl werde ich es zum ersten Mal nicht mehr tun. Ihr wollt sicher wissen, weshalb. Weiterlesen
Zeit für Selbstkritik
Das Referendum in der Türkei zur Einführung eines Präsidialsystems hat Erdogan vor allem auch deshalb gewonnen, weil in der europäischen Diaspora größere Mehrheiten mit Ja gestimmt haben als im Mutterland selbst. In Deutschland waren es 63,1%. Viele Kommentatoren äußerten ihr Unverständnis darüber, dass die Türken in Deutschland Demokratie und Wohlfahrtsstaat genössen, dann aber von der Couch aus ihren Brüdern und Schwestern in der Türkei eine Diktatur verordneten. Dieses Verhalten ist tatsächlich nur schwer zu verstehen. Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass hier Protest am Werke war, dass etliche Türken es den Deutschen heimzahlen wollten, dass sie hier nicht als vollwertige Bürger angesehen werden. Deprimierend ist der Befund allemal. Weiterlesen
Erosion der Demokratie
Im Jahre 1748 erschien in Genf ein Buch, das sich in der Folgezeit zu einer der bedeutendsten Schriften der Staatsphilosophie entwickeln sollte: „Der Geist der Gesetze“ von Baron de Montesquieu. Der Autor unterscheidet darin drei Staatsformen – Republik, Monarchie und Despotie – und ordnet ihnen bestimmte Merkmale zu. Zur Republik, heute würden wir sagen: Demokratie, gehört für den französischen Philosophen die Trennung der wichtigsten Staatsgewalten Legislative, Exekutive und Judikative, weil ihre Zusammenballung in einer Hand Freiheit und Gerechtigkeit der Untertanen beschädigen würde. Heute rechnen wir noch eine freie Presse als vierte Gewalt dazu. Die erste Verfassung eines Staates, in die das Postulat von Montesquieu Eingang gefunden hat, ist die amerikanische von 1787. Die darin verankerten „Checks and Balances“ wurden sprichwörtlich für ein Staatsgebilde, das es vermeidet, die Gewalten in wenigen Händen zu konzentrieren. Bis heute kann man Diktatur von Demokratie zuverlässig entlang der Scheidelinie „Gewaltenteilung ja oder nein?“ unterscheiden. Dieser demokratische Lackmustest ist für die Lebenssituation der Menschen bedeutsamer als die Frage nach freien Wahlen. Weiterlesen
Fiktionale Geschichtsklitterung
Schriftsteller sind keine guten Gewährsleute für die Verkündigung historischer Wahrheiten. Aus der Stalin-Ära ist bekannt, dass intelligente Autoren, die bei der Entlarvung des Kapitalismus jeden Scharfsinn aufboten, ihren Verstand abschalteten, als sie Huldigungsgedichte an den sowjetischen Diktator verfassten. Die Poeme sind an Peinlichkeit und Zynismus nicht zu überbieten. Hier zwei Beispiele für deutschen Stalin-Kitsch:
„Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte
Der Apfelbäume an dem Bodensee,
Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte,
Und winkt zu sich heran ein scheues Reh.“ (Johannes R. Becher)
“ Das Leben hörte ihm zu.
Die er jetzt belehrte,
Hatten ihn viel gelehrt,
Immer horchte er hin in die Masse,
Mit ihren Schmerzen beschwert.
Die er dem Licht zukehrte.“ (Stephan Hermlin)
Wer meinte, solche Geschichtsklitterungen gehörten der Vergangenheit an, wurde jüngst eines Besseren belehrt. Im SPIEGEL 12/2017 erschien ein Text der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse. Weiterlesen
Für eine gerechtere Flüchtlingspolitik
Die Flüchtlingsfrage spielt im beginnenden Wahlkampf kaum eine Rolle. Der Herausforderer der Kanzlerin, Martin Schulz, hat sich auf das Thema „soziale Gerechtigkeit“ eingeschossen. Die CDU sucht, gelähmt vom fulminanten Start des neuen Hoffnungsträgers der SPD, noch für das passende Konzept für den Wahlkampf. Die Grünen bangen um die parlamentarische Existenz und ziehen sich auf ihre Kernkompetenz Ökologie zurück. Die AfD hat parallel zum Aufstieg von Schulz bei den Meinungsumfragen stetig verloren und verharrt nun bei einer Zustimmung von weniger als 10%. Das Chaos, das Mr. Trump in Washington angerichtet hat, dürfte auf etliche AfD-Sympathisanten doch eher abschreckend gewirkt haben. Weiterlesen
Wie das Totalitäre beginnt
Als ich im Sommersemester 1968 an der Universität Tübingen mit dem Studium der Germanistik begann, besuchte ich die Vorlesung des hochgerühmten Hölderlinspezialisten Friedrich Beißner. Da das Sommersemester von schweren Turbulenzen der Studentenbewegung geprägt war (Auslöser war das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968), konnte es nicht ausbleiben, dass Aktivisten vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in die Vorlesung stürmten, um über die Hintergründe des Attentats – die Hetze der Springer-Presse – zu diskutieren. Der Professor, damals schon hochbetagt, verlangte eine Abstimmung des vollbesetzten Auditoriums. Da die SDS-Studenten ahnten, dass sie keine Mehrheit bekommen würden (Tübingen war eben nicht Berlin), lehnten sie die Abstimmung ab, drängten den Professor vom Vorlesungspult und begannen ihre spontanen Reden. Als die Studenten „ab-stim-men! ab-stim-men!“ skandierten, führte ein „Genosse“ aus, eine Abstimmung sei „nur formaldemokratisch“, während sie eine „inhaltliche Demokratie“ verträten. Als Neuling im akademischen Betrieb und mit der linken Sprachregelung noch nicht vertraut war mir der Unterschied zwischen „Inhalt“ und „Form“ bei demokratischen Abstimmungen noch nicht geläufig. Weiterlesen
Absturz der Grünen
Über die Grünen gibt es das Bonmot, sie gewännen stets die Meinungsumfragen, nicht aber die Wahlen. So war es auch bei der Bundestagswahl 2013. In Umfragen wurden sie damals mit bis zu 15% gehandelt. Das reale Ergebnis betrug dann ernüchternde 8,4%. Gegenwärtig erleben die Grünen einen starken Rückgang in der Zustimmung bei der Wählerbefragung – ein beängstigendes Zeichen. Bei der Sonntagsfrage schwanken die Werte der Grünen gegenwärtig zwischen 6,5% und 9%. Es kann also durchaus sein, dass die Grünen am 24. September um den Einzug ins Parlament bangen müssen. Weiterlesen