Im Oktober 2015 fand in Berlin eine der größten Demonstrationen der letzten Jahrzehnte statt. 200.000 Menschen demonstrierten unter dem Motto „Für einen gerechten Welthandel“ gegen das Freihandelsabkommen der EU mit den USA, TTIP. Die Demonstranten waren dem Aufruf eines Bündnisses aus über 60 Organisationen gefolgt, deren wichtigste Greenpeace, Foodwatch, Compact, Oxfam und Attac sind. Auch die Gewerkschaft der Polizei (sic) und Brot für die Welt waren mit von der Partie. Schaute man sich die Berliner Demonstranten genauer an, fiel auf, dass neben vielen jungen Teilnehmern – vermutlich aus dem studentischen Milieu – viele Silberköpfe unterwegs waren, Menschen zwischen 60 und 75, die auch schon anderenorts durch Militanz und Renitenz aufgefallen waren (Beispiel: Stuttgart 21). Hätte man sie nach ihrer Protestbiografie gefragt, hätten sie sicher viel erzählen können: von den Schlachten um Brokdorf, Wackersdorf und Wyhl; von der Freien Republik Wendland, von der Rathausbesetzung in Bonn; von der Demo im Bonner Hofgarten gegen die NATO-Nachrüstung und vieles mehr. Vermutlich hat sie der antiamerikanische Unterton, der alle Proteste gegen TTIP begleitet, angezogen. Warum sollte man nicht noch im fortgeschrittenen Alter gegen den Staat auf die Straße gehen, den man schon als jugendlicher Rebell als „Feind der Menschheit“ bekämpft hat („Nieder mit dem US-Imperialismus!“; „USA: SA – SS“). In der Werbeindustrie gilt die Devise: „Sex sells“. In der deutschen Protestkultur gilt: „Gegen die USA geht immer.“ Weiterlesen
Allgemein
Quo vadis, SPD?
Auch für Parteien gibt es Konjunkturen, wie es Moden für Musik- und Kleidungsstile gibt. Die SPD hatte ihre starke Zeit mit Willy Brandt – also in den 1960er/1970er Jahren. Zum einen gab es damals einen Reformstau im Inneren („Mehr Demokratie wagen!“) und in der Außenpolitik („Neue Ostpolitik“). Für beides hatte die SDP das passende Konzept und die richtige Persönlichkeit („Willy wählen!“) parat. Außerdem hat ihr die Studentenbewegung von 1968 viele jungen Menschen zugeführt, die zwar stark theorielastig waren, die in der traditionsbewussten Arbeiterpartei aber wie ein Jungbrunnen wirkten. In den 1970er Jahren hatte die SPD über eine Million Mitglieder, heute weniger als die Hälfte. Nicht zu Unrecht spricht man von der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als vom „sozialdemokratischen Zeitalter“. Das Konzept der „sozialen Gerechtigkeit“, das zum Markenkern der Sozialdemokratie gehört, war so erfolgreich, dass andere Parteien es zu kopieren versuchten. Die Grünen ergänzten ihr ökologisch ausgerichtetes Programm um sozialpolitische Forderungen (inklusive Umverteilung durch Steuern), die teilweise radikaler waren als die der SPD. Auch die CDU wollte beim Wettkampf um die sozial gerechte Gesellschaft nicht zurückstehen. Angela Merkel und Ursula von der Leyen standen für eine moderne Familien- und Sozialpolitik, die zuvor in der CDU undenkbar gewesen wäre. Weiterlesen
Cigdem Toprak: Folklore und Klischees statt Würdigung der Zuwanderung
Cigdem Toprak hat in der Berliner Lokalzeitung „Tagesspiegel“ die „Welt“ kritisiert. Das Blatt habe in einer Berlin-Sonderausgabe angeblich die Bedeutung von Migranten für die Stadt unterschlagen. Das ist erstens Unsinn. Zweitens aber ist Topraks Artikel im „Tagesspiegel“ selbst ein Beispiel für einen folkloristischen, ja fast rassistischen Blick auf Zuwanderung.
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Der Untergang des Abendlandes
„In der Stunde wilder Ausgelassenheit, wo jede Leidenschaft entflammt und jede Zügel entfernt war, […] wurde ein grausames Gemetzel unter den Römern angerichtet […], und die Straßen der Stadt waren mit Leichen bedeckt.“ Dies ist ein Zitat aus „History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ von Edward Gibbon (1737-1794), dem bedeutendsten britischen Historiker der Aufklärung. Das sechsbändige Monumentalwerk umfasst den Zeitraum von der Mitte des zweiten Jahrhunderts nach Christus bis zur Einnahme Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453. Das Zitat beschreibt die Exzesse, die die Westgoten unter ihrem Heerkönig Alarich im Jahre 410 n. Chr. anrichteten, als sie Rom drei Tage lang plünderten. Gibbon begnügt sich nicht mit der Beschreibung der Massaker. Er will den Ursachen auf den Grund gehen, warum ein wildes Reitervolk ein bislang militärisch hocheffektives Imperium kläglich zu Fall bringen konnte. Er schildert ausführlich den Sittenverfall, der sich vor allem in der Hauptstadt des Reiches, in Rom, ausgebreitet habe. Brot und Spiele und ein üppiges Luxusleben hätten die Moral geschwächt und die Widerstandskraft vor allem der Eliten gelähmt. Weiterlesen
Was will Berlin architektonisch?
„Ich denke mir in der Gegend zwischen Potsdamer Platz und Alexanderplatz jede Baubeschränkung aufgehoben. Hier entstehen mächtige Bautenreihen aus Glas, Stein und Eisen, so hoch, wie das Bedürfnis es verlangt und der Baugrund es zulässt…“ So träumte sich Walter Rathenau 1902 ein Geschäftszentrum Berlins herbei, das er schon damals mit dem englischen Wort City bezeichnete.
Wo waren Sie am 26.4.1986, als die Tschernobylkatastrophe begann?
Heute fand im Bundestag eine bemerkenswerte Debatte zur 30 Jahre Tschernobyl-5 Jahre Fukushima statt zu den Folgerungen aus den beiden grossen Atomtechnologiekatastrophen, die immer noch weitergehen,um deren Opfer sich wohl das Europaparlament , der Bundestag,unzählige Helferinnen z. B. die KInder von Tschernobyl-weltweit mehr kümmerten als die sowjetische und russische alte und neue Nomenklatura. Die Halbwertzeit von Plutonium kennen sie die?Glauben Sie , dass wie ein Autor in der Welt schrieb, es nur 4000 Todesopfer gab?Die anderen Opfer, die hunderttausend Schilddrüsenkrebskranken, darunter viele Kinder, die heutige medizinische und soziale Lage der noch lebenden 600 000 Liquidatoren erwähnte er nicht.Ich erinnere mich an den 26.-29.4.1986: Weiterlesen
Muslimische Staaten in der Pflicht
Seit Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien im Jahre 2010 sind über 11 Millionen Syrer auf der Flucht. Das ist knapp die Hälfte der ursprünglich 23 Millionen Einwohner. Die meisten davon – 7,6 Millionen – sind Binnenflüchtlinge, die noch relativ sichere Landesteile aufsuchen. 4 Millionen sind in die Nachbarstaaten geflohen, vor allem in die Türkei, nach Jordanien und in den Libanon. Aus den Lagern in diesen Ländern haben sich im Sommer und Herbst 2015 rund 1,5 Millionen Menschen auf den Weg nach Europa gemacht, weil die Lebensmittelversorgung in den Lagern schlechter geworden war. Die Balkanroute glich zeitweilig einer Autobahn der Völkerwanderung. In Deutschland sind seit Sommer 2015 ungefähr 1,1 Millionen Menschen aufgenommen worden. Bei dem gigantischen Andrang, der die Behörden vor Ort vor enorme Herausforderungen gestellt hat, ließ es sich nicht vermeiden, dass sich auch Flüchtlinge aus anderen muslimischen Staaten in den Strom gemischt haben, um sich als „Syrer“ das sichere Ticket für den Eintritt nach Deutschland zu sichern. Hoch ist vor allem der Anteil junger Männer aus Afghanistan, Pakistan, Eritrea und den Maghrebstaaten. Weiterlesen
Wider die Generationengerechtigkeit
Wer Generationengerechtigkeit sagt, meint Raub an den Lebenden. Der Begriff ist ansonsten unsinnig. Es gibt schon innerhalb der Generationen keine Gerechtigkeit. So lebt jemand, der wie ich 1949 geboren wurde, in China oder Indien heute in der Regel schlechter als ich und hat dafür ein schwereres Leben gehabt. Und das gilt natürlich für viele, vielleicht sogar die meisten Menschen meiner Generation in Europa, ja sogar Deutschland, da ich ein in vielerlei Hinsicht privilegiertes Dasein führen durfte. Die Vorstellung, es könne oder müsse gar eine Gerechtigkeit über Generationengrenzen hinweg geben, ist Unsinn und maskiert in aller Regel nur den Wunsch, es von den Lebenden zu nehmen; ob es den Nachgeborenen gegeben wird, können die derart Besteuerten naturgemäß nicht überprüfen; darum ist die Generationengerechtigkeit als Forderung auch undemokratisch.
Darf Satire wirklich alles?
Selten gehe ich mit der Meinung konform, die Jakob Augstein in seiner Kolumne „Im Zweifel links“ auf SPIEGEL-online äußert. Mit seinem letzten Kommentar „Witz, komm raus!“ (18. 04. 2016) bin ich allerdings voll und ganz einverstanden. Die Botschaft ist so einfach wie treffend: Bei Jan Böhmermanns Machwerk handele es sich weder um Kunst noch um Satire, sondern um eine Beleidigung. Und eine Beleidigung sei nach unserer Rechtsordnung strafbar – Kanzlerin-Ermächtigung hin oder her.
Mich hat in der öffentlichen Debatte gewundert, wie sehr die feinsinnigen Feuilletonisten der liberalen Blätter bemüht waren, das beleidigende Potential des anstößigen „Gedichts“ hinter dem Pathos der Verteidigung von Meinungsfreiheit und Kunstprivileg zu verstecken. Man stelle sich einmal folgendes vor: Ein Pegida-Anhänger hätte ein solches Schmähgedicht gegen die Ausländerbeauftrage der Bundesregierung (eine Deutsche mit türkischem Hintergrund) oder gegen Cem Özdemir von den Grünen oder – noch schlimmer – gegen einen homosexuellen Politiker verfasst. Dann wären die Wogen der Empörung hochgeschlagen und die wackeren Verteidiger der Meinungsfreiheit hätten nach dem Kadi gerufen. Weiterlesen
Ein Gespräch über Böhmermann
In der Causa Böhmermann gibt es meines Erachtens vier mögliche Betrachtungsweisen.
Entweder das Gedicht war eine Beleidigung (1.), oder es war keine Beleidigung (2.).
Wenn es keine Beleidigung war, dann deshalb, weil es eine Belehrung (1.1.) oder eine Satire (1.2.) war. Wenn es eine Beleidigung war, dann hat Erdogan sie entweder verdient (2.1.), oder er hat sie nicht verdient (2.2.), in welchem Falle Böhmermann eine Strafe verdient hätte.
Böhmermann, Erdogan und kein Ende
Ja, darf er denn das? Bei vielen Diskussionen um Jan Böhmermanns Schmähgedicht gegen den Präsidenten der Türkei habe ich den Eindruck, die Diskutanten wüssten nicht, wovon sie reden. Der „Musik-Express“ hat dankenswerterweise den Text dokumentiert. Hier ist es nachzulesen (und hier):
Sackdoof, feige und verklemmt,
ist Erdoğan, der Präsident…