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Radikal –ein Roman wie ein Drehbuch für die derzeitige Eskalation

Von Christoph Giesa:

Yassin Musharbash, bei der Zeit unter anderem für die Themen Islamismus und Islamophobie zuständig und Autor des Blogs zum Thema (Link: http://blog.zeit.de/radikale-ansichten/) hat ein hoch aktuelles Buch geschrieben. Allerdings nicht heute, sondern vor vier Jahren. Es beschreibt faktisch die derzeitig zu beobachtende Eskalation, die Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte zwischen Islamismus und Rechtsradikalismus.

Der Plot ist an sich schnell erzählt, bildet er doch nur das Grundrauschen für die erschreckende Moral des Buches. Ein gemäßigt muslimischer Grünenpolitiker wird Abgeordneter – man muss ein wenig an Cem Özdemir denken bei der Beschreibung – und sorgt für große Hoffnungen in der muslimischen Community. Noch bevor er allerdings richtig Fuß fassen kann, wird er in einer Live-Sendung, die dem ZDF-Morgenmagazin sehr ähnlich scheint, von einer Bombe getötet. Mit ihm sterben viele der anwesenden Zuschauer und Mitarbeiter. Kurz danach taucht ein Bekennervideo von Al-Qaida im Netz auf, alles scheint klar.

Die Öffentlichkeit reagiert wie erwartet: Pauschaler Hass schlägt Muslimen entgegen, die sich als Reaktion darauf tatsächlich zu radikalisieren beginnen. Eine ehemalige Mitarbeiterin des umgekommenen Politikers und ein Islamexperte erkennen allerdings, dass die Erzählung Schwächen hat. Irgendwas scheint faul. Weiterlesen

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Die rechten Verführer und die Apathie der Gesellschaft

Die Parolen der rechten Scharfmacher delegitimieren zunehmend die liberale Demokratie. Umso befremdlicher ist die Apathie weiter Teile des Bürgertums angesichts dieser Entwicklung. Hat dieses keine Lehren aus der Spätphase der Weimarer Republik gezogen?

Brennende Flüchtlingsheime, Angriffe auf Journalisten bei Pegida-Demonstrationen, ein versuchter Mordanschlag auf eine Kölner Kommunalpolitikern, Todesdrohungen gegen amtierende Bürgermeister. Deutsche Zustände im Herbst des Jahres 2015. Weiterlesen

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Judenreine Jugend

Ein Betrunkener sucht verzweifelt unter einer Laterne nach seinem Schlüssel und bittet einen Passanten um Mithilfe. Nach einer Weile fragt der Passant: „Sind Sie sicher, dass Sie ihn hier verloren haben?“ „Nein, da drüben“, lallt der Betrunkene, „aber hier ist das Licht besser.“
Der Betrunkene kommt mir ein wenig vor wie die Autoren der neuesten „Shell-Jugendstudie“.
Die Studie meint, „eine Generation im Aufbruch“ zu erkennen. Aber nur, weil sie sich auf diejenigen konzentriert, die im Licht stehen. Die im Dunkeln sieht die Studie nicht.

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Ist die unausgeschlafene Gesellschaft ein Märchen?

VON PETER SPORK:

Eine Studie über das Schlafverhalten von Naturvölkern, gerade inCurrent Biology (http://www.cell.com/current-biology/abstract/S0960-9822%2815%2901157-4) erschienen, erregt derzeit Aufsehen. Grundaussage: Es ist ein Märchen, dass wir in einer unausgeschlafenen Gesellschaft leben, denn auch die Naturvölker schlafen im Mittel nur 6,5 Stunden und machen tags nur selten Nickerchen. Dennoch klagen sie nicht über zu wenig Schlaf. Außerdem gehen sie erst drei Stunden nach Sonnenuntergang zu Bett und stehen oft vor Sonnaufgang auf. Anders als derzeit immer behauptet werde, bestimmten Sonnenauf- und -untergang also nicht das Schlafverhalten. Damit scheint die Grundthese meines Buches Wake up!widerlegt.

Doch wie immer ist die Sache etwas komplizierter. Weiterlesen

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Ostdeutsche Demokratieverdrossenheit

 Anlässlich des 25-jährigen Jahrestags der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 2015 wurde in den Zeitungen der Republik Bilanz gezogen. Ökonomische Kennziffern über die Annäherung der neuen Bundesländer an das Niveau des Westens wurden aufgezählt und bewertet. Was im Vereinigungsprozess falsch gelaufen ist, wurde benannt und diskutiert. Ein mentaler Befund war für mich besonders erschreckend. Auf die Frage, ob die Demokratie die beste Staatsform sei, antworten die Westdeutschen zu 89% mit Ja, in Ostdeutschland sind es nur 63%. Die Frage, ob sie mit dem Funktionieren der Demokratie in unserem Land zufrieden seien, beantworten im Westen 61% mit Ja, während im Osten nur 33% zustimmen. Die Ostdeutschen scheinen ihre Abneigung gegen die Demokratie in Deutschland auch an ihre Kinder weitergegeben zu haben. In der aktuellen Shell-Studie über die Befindlichkeiten der Jugend (Oktober 2015) äußern sich nur 54% der ostdeutschen Jugendlichen zufrieden mit unserer Demokratie, im Westen sind es 77%. Das ist verwunderlich, sind die jungen Ostdeutschen doch im vereinten Deutschland geboren, haben dieselbe Bildung genossen und besitzen dieselben Lebenschancen wie ihre westdeutschen Kameraden. Weiterlesen

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Friedensnobelpreis für das tunesische Quartett

Selten habe ich mich so über den Friedensnobelpreis gefreut, wie dies Mal. Auch wenn ich mich mit geehrt fühlte, als meine Freundin Wanghaari Mathai , die mit tausenden von Frauen Bäume gepflanzt und gegen die Diktatur von Mopi Moi in Kenia gekämpft hat,als geschiedene Frau von der Uni entlassen wurde,nach langer Zeit als erste Frau wieder den Preis erhielt.Auch als Shirin Ebadi für die Frauenbewegung und Reformbewegungen im Iran den Preis erhielt und ich sie in dem Moment in Rom kennen lernen durfte. Erst Recht rührte mich der Nobelpreis für Malala 2014,ein Preis gegen den Terror der Taliban und für Mädchenbildung weltweit.

Alle Träger des Friedensnobelpreises sind keine Engel und haben wohl vorher oder hinterher auch mal was Dummes gesagt, so wie mir die Töne von Shirin Ebadi bei einer Konferenz im Auswärtigen Amt gegen das angeblich pauschale Versagen des Westens nicht mehr gut gefallen haben. Auch einige Aussagen von Wanghaari kurz vor ihrem zu frühen Tod waren etwas wirr, mal von einigen Preisträgern, die Kriege geführt haben, abgesehen. Weiterlesen

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Die letzte Ambulanz

Von Sonja Margolina:

Auf einer Tagung begegnete ich einem Bulgaren, der in Berlin promoviert wurde und in einer Parteistiftung arbeitet. Sein Berufsweg war exemplarisch für Ostblock-Zeitgenossen, die als Heranwachsende dem Zusammenbruch des sozialistischen Systems beigewohnt hatten und mit einer bis dahin undenkbaren Selbstverständlichkeit die Vorteile der Bewegungsfreiheit genießen dürften. Wir unterhielten uns über die Abwanderung des Bildungsnachwuchses aus Bulgarien und anderen postsozialistischen Ländern.

Kurz vor diesem Gespräch habe ich mir den Dokumentarfilm „Sofias letzte Ambulanz“(2012) im Berliner Off-Kino „Krokodil“ angeschaut. Dessen Regisseur Ilian Metev ist ein Bulgare, der nach London ging. Das Kamera-Team begleitete eine der wenigen übrig gebliebenen Notambulanzen in Sofia bei ihren Einsätzen. Deren Mannschaft – ein übermüdeter, unterbezahlter Arzt um die 50, eine ältere Krankenschwester und ein Fahrer – könnten ihren Lebensunterhalt im Ausland oder in einer privaten Klinik verdienen, aber sie retten Menschenleben in den gottverlassenen, buckligen, unbeleuchteten Gassen. Der Zerfall sozialer Strukturen, Anonymität, Hoffnungslosigkeit begegnen dem Zuschauer auf Schritt und Tritt. Weiterlesen

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Aus dem Underground auf den Olymp der Popmusik – Zum neu erschienenen Remix von Ulf Poschardts Klassiker „DJ Culture“

Wer sich schon häufiger mit wissenschaftlichen Monographien beschäftigt hat, merkt bereits nach der Lektüre weniger Seiten, ob der Autor für sein Thema brennt. Die Passioniertheit zeigt sich in der Akribie, in geschliffenen Formulierungen und dem Bestreben, Thesen zu entwickeln, die den Untersuchungsgegenstand in eine neue Perspektive rücken. Einen ganz besonderen Groove bekommen solche Arbeiten dann, wenn der Verfasser sein liebstes Hobby zum Untersuchungsgegenstand macht, dieses gewissermaßen verwissenschaftlicht. Wenn die Haltung des Fans hinzukommt, kann sogar eine Dissertation so funkeln, dass sie auch außerhalb der Wissenschaft Maßstäbe setzt. Ulf Poschardts 1995 erstmalig erschienenes Werk „DJ Culture“ ist so ein Fall. Weiterlesen

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Wo Avigdor Lieberman Recht hat. Und wo nicht.

Der ehemalige israelische Außenminister Avigdor Lieberman ist bislang nicht als Geschichtsphilosoph hervorgetreten. Doch nun hat er sich in einem Gastbeitrag für die „Welt“ als Anhänger Oswald Spenglers geoutet. „Vor hundert Jahren schrieb der Kulturhistoriker Oswald Spengler vom ‚Untergang des Abendlandes’. Jetzt bewahrheitet sich seine Prophezeiung.“
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Warum Claudia Roth die letzte ist, die Joachim Gauck kritisieren dürfte

 

Von Eva Quistorp:

Als eine, die schon 1992 als Europaabgeordnete der Grünen für den UNO- und dann NATO-Einsatz in Bosnien war, die 2001 für den Kampf gegen den Terror, aber gegen die Beteiligung am Afghanistaneinsatz unter Bush junior war, entschieden gegen den Irakkrieg global organisierte und die demokratische Opposition in Syrien schon seit 2006 unterstützte, habe ich die Rolle von Claudia Roth als Menschenrechtlerin und Außenpolitikerin wie die des Bürgerrechtlers Joachim Gauck viele Jahre aus nächster Nähe erlebt und habe ein gutes Gedächtnis.

In historischen Momenten wie dem des Ringens um die deutsche und europäische Wiedervereinigung, um den Militäreinsatz in Bosnien, um den Afghanistaneinsatz mit Bush, um den Türkeibeitritt und Erdogans Religionspolitik, wie um Waffen für die Kurden auch in Syrien, um Multikulti und Islamismustoleranz habe ich mich immer anders exponiert als Frau Roth, auch wenn uns einige Themen verbinden. 
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Sozialdarwinismus life

Liest man die Stellungnahme von Flüchtlingsverbänden wie Pro Asyl oder die Verlautbarungen der Grünen zur gegenwärtigen Flüchtlingskrise, so erfährt man unisono, bei den Flüchtlingen handele es sich um „die Ärmsten der Armen“, um Menschen, die „knapp dem Tod entronnen“ seien oder um „völlig hilfsbedürftige Menschen“. Selbst die Sprache der Bibel – „Erniedrigte und Beleidigte“ – wird bemüht. Kein vernünftiger Mensch kann bestreiten, dass eine Familie, die vor den Fassbomben des syrischen Präsidenten Assad aus Homs geflohen ist, „dem Tod entronnen“ ist. Und wer als Christ den Folterknechten des Islamischen Staates (IS) aus Mosul entkommen ist, ist vermutlich wirklich „erniedrigt“ worden und „hilfsbedürftig“ – auch in psychologischer Hinsicht. Doch trifft diese Einschätzung wirklich auf alle Flüchtlinge zu, die in diesem aufregenden Sommer nach Deutschland gekommen sind? Weiterlesen

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