Angela Merkel hat auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise etwas geschafft, was ihr in ihrer zehnjährigen Regierungszeit bisher nicht beschieden war. Sie hat durch Worte geglänzt: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“. Diesem emotionalen Satz gingen noch andere bemerkenswerte Äußerungen voraus: „Deutschland braucht mehr Flexibilität.“/ „Das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte kennt keine Obergrenze.“ Und: „Wir schaffen das!“ Weiterlesen
Asylpolitik
Wer Arbeit hat, kann Deutscher werden
Als tipping point bezeichnet man ein Ereignis, das eine vorgezeichnet erscheinende Entwicklung plötzlich verändert. Die Einführung der DM nach dem 2. Weltkrieg war so ein Ereignis. Wie durch ein Wunder füllten sich unmittelbar danach die Schaufenster, die bis dahin leer gewesen waren, und es begann, was später das deutsche Wirtschaftswunder genannt werden sollte. Oder die Aufhebung der Zwangsbewirtschaftung von Wohnraum. Statt weiter den Mangel zu verteilen, wurde gebaut und in Wohnungen investiert.
Auch im Umgang mit Flüchtlingen brauchen wir jetzt einen tipping point. Bisher ging man davon aus, dass Kriegsflüchtlinge nur vorübergehend in Deutschland aufgenommen werden. Integrationsmaßnahmen seien unnötig, weil die Menschen in ihre Heimat zurückkehren würden, sobald der Krieg dort beendet sei. Schließlich würden sie zum Wiederaufbau ihres Landes gebraucht.
Bis heute werden deshalb Menschen in den Kosovo abgeschoben, die sich Anfang der 90er Jahre vor Milosevics Truppen nach Deutschland in Sicherheit gebracht hatten. Es gab zunächst weder Sprachkurse noch Arbeitserlaubnisse. Viele hangelten sich mit sechsmonatigen Kettenduldungen durch die Jahre in Deutschland. Nicht einmal die Kinder unterlagen von Anfang an der allgemeinen Schulpflicht. Sie würden Deutschland eh bald wieder verlassen, dachte man zunächst.
Über die Jahre haben wir zwar gelernt. Flüchtlingskinder gehen schon lange vom ersten Tag an in die Schule. Es gibt jetzt Arbeitserlaubnisse für Flüchtlinge, und Flüchtlinge können auch einen Ausbildungsvertrag abschließen. Die Gemeinnützige Gesellschaft zur Unterstützung Asylsuchender (GGUA) informiert über Einzelheiten: „Am 6. und am 11. November 2014 sind mehrere Erleichterungen beim Arbeitsmarktzugang für Asylsuchende mit Aufenthaltsgestattung und Personen mit Duldung in Kraft getreten: Die Wartefrist für die Arbeitserlaubnis verkürzt sich für beide Gruppen von bisher neun bzw. zwölf Monaten auf die ersten drei Monate des Aufenthalts (bei der Berechnung der Wartefrist wird die gesamte Zeit des bisherigen Aufenthalts mitgezählt – unabhängig vom vorherigen Status). Danach besteht für beide Gruppen grundsätzlich ein nachrangiger Arbeitsmarktzugang, d. h. weiterhin muss für eine konkrete Beschäftigung eine Erlaubnis bei der Ausländerbehörde beantragt werden, die wiederum die ZAV (Agentur für Arbeit) um Zustimmung anfragen muss. Für eine Zustimmung werden grundsätzlich eine Vorrangprüfung und eine Prüfung der Beschäftigungsbedingungen durchgeführt. Die Vorrangprüfung entfällt nun spätestens nach einem 15monatigen Aufenthalt.“ Und dann folgen weitere eng bedruckte Seiten mit Regeln und Ausnahmen.
Das klingt nicht nur bürokratisch, das ist es auch. Und unübersichtlich ist es außerdem. Vor allem werden diese Regelungen der Aufgabe, vor der Deutschland jetzt steht, nicht gerecht.
Wir müssen uns darauf einstellen, dass ein großer Teil der Menschen, die jetzt aus Syrien zu uns kommen, dauerhaft in Deutschland bleiben werden. Ziel unserer Flüchtlingspolitik muss deshalb sein, alles dafür zu tun, dass diese Menschen möglichst bald auf eigenen Füßen stehen, für sich selbst sorgen und sich in Deutschland eine Existenz aufbauen können.
Das wird den Flüchtlingen viel abverlangen. Die notwendigen Anstrengungen werden sie nur unternehmen und sich auf dieses Ziel konzentrieren, wenn sie AM ANFANG die Sicherheit haben, dass SIE SELBST es in der Hand haben, ihr dauerhaftes Aufenthaltsrecht in Deutschland zu sichern.
Um einen tipping point zu bekommen, sind zwei neue Regeln unerlässlich:
Wer einen Arbeitsplatz hat und für seinen Lebensunterhalt sorgen kann, kann dauerhaft in Deutschland bleiben und, wenn gewünscht, nach acht Jahren auch Deutscher werden.
Wer eine Ausbildung erfolgreich abschließt, kann anschließend in Deutschland bleiben und arbeiten.Mit dieser Möglichkeit vor Augen werden sich die Flüchtlinge anstrengen, die deutsche Sprache zu lernen. Sie werden sich aus eigenem Antrieb um Arbeits- und Ausbildungsplätze bemühen. Arbeitgeber, die bisher gezögert haben, Flüchtlinge einzustellen, weil ja noch nicht klar ist, wie lange sich der Bewerber überhaupt in Deutschland aufhalten darf, werden handeln und einstellen.
Arbeit und Beschäftigung ist kein Nullsummen-Spiel nach dem Motto: die Flüchtlinge nehmen uns die Arbeit weg – sondern schafft neue Arbeit und Beschäftigung. Deshalb braucht man auch die sog. Vorrangprüfung nicht mehr. Auch die Sperrfristen können entfallen. Jedes Foto von Aleppo zeigt: es sind nicht die sog. Pull-Faktoren wie Arbeitsplätze, die die Flüchtlinge nach Deutschland gelockt hätten. Es waren die Fassbomben von Assad, die sie zu uns getrieben haben.
Wer Arbeit hat, kann Deutscher werden – das könnte der tipping point nicht nur für eine erfolgreiche Integration der Flüchtlinge werden, sondern auch ein kräftiger Wachstumsschub für unsere Wirtschaft.
Tröglitz ist überall – oder etwa nicht?
Die Bereitschaft von Betroffenheits-Deutschland, sich an die Brust zu klopfen, ist ehrenhaft. Ist aber, wie Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) meint, „Tröglitz überall“?