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Wenn ein Wähler Rot-Grün im Land und Schwarz-Gelb im Bund wählt, ist er dann schizophren – oder die Avantgarde?

 Nie war es schwerer – und spannender – sein Kreuz auf dem Stimmzettel zu machen. Denn noch nie gab es eine Wahl, bei der so vieles möglich war. Sicher ist dieses Mal nur eines:  Wenn es für Schwarz-Gelb reicht, wird es ein bürgerliches Bündnis unter Führung von Angela Merkel und Guido Westerwelle geben. Reicht es dafür nicht, ist alles offen.

Denn eine zweite Große Koalition wird Merkel nur im äußersten Notfall eingehen. Die Chancen, dass sie vier Jahre halten würde, liegen bei unter zehn Prozent. Denn die Ausgangslage ist dieses Mal ganz anders als 2005: Reicht es nicht für Schwarz-Gelb, wäre wahrscheinlich die Union schuld – mit einem Wahlergebnis möglicherweise sogar unter dem schlechten von 2005. Das würde die Merkel-Gegner sofort auf den Plan rufen. Auch bei den Sozialdemokraten würde sofort eine innerparteiliche Auseinandersetzung beginnen. Dort ist inzwischen allen klar, dass es früher oder später zu einer Wiedervereinigung mit der Linken kommen muss. Steinmeier, Steinbrück und Müntefering sehen den Termin eher später – wenn Lafontaine nicht mehr da ist und die Linke durch mehrere Regierungsbeteiligungen in den Ländern so domestiziert ist, dass man mit Ihnen auch auf Bundesebene arbeiten kann. Andrea Nahles und Klaus Wowereit sehen den Termin eher früher. Wer sich durchsetzt, ist völlig offen. Ebenso wie die Frage, ob Steinmeier es nicht doch selbst machen würde, um wenigstens ein paar Gestaltungsmöglichkeiten in der Hand zu behalten.

Eine Zerreißprobe kommt dann auch auf die Grünen zu: Rot-Rot-Grün oder Jamaika ist eine Grundsatzfrage. Während die Basis klar zu ersterem tendiert, gibt es in der Führung und der Funktionärsschicht meines Erachtens mehr Sympathien für Jamaika. Nicht nur, weil die Grünen ihr Öko-Profil dort leichter geschärft halten könnten. Sondern auch, weil die politischen Forderungen der Linken einfach nicht umzusetzen sind – sie sind viel zu teuer.  Für die Grünen wäre es sehr schwer, ihre Position als ökosoziales Gewissen der Republik in einer rot-rot-grünen Formation trennscharf zu behalten.  Die große Frage aber ist, ob Grüne wie Renate Künast oder Cem Özdemir die Kraft und den Überzeugungswillen haben, einen Parteitag in dieser Frage zu drehen? Eher muss da wohl Jürgen Trittin ran. Doch der ist – im Gegensatz – zu manchen seiner Führungskollegen, nicht nur öffentlich, sondern auch tatsächlich gegen Jamaika.

Noch ein kurzer Satz zu den öffentlichen Aussagen vorher und nachher:  Reicht  es tatsächlich nicht für Schwarz-Gelb, wird jeder genügend Argumente finden, warum er oder sie seine vor der Wahl getroffenen Aussagen revidieren muss. „Um die Republik vor Rot-Rot-Grün zu retten“, wird Guido Westerwelle den Eintritt in eine Ampel rechtfertigen.  „Um die Verlängerung der Atomkraftwerks-Laufzeiten zu verhindern“, wird Jürgen Trittin die Zustimmung zu Jamaika begründen. 

So wird die Entscheidung für das Kreuz dieses Mal mehr denn je ein Vabanque-Spiel. Und der Wahler, der auf seinen Stimmzetteln Rot, Grün, Schwarz und Gelb ankreuzte tatsächlich  Avantgarde, der uns auf die neuen Mehrheitsverhältnisse in Bund und Ländern einstimmt.

Mehr  zum taktischen Wahlverhalten am Sonntag, den 20.09., im ARD-Presseclub, dieses Mal mit Margaret Heckel als Gast.

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Ein Gedanke zu “Wenn ein Wähler Rot-Grün im Land und Schwarz-Gelb im Bund wählt, ist er dann schizophren – oder die Avantgarde?

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    Es ist noch viel schlimmer als Margaret Heckel es richtig beschreibt. Klappt schwarz-gelb, dann wird es für die „Roten“ kein Halten mehr geben. Die Protagonisten Müntefering, Steinmeier, Lafontaine und Gysi werden spätesten bei der Wahl 2013 nicht mehr gefragt sein; Wowereit, Gabriel und Nahles sitzen bereits in den Startlöchern oder haben diese schon verlassen und setzen zum Spurt an. Die Grünen werden nach einer „Wiedervereinigung“ des linken Spektrums möglicherweise zur Mehrheitsbeschaffung nicht bereit sein, könnten aber dazu beitragen, über einer schwarz-gelben Regierung das Damoklesschwert eines konstruktiven Misstrauensvotums aufzuhängen.
    Ob allerdings die Wählerklientel der Grünen auf Dauer einen solchen fundamentalen Linkskurs mitzusteuern bereit ist, bezweifelt Heckel zu Recht.
    Öko-Ziele können realistischer in der Jamaika-Lösung umgesetzt werden. Ob die Renegaten allerdings abwarten, oder gleich nach der Wahl zum Dolch greifen, bleibt in der Tat abzuwarten. Zu befürchten ist: 2009 ist vielleicht die letzte Chance für eine Regierung aus der Mitte des politischen Spektrums.
    Videant consules…

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