Rückblende: Wir befinden uns im Jahre 1990: Eine Kugel Speiseeis kostet an der Eisdiele um die Ecke 50 Pfennig, auf den Straßen setzen sich langsam Autos mit geregelten Katalysatoren durch und in den Wohnzimmern sind die ersten CD-Player zu bewundern.
Das Internet besteht aus einigen sündteuren und komplizierten Großrechnern in den Kellern von Informatikinstituten und Militäreinrichtungen, ‚Yahoo’ ist nur ausgemachten Kennern der irischen Literatur ein Begriff. In der Schweiz gibt auch der letzte Kanton seiner weiblichen Bevölkerung das aktive Wahlrecht und etwas weiter nordöstlich endet ein realsozialistisches Experiment, die DDR hört auf zu existieren. „Tschuldigung“, sagt Karl Marx auf einer Karikatur, „war nur so ne Idee von mir.“
20 Jahre sind eine lange Zeit, gerade auch in politischen Dimensionen. Und trotzdem, für Hannelore Kraft und die SPD ist die DDR unvergessen. Beinahe die Hälfte der Zeit, die man mit der Linkspartei am Verhandlungstisch verbrachte, um Perspektiven für das Land an Rhein und Ruhr zu erörtern, widmete man sich der Geschichte östlich der Elbe. Schließlich scheiterten die Gespräche, eine gemeinsame Vertrauensbasis ließ sich nach Aussage der sozialdemokratischen Spitzenkandidatin nicht herstellen.
In den Tagen danach tobt der geifernde Mob: In Onlineforen und den Nutzerkommentaren vermeintlich linksliberaler Zeitungen überschlagen sich die Stimmen derer, die den ‚historischen Verrat’ der SPD geißeln, von ‚neoliberaler Unterwanderung’ ist da zu lesen, von ‚beispielloser Rückgratlosigkeit’ und vom ‚Philistertum der Parteiführung’; eine historische Chance, den Populisten Rüttgers abzulösen, verspielt um historischer Petitessen willen. Auch einige journalistische Kommentatoren zeigen Unverständnis: zweieinhalb Stunden DDR-Geschichte, hätte das wirklich sein müssen?
Ja, es musste sein. Dass Hannelore Kraft die Linkspartei zu Gesprächen gebeten hat, mag mit Blick auf die Wahlergebnisse der Linken noch angehen, es ist nach den plumpen Erpressungsversuchen der in der Wählergunst abgeschlagenen Freidemokraten rund um den blässlichen Andreas Pinkwart vielleicht sogar menschlich verständlich.
Dass sie dann aber klare Bekenntnisse zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung einfordert, ist nicht nur ihr gutes Recht, es ist darüber hinaus auch ihre Pflicht als verantwortungsbewusste Demokratin. Es geht bei der Auseinandersetzung um das DDR-Verständnis von Teilen der Linkspartei mitnichten um Petitessen oder alte Kamellen; das Problem liegt nicht in abgeschlossener Vergangenheit, sondern in gelebter Gegenwart.
Der Landesverband der Linken an Rhein und Ruhr ist selbst unter den eigenen Genossen für seinen Fundamentalismus berüchtigt, notorische Querulanten und angegraute Unbelehrbare aus diversen K-Gruppen bilden hier ein ewig-gestriges innerparteiliches Schreckgespenst. Es geht nicht um ostdeutsche Biografien, nicht um FDJ-Posten zu Schulzeiten oder die Mitgliedschaft im FDGB, es geht um weit Gegenwärtigeres: Die Spitzenkandidatin Bärbel Beuermann nennt im Gespräch mit Journalisten die DDR einen ‚legitimen Versuch’, einen Unterschied zwischen Stasi und Verfassungsschutz kann sie beim besten Willen nicht erkennen, auf kritische Nachfragen reagiert sie mit kryptischen Drohungen.
Eine Politikerin, die in Westdeutschland jede Freiheit hatte, ihre verqueren politischen Ideen zu entwickeln und fundamentalistischen Vereinigungen wie der ‚Sozialistischen Linken’ beizutreten, verklärt ein totalitäres System zur beschaulichen Alternative; das ist nicht nur den Opfern der Diktatur gegenüber zutiefst zynisch, das zeigt auch eine weite Distanz zu jedwedem demokratischen Basiskonsens. Da hilft dann auch kein Ablassbrief aus der Feder Ulrich Maurers.
Wie geht es jetzt weiter? Die Ampel scheitert am kategorischen Nein der FDP, einer zunehmend monothematischen Partei, die sich unter den Querelen ihres Spitzenpersonals langsam aber sicher ins politische Nirvana verabschiedet.
Bliebe noch die Machtoption einer großen Koalition, nicht schön, aber machbar. Sollte auch dies scheitern, dann, so hat Hannelore Kraft schon angekündigt, gibt es nach dem Willen der SPD Neuwahlen. Und wieder tobt der Online-Mob: Undemokratische Exzesse seien da zu beobachten, die Politik ignoriere klare Wählervoten, wolle gar das Volk auflösen, um sich ein neues zu wählen.
Auch wenn letzteres bloß eine dümmliche Verkürzung auf Kosten eines schönen Zitates ist, dass Neuwahlen zunächst ein komischer Geruch anhaftet, lässt sich nicht bestreiten. Und dennoch könnten sie die einzig gangbare Option sein.
Wenn es der Politik nicht gelingt, tragfähige Mehrheiten zur Regierung zu bilden, dann muss sie an den demokratischen Souverän zurückdelegieren, ihm eine erneute Entscheidung ermöglichen, egal, wie diese auch ausfallen mag; Mehrheitsbildung um der bloßen Macht willen kann demgegenüber keine Option sein.
Hannelore Kraft hat, historia docet, richtig gehandelt, auch im Hinblick auf die politischen Zukunftsperspektiven für Nordrhein-Westfalen. Sie hat politischen Vorwärtsdrang nicht mit Geschichtsvergessenheit erkauft.
Die Frage, wessen Morgen nun der Morgen ist, kann hingegen nur einer beantworten – der Wähler. Man darf hoffen, dass der prinzipienfeste SPD-Vorsitzende Gabriel das seiner Partei, insbesondere dem regierungsverliebten Herrn Steinmeier, zu erklären weiß. Der Vater der Agenda sitzt missmutig im Parlament, applaudiert Gabriel nicht und schielt sehnsüchtig zur Regierungsbank. Ein Untoter der Großen Koalition. Hannelore Kraft sollte seine politische Grabstätte nicht mit ihm teilen wollen.
Treffende Diagnose, aber das ist ja das Mindeste. Interessanter die Frage: Schlägt die SPD die Schlacht um NRW, während die CDUCSUFDP-Koalition diesen Tiefpunkt zur Sammlung ihrer Truppen benutzt? Werden wir in acht Jahren auf diesen Punkt zurückblicken, und ihn als Wende nicht zu einer Rückkehr der SPD sehen, sondern als Weckruf für eben die schwarzgelben Hummeln? Die SPD ist noch immer in ihrem Kern schwach, Gabriel tut das menschenmögliche, aber auch er kann das Land nicht per Fingerschnippen wieder zurückholen in die Vor-Hartz-4-Zeit. Die Substanz hat gelitten und wird noch auf ein Jahrzehnt leiden. Und da die CDU zu feige für ähnlich große Reformen bleibt – ein wirkliches Zuwanderungsgesetz wäre eine Herausforderung, die Integration der Türkei in die EU eine Meisterleistung (und sowohl geostrategisch als auch wirtschaftlich unerlässlich) – nur Nixon konnte nach China gehen, und wie nur die SPD Hartz4 durchsetzen konnte (was nicht hieß, dass sie es so miserabel umsetzen musste), kann nur die CDU die Themen am rechten Rand politische Realität werden lassen – werden die CDU-Werte auf lange Sicht stabiler sein als die SPD-Werte. Eine Schwalbe macht noch keinen Frühling. Ich wiederhole: Die Feigheit der CDU wird Merkels Regierung noch lange Zeit retten, Deutschland und Europa hingegen werden wegen eben dieser Feigheit leiden.
Ein durch und durch gelungener Kommentar! Die Politikunfähigkeit der NRW-FDP und -Linken ist auf den Punkt gebracht, genau wie das Dilemma der SPD. Bleibt zu hoffen, dass die Wählerinnen und Wähler die Situation ähnlich reflektiert analysieren können, um bei einer Neuwahl nicht populistischem „die SPD ist unfähig Mehrheiten zu bilden“-Gerede zu erliegen.
Demokratie ist auch ein Stück weit Arbeit und Engagement, ich glaube das haben viele Wahlberechtigte vergessen. Informieren und Engagieren heißt die Devise, wer das nicht tut hat kein Recht sich zu beschweren!
Brillant, besonders die Einschätzung von Steinmeier.
Große Koalition? Ja, wird aber sicher scheitern, denn ich glaube kaum, daß die CDU Hannelore Kraft das Regierungsamt zu Füßen legen wird.
Also sind Neuwahlen bereits programmiert und dann gibt es hoffentlich ein eindeutiges Wählervotum – so funktioniert nun einmal Demokratie!