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Die Kunst der Vorausschau – oder warum analytisches Denken von der Öffentlichkeit nicht belohnt wird

Es hat mehr als hundert Tage gedauert, aber nun ist es soweit: Die FDP hat ihre Forderungen für eine große Steuerreform einkassiert. Die Realitäten der täglichen Politik haben die kühnen Pläne eingeholt. Auch wenn FDP-Chef Guido Westerwelle heute seinen Vize zur Präsentation vorgeschickt hat – die FDP ist umgefallen.

Angela Merkel hat dies nicht überrascht. Im Gegenteil: Sie rechnete von Anfang an mit genau diesem Ergebnis. Geschult in der Kunst des Machbaren gegenüber dem Wünschenswerten war ihr schon bei den Koalitionsverhandlungen klar, dass die FDP früher oder später mit ihrer Entlastungsforderung umfallen wird. So hat sie bei den Verhandlungen weder Zeit noch Energie darauf verschwendet, Westerwelle die Steuerforderung abzuhandeln. Auch in der Folgezeit ließ sie sich nie drängen, die FDP ob ihrer Forderung in die Schranken zu weisen. Das wurde Merkel – wieder einmal – als Unbestimmtheit, als Schwammigkeit, als Nicht-Linie ausgelegt.

Doch diese Handlungsweise folgt einem klassischen Muster bei der Kanzlerin: Warum soll ich Energie auf etwas verschwenden, von dem ich weiß, dass es ohnehin nie in die Realität umgesetzt wird? Lieber ein paar Monate schlechte Schlagzeilen in Kauf nehmen, als wertvolle Zeit mit Interventionen zu verschwenden, die sich letztlich als unnötig erweisen, weil sie sich selbst erledigen.

Doch die Öffentlichkeit belohnt derartiges analytisches Denken nicht. Es widerspricht den gängigen Regeln der Inszenierung von Politik als ständiger Kampf unterschiedlicher Meinungen. Und es widerspricht auch der vermeintlichen Notwendigkeit der Medien, andauernd einen Politiker auf den anderen zu hetzen. Wer liest schon einen Kommentar, in dem nüchtern konstatiert wird, dass Angela Merkel ohne Sorge ruhig in ihrem Kanzleramt sitzen bleiben und abwarten kann, wie die FDP sich in der Steuerfrage selbst zerlegt? Nein, da ist es doch weit medienwirksamer, ein flammendes Plädoyer an die Kanzlerin zu richten, endlich den „irrationalen Plänen“ ihres Koalitionspartners Einhalt zu gebieten!

Dieser Mechanismus ist so ritualisiert, dass er sich immer wieder Bahn bricht. Am zweiten Tag der Konferenz über Atomwaffen in Washington wurde Merkel von einem Fernsehmoderator gefragt, wie sie dazu stehe, dass ihr „einer Freund“ Barack Obama alle Atomwaffen abschaffen wolle und ihr „anderer Freund“ Nicholas Sarkozy die französischen Atomwaffen niemals aufgeben wolle?

Falls der Frage die Hoffnung zugrunde lag, dass Merkel sich in ihrer Antwort gegen den einen oder den anderen „Freund“ wenden würde und so wieder ein schöner kleiner Streit hätte konstruiert werden können, wurde sie enttäuscht. Die Bundeskanzlerin lächelte nur nachsichtig und erklärte dem Moderator die Kunst der Vorausschau:  Wenn es dem amerikanischen Präsidenten (und dem russischen) Ernst sei mit einer Welt ohne Atomwaffen, würde schnell ein „Geleitzug“ entstehen, dem sich niemand entziehen könnte. Den französischen Präsidenten musste sie da gar nicht mehr namentlich erwähnen.

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7 Gedanken zu “Die Kunst der Vorausschau – oder warum analytisches Denken von der Öffentlichkeit nicht belohnt wird;”

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    Möglicherweise lesen wir unterschiedliche Zeitungen, aber wo hatte Frau Merkel in den letzten Monaten schlechte Schlagzeilen ?

    Die wirklich wichtigen Meinungsmedien aus den Häusern Springer und Bertelsmann überschlagen sich doch schon seit Jahren mit Lobpreisungen der Kanzlerin.

    Auch wenn es im Grundgesetz anders steht, tatsächlich bestimmt Friede Springer die Grundlagen der Politik in Deutschland. Gerade konnten wir das – was selten genug vorkommt – ungefiltert erleben:
    Es genügt die Andeutung einer Kampagne in der BILD, und Frau Merkel kommt doch zur Beisetzung der in Kundus getöteten Soldaten statt wie geplant ihren Osterurlaub fortzusetzen.

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    Liebe Frau Heckel,
    nachdem ich mir ganz sicher bin, daß Sie analytisch denken können, kann ich Ihren Schlussfolgerungen nicht immer folgen.
    Die FDP ist mit der „Steuergerechtigkeit“ als Hauptpunkt nicht nur in den Wahlkampf, sondern auch die neue Koalition eingezogen. Denn vernunftbegabten Bürger hat das tatsachlich sehr beunruhigt, anläßlich unserer Staatsverschuldung.

    Wenn Frau Merkel damit gerechnet hat, daß die genachten Versprechungen der FDP in der Realität nicht umsetzbar sind – ist dann nicht eigentlich die ganze Koalition, unter diesen Voraussetzungen, eine große Lüge?
    Was hat das eigentlich noch mit analytischem Denken zu tun?

    Abgesehen davon, eine Demokratie lebt vom Meinungspluralismus, die von Ihnen geschilderten „Inszenierungen“ gehören dazu, wie das Salz in der Suppe. Die Vorgehensweise von Frau Merkel erinnert immer mal wieder an einen Führungsstil in weniger demokratischen Ländern, den nicht nur ich in unserem Lande nicht haben möchte!Nichts sagen und die Menschen immer wieder im Unklaren lassen.

    Herr Komarowski nach nach seinem Gewinn bei den Vorwahlen einen Satz von sich gegeben, dessen Umsetzung ich mir z.B. von unserer Kanzlerin wünschen würde.
    „Ich sehe meine vordringlichste Aufgabe darin, die Bürger vor einem allmächtigen Staat zu schützen.“

  3. avatar

    .. charmanter kann ‚Unnütze Beliebigkeit‘ nicht umschrieben werden. Oder?

    Wie wär‘ ’s mit ‚ACTION‘ in D – und nicht in Hollywood??

    ‚Sie (Fr. Merkel) haben die historische Chance, die verheerenden und unverantwortbaren Fehler Ihrer Amtsvorgänger zu korrigieren, Europa und Deutschland wieder auf den richtigen Weg zu bringen und als “Angela die Große” in die Geschichtsbücher der europäischen Nationen einzugehen. Nützen Sie sie!”‘

    http://www.dr-hankel.de/brief-.....regierung/

    .. nun ja, die Hoffnung stirbt zuletzt, meint mein Hamster

  4. avatar

    Tja, die FDP ist eine noch größere Umfallerpartei als die SPD, und dennoch haben sie inzwischen fast gleiche Anteile. Beide Parteien weichen extrem von ihren Wahlversprechen ab wie keine andere. Nur die CDU steht eisern im Wind, zieht alles durch, was sie angekündigt haben (mal abgesehen von Zwischenfällen wie Bild-Schlagzeilen über Frau Merkel) – und das erschreckende daran ist: Die CDU sagt vorher, wie schlecht es uns mit ihr gehen wird, und wird trotzdem gewählt. Die CDU hat ein Programm, bei dem man sich nur an den Kopf fassen kann und außer ein paar Prozent, die davon profitieren, dürfte es eigentlich keinen geben, der das freiwillig in Kauf nimmt.

    Die Erfahrung lehrt uns, dass das deutsche Stimmvieh leider nix von irgendwas lernt und weiterhin das Kreuz dahin macht, wo es es ja schon immer getan hat. Die einen freuen sich, „dass endlich mal was gegen Kinderpornografie getan wird“, die anderen finden eine Frau als Kanzlerin ganz sexy.

    Die fachliche Kompetenz oder irgendwelches analytisches Denken geht da an der Öffentlichkeit vorbei. Ich wäre ja schon froh, wenn die Leute überhaupt nachdenken würden, welcher Partei sie ihre Stimme geben und warum.

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    Margarethe Heckel schrieb: Es widerspricht den gängigen Regeln der Inszenierung von Politik als ständiger Kampf unterschiedlicher Meinungen. Und es widerspricht auch der vermeintlichen Notwendigkeit der Medien, andauernd einen Politiker auf den anderen zu hetzen.

    Eine sehr guter und überfälliger Kommentar. Ich denke wir brauchen hier unabdingbar eine geistig-moralische Wende. Es wird so viel gesellschaftliche Energie für (medien-)inszenierte Konflikte vergeudet, die man angesichts der dringenden Probleme anderso braucht.

  6. avatar

    Lieber ein paar Monate schlechte Schlagzeilen in Kauf nehmen, als wertvolle Zeit mit Interventionen zu verschwenden, die sich letztlich als unnötig erweisen, weil sie sich selbst erledigen.

    Jaha! Man muss nur das nötige Vertrauen in die Große ??, in die kinderlose Mutti aller Deutschen haben: Deutschlands Probleme lösen sich von selbst!

    Die elementare Wahrheit der Großen kinderlosen Urmutter: „Wird schon irgendwie werden!“ – Wer könnte sie widerlegen?

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