Im Deutschen Bundestag herrscht zur Zeit eine Situation, wie wir sie in der bald 70-jährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland noch nie hatten: Von den sechs im Parlament vertretenen Parteien wollen vier (!) nicht regieren. Drängten in früheren Zeiten alle Parteien an die Macht, gefallen sich heute alle bis auf CDU/CSU und Grüne in Verweigerung. Die Gründe sind natürlich je nach Partei verschieden. Die AfD weiß, dass sie nur als Bewegungspartei stark ist. Müsste sie sich auf Realpolitik einlassen, würde sie schnell entzaubert. Ähnlich geht es der Linken, die rückwärtsgewandt immer noch den (aussichtslosen) Protest gegen die Arbeitsmarktreformen Gerhard Schröders zelebriert und ihn gerne auch mit der Systemfrage verbindet. Sobald sie sich einer pragmatischen Politik öffnet, verliert sie an Zustimmung, wie es in diversen Bundesländern geschehen ist. Die FDP hat sich als staatstragende Partei, die sie immer war, vorerst auch abgemeldet. Wie man am Verlauf der Sondierungsverhandlungen sehen konnte, hat sich die FDP ohnehin nur widerwillig auf das Jamaika-Experiment eingelassen. Kurz bevor es zum Schwur hätte kommen müssen, hat sie – sichtlich erleichtert – die Reißleine gezogen. Der Ausstieg war dilettantisch inszeniert. Die Presseerklärung der FDP ging schon an die Medien, als die Jamaika-Unterhändler noch in gemeinsamer Runde saßen. Auch der Schlusssatz des Lindner-Statements „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“ war auf der Homepage der FDP schon Tage vor dem Abbruch der Verhandlungen zu lesen. Hätte die FDP wirklich inhaltliche Gründe für ihren Ausstieg gehabt, hätte sie ihrem Hauptkontrahenten, den Grünen, ein Ultimatum stellen müssen: „Entweder Ihr lenkt bei der Klimapolitik (der Energie- oder der Flüchtlingspolitik) ein, oder wir beenden die Sondierung“. So bleibt der Eindruck, die FDP hätte nur aus Angst vor der Regierungsverantwortung das Weite gesucht. Christian Lindner kann man sich als Minister, der beharrlich und ohne Effekthascherei seine Arbeit verrichtet, ohnehin nicht vorstellen.
Mitleiderregend ist die Situation der SPD. Sie wollte sich bequem in der Wärmezone der Opposition einrichten, sich programmatisch und personell regenerieren, um nach dem Muskelaufbau zu alter Stärke zurückzufinden. Jetzt wird sie von den Verhältnissen gezwungen, die Reha vorzeitig zu verlassen und sich mit der Frage einer erneuten Großen Koalition zu beschäftigen. Auffällig waren die handwerklichen Fehler des Parteivorsitzenden Martin Schulz, die zeigen, dass er für das schwierige politische Geschäft in der Hauptstadt vielleicht doch nicht die nötige Cleverness besitzt. Um seine Macht als Vorsitzender abzusichern, zwang er unmittelbar nach dem Scheitern von Jamaika dem Parteivorstand in einem Schnellschuss die Verpflichtung zu Neuwahlen ab, obwohl bereits absehbar war, dass diese Ohne-uns-Haltung nicht lange würde durchzuhalten sein. Schulz hatte über die Köpfe des Hauptakteurs – der SPD-Bundestagsfraktion – hinweg etwas dekretiert, was nicht nur in das freie Mandat der Abgeordneten eingreift, sondern sie auch beruflich-existentiell betrifft. Entsprechend lautstark war der Protest, der Schulz bei der Sitzung der Bundestagsfraktion entgegenschlug. Schulz hatte seine Partei auf Neuwahlen verpflichtet, ohne geklärt zu haben, mit welcher Machtperspektive sie in den Wahlkampf ziehen wollte. Hätte sie wirklich mit der Ankündigung, auf alle Fälle in die Opposition zu gehen, vor das Wahlvolk treten können? Kein Mensch wählt eine Partei, die zu erkennen gibt, dass sie gar nicht daran interessiert ist, ihr eigenes Wahlprogramm durchzusetzen. Auf eine rot-rot-grüne Mehrheit mit einem Kanzler Schulz zu hoffen, wäre nach dem letzten Wahlergebnis, das für dieses Dreierbündnis nicht einmal 40 Prozent der Stimmen brachte, ohnehin völlig illusorisch.
Alle Verweigerungsparteien verkennen, dass unsere Verfassungsordnung daraufhin angelegt ist, nach der Wahl des Parlaments möglichst schnell eine starke Regierung zustande zu bringen. Die Abgeordneten des Parlaments werden gewählt, damit sie ihrerseits den Kanzler wählen, der dann eine Regierung bildet. Art. 63 GG lässt sogar zu, dass ein Kanzler nur mit einfacher Mehrheit, also ohne absolute Mehrheit, gewählt werden kann. Eine Minderheitsregierung wäre also durch die Bestimmungen des Grundgesetzes gedeckt. Dass unsere Verfassungsordnung so viel Wert auf das Zustandekommen einer Regierung legt, hat historische Gründe. Die Weimarer Ordnung krankte an dem ausgeprägten Egoismus der im Reichstag vertretenen Parteien. Kompromisse galten ihnen als „Verrat am Wähler“. Ähnlich hat es Christian Lindner in jener denkwürdigen Nacht vor der Presse formuliert. Harmlos anmutende Verweigerungen führten zu fatalen Konsequenzen. Der sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller führte von 1928 bis 1930 relativ erfolgreich eine Große Koalition aus SPD, DDP, Zentrum, BVP und DVP. Die Koalition zerbrach, als sich die SPD weigerte, einem Kompromissvorschlag des Zentrums zur Sanierung der Arbeitslosenversicherung zuzustimmen. Das Kabinett Müller war die letzte „normale“ parlamentarische Regierung der Weimarer Republik. Die nachfolgenden Kabinette regierten mit Hilfe der Notverordnungsvollmachten des Reichspräsidenten. Auf eine parlamentarische Mehrheit waren sie nicht mehr angewiesen. Die traurige Ironie der Geschichte liegt darin, dass die SPD anschließend die Regierung von Heinrich Brüning (Zentrum) als „kleineres Übel“ tolerierte, obwohl diese viel grausamere Reformen durchsetzte, als sie Heinrich Müller zuvor zugemutet worden waren. Die Folgen sind bekannt: Die Republik geriet auf die abschüssige Bahn, die im Januar 1933 in die NS-Diktatur mündete. Wie man sieht, hat Gesinnungsethik ihren Preis.
Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben wohldurchdachte Konsequenzen aus dem Scheitern der Weimarer Demokratie gezogen: Der Präsident sollte nur noch rein notarielle und repräsentative Vollmachten haben. Dafür bekommt der Kanzler eine starke Stellung, um seine Politik auf der Basis einer mehrheitsfähigen Koalition durchsetzen zu können. Art. 63 regelt das Prozedere der Kanzlerwahl. Art. 38 nimmt die Abgeordneten in die Pflicht, falls sie vergessen sollten, wem sie wirklich verantwortlich sind: „Sie sind Abgeordneten des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen verantwortlich“. Dieser Satz ist der verantwortungsethische Grundbaustein unserer parlamentarischen Ordnung. Wenn die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, sagt, die SPD sei nicht dazu da, die Scherben, die ihr Angela Merkel vor die Füße gekippt hat, zusammenzukehren, zeigt sich darin eine eklatante Unkenntnis (oder Missachtung?) unserer Verfassungsordnung. Dass eine solche Äußerung gerade von einer ostdeutschen Politikerin stammt, ist schon ziemlich peinlich. 27 Jahre nach der Wiedervereinigung sollte man eigentlich das Wesen unserer Demokratie verstanden haben.
Nach Lage der Dinge führt kein Weg an einer Neuauflage der Großen Koalition vorbei. Die SPD wird sich nach einigen verbalen Verrenkungen zu ihrer staatspolitischen Verantwortung, die ihr eigentlich immer eigen war, bekennen. Natürlich wird sie den Preis hochtreiben, wie in einigen Wortmeldungen bereits zu hören war. Eine vierwöchige Verhandlungsrunde sollten die alten und neuen Partner dem Wahlvolk allerdings ersparen. Die letzten vier Legislaturperioden haben gezeigt, dass kleinteilig festgezurrte Koalitionsverträge allzu oft von überraschend eintretenden Großereignissen wie der Weltfinanzkrise, der Eurokrise, der Ukraine-Krise, der Staatschuldenkrise und der Flüchtlingskrise in den Hintergrund gedrängt werden. Es würde genügen, folgende Essentials verbindlich festzuschreiben:
- Es sollte alles vermieden werden, was die Wirtschaftskraft unseres Landes und damit Wohlstand und Beschäftigung gefährdet. Das bedeutet Augenmaß bei der Energiewende, beim Kohleausstieg und bei der Neuausrichtung unserer Mobilität.
- Schwarze Null und Schuldenbremse sollten nicht in Frage gestellt werden. Investitionen sind aus dem laufenden Haushalt zu finanzieren.
- Die Europäische Union sollte zur Verantwortlichkeit der Mitgliedsstaaten zurückkehren, was eine Schulden- und Transferunion ausschließt.
- Der Zustrom von Flüchtlingen sollte endlich in den Zustand gesicherter rechtlicher Grundlagen überführt werden. Dazu gehört die strikte Trennung von Asylgewährung für Berechtigte (ohne Obergrenze) und die Limitierung und Auswahl von Migranten mit wirtschaftlichen Ambitionen (Kontingente nach einem Punktsystem). Dazu gehört auch die Abschiebung von Migranten ohne Bleibeberechtigung.
- Innere Sicherheit sollte den Stellenwert bekommen, der ihr zum Wohle der Bevölkerung gebührt. Nur in einem sicheren Land kann man gut leben.
Es lohnt sich, den Politikverweigerern die Definition von Verantwortungsethik ins Gedächtnis zu rufen, die Max Weber im Jahre 1919 formuliert hat. Verantwortungsethik ist für ihn die Maxime, dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“ („Politik als Beruf“) Wer durch Verweigerung eine Staatskrise heraufbeschwört, muss sich für deren Folgen verantworten.
Schulz hat ja in seiner letzten Büttenrede stolz posaunt: „Ich strebe garnix an.“
Die Merkel strebt zwar an, aber man weiß nicht wieso und wohin. Und die Grünen wollen die Weltherrschaft. Die neue Kroll-Oper ist mal wieder mit Irren besetzt.
Echt jetzt? Die Grünen streben die Weltherrschaft an? Obwohl das bislang immer gescheitert ist – an Amerikanischen Superhelden, an Britschen Geheimagenten, an einer Französischen Einmannarmee oder an der Inkompetenz des Sidekicks.
Und auch bei den Grünen muß wohl die Inkompetenz herrschen: Sie wollen den Flugverkehr einschränken und auf die Chemtrails verzichten. Also sowas!
O.K., Opa Krempel die Versuchung scheint groß zu sein, vermeintliche Anhängern von Verschwörungstheorien nicht ernst zu nehmen, allerdings schlägt i.d. (evolutionären) Regel Bauchgefühl Intelligenz: Natürlich streben die Grünen die Weltherrschaft an – wie sollen sie sie sonst retten?
Die Grünen wollen nicht das böse Deutschland regieren, sie wollen den Planeten. Das sagt die Predigerin Göring in jeder ihrer Leiern. Und zwar nicht auf der Holzkiste im Park, wo sie hingehört, sondern vor den großen Augen und Micros der BRD-Dschurnalisten.
„Die Abgeordneten des Parlaments werden gewählt, damit sie ihrerseits den Kanzler wählen, der dann eine Regierung bildet.“
Sie haben das Problem zwar benannt, aber scheinbar gar nicht erkannt.
Nach der Verfassung wird zuerst der Kanzler gewählt, der dann seinerseits eine Regierung bildet. Diese Regierung erstellt den Bundeshaushalt und sucht sich dafür eine Mehrheit im Bundestag, oder die Mehrheit des Bundestages ändert den Haushalt in ihrem Sinne.
Ansonsten ist eine Regierung nicht zwingend von Nöten. Die Verwaltungen von der kommunalen Ebene über die Länder bis zu den Bundesbehörden können anhand der bestehenden Rechtsordnung ihre Arbeit problemlos weiter erledigen.
Für die Gesetzgebung ist eh der Bundestag, allein oder zusammen mit dem Bundesrat, zuständig, die Bundesregierung ist nur für die Umsetzung dieser Gesetze zuständig.
Wenn es gilt, neue Entscheidungen zu treffen, kann die Bundesregierung – auch eine geschäftsführende – Initiativen ergreifen und sich dafür Mehrheiten im Bundestag suchen.
Bei den jetzt gescheiterten Sondierungen und den noch kommenden Koalitionsverhandlungen geht es aber um etwas, das von der Verfassung so gar nicht vorgesehen ist:
Parteien verhandeln darüber, wie frei gewählte und unabhängige Bundestagsabgeordnete sich in den nächsten vier Jahren zu verhalten haben, es wird ihnen quasi das Abstimmungsverhalten vorgeschrieben.
Die Koalitionsverträge aus der Vergangenheit gingen ja teilweise noch ein Stück weiter, selbst das Abstimmungsverhalten im Bundesrat wurde darin geregelt.
Deshalb sind ja Leute wie Seehofer, Kretschmann oder Dreyer in diesen Verhandlungen dabei gewesen. Die haben dort nichts verloren, die haben wenn eine Abstimmung ansteht nach den Interessen ihres Bundeslandes abzustimmen.
All das ist nicht nur in der Verfassung nicht vorgesehen, das ist krass verfassungsfeindlich.
… Freunde, die stabile Mehrheit steht seit März 2017. + FDP, wo ist das Problem?
Das kann man so sehen, muß es aber nicht. Wer des SPD jetzt zum Vorwurf macht, daß sie die Oppositionsrolle annimmt, und sie in einen Topf mit der FDP wirft, übersieht ein paar wichtige Punkte:
1. Die SPD ist die einzige Partei neben der CDU, von der man erwartet, daß sie die Kanzlerschaft anstrebt. Bei der FDP war das nur einmal während der Ära Möllewelle so, ist aber vor die Wand gefahren. Von FDP und Grünen, mit Abstrichen auch von den Linken, erwartet man, daß sie Akzente setzen, nicht aber den Ton angeben. Womit wir beim zweiten Punkt sind:
2. Wenn eine Partei mit dem Anspruch, den Kanzler zu stellen, antritt und derart krachend scheitert – mit deutlich unter 30 % Zustimmung weit abgeschlagen auf dem zweiten Platz landend – hat sie keinen Auftrag zur Regierungsbildung, egal, was die Kommentatoren davon halten. Unter diesen Voraussetzungen in die Regierung zu drängen, ist eine Mißachtung des Wählerwillens; hätten die Wähler die SPD 2013 oder 2017 im Bund oder die CDU 2001 in Hamburg in der Regierung haben wollen, hätten sie anders gewählt. Im Gegensatz dazu: Eine Klientel- oder Funktionspartei mit dem Selbstverständnis eines Mehrheitsbeschaffers hat diesen Auftrag schon bei Überschreiten der Fünfprozenthürde.
3. Eine Demokratie lebt davon daß es Alternativen gibt (und damit sind nicht die Blaumiesen genannt, die von sich behaupten, die Alternative zu sein, aber in Wahrheit keine Verantwortung anstreben). In einer Demokratie muß es auf Dauer immer eine tragfähige Strömung geben, die auch nach Regierungsverantwortung strebt, aber eine andere Politik anbietet. Das war in der vergangenen Legislatur ein verlorenes Häuflein Grüner und jene Teile der Linken, die den alten Parteislogan „Veränderung beginnt mit Opposition“ abgelegt haben. Die SPD nun zu nötigen, in die Regierung einzutreten, sorgt dafür, daß abermals die Oppositionsrolle vornehmlich den Radikalen zufällt.
Sehe ich ähnlich, Herr Werner, wobei ich finde, dass die SPD in Ihrer Analyse zu schlecht wegkommt. Wir sollten der SPD dankbar sein, weil sie jetzt die einzige Kraft (außer der CDU/CSU) ist, die eine stabile Regierung ermöglicht.
Übrigens ist dieser Spruch „Lieber nicht regieren als falsch regieren“ in doppelter Hinsicht blöd. Erstens braucht ein Land wie Deutschland eine Regierung, und die Frage, ob diese Regierung nun gut oder schlecht ist bzw. richtig oder falsch regiert, ist sekundär (also: „lieber falsch regieren als nicht regieren“). Und zweitens ergibt sich, bezogen auf die Regierungsbeteiligung der FDP, dass die Regierung durch das Ausscheiden der FDP offenbar nicht schlechter wird. Denn das ist doch die Frage: Wird die Regierung mit der FDP-Beteiligung besser oder schlechter? Herr Lindner hat sie nun selber beantwortet.
Wirklich unfassbar ist aber die Tatsache, dass die Parteien AfD, FDP und (teilweise) die Linke sich in den Bundestag wählen ließen, nur um zu kommentieren und zu meckern. Die FDP muss man jetzt zu diesem Block hinzurechnen (ich weiß auch gar nicht, welche „Prinzipien“ die so hochhalten bzw. was die verbissenen Standpunkte mit Liberalismus zu tun haben – das ist doch ödeste Prinzipienreiterei zweier Machos). Ich hege die Hoffnung, dass auch im Wahlvolk ein solches Verhalten langfristig nicht gut ankommt und man irgendwann wieder die Verantwortlichkeit einer Regierung honorieren wird, wenn alle anderen nur billig und gut dotiert meckern.