avatar

Das konservative Manifest

Ein Beitrag von Harald Stollmeier – Zugleich eine Duplik auf Alan Posener

Vorbemerkung: Kritik ist ein Kompliment

Wenn im öffentlichen Diskurs alle einer Meinung wären, müsste man misstrauisch werden. Denn die Demokratie lebt vom Widerstreit unterschiedlicher Ansichten. Das Mindeste, was Widerspruch leistet, ist, uns zu besseren Argumenten herauszufordern. Kommt der Widerspruch von einem der Großen der Zunft, ist er außerdem ein Kompliment: Es freut mich deshalb, dass Alan Posener (erneut) eigens meinetwegen einen Essay, genauer eine Replik zu meinen jüngsten Überlegungen zur Zukunft des Konservatismus hier auf dieser Plattform geschrieben hat, einen unterhaltsamen noch dazu.

Als Widerlegung meines Essays ist er allerdings nur bedingt geeignet, weil er zum Teil Thesen angreift, die bei mir gar nicht zu finden sind; Aussagen über Analverkehr zum Beispiel wird man bei mir vergeblich suchen. Vor allem aber muss ich, bevor ich meine Haltung es mit besseren (oder besser verständlichen) Argumenten zu erläutern versuche, drei Missverständnisse ausräumen.

Erstens steht in der Präambel des Grundgesetzes nicht „christlich“; der Gottesbegriff ist dort, wahrscheinlich bewusst, so allgemein gehalten, dass er unterschiedlich konkretisiert werden kann. Das ist weise, weil es an dieser Stelle nicht um Religion geht, sondern um den Staat und darum, dass er eben nicht die allerhöchste Autorität ist. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates hatten erst kurz zuvor erlebt, wozu ein Staat, nämlich der nationalsozialistische, imstande ist, der sich für die höchste Autorität hält.

Zweitens beschreibt der von Posener vertretene Grundsatz „If it’s not broke, don’t fix it“ nur einen Teil der konservativen Haltung. Unverzichtbar gehört Gilbert K. Chestertons Hinweis dazu, dass ein weißer Pfosten, wenn man ihn sich selbst überlässt, garantiert nicht weiß bleibt: Das „not broke“ ist nicht nur an der Abwesenheit von Beschwerden zu messen, sondern auch am ursprünglichen Sollen.

Der Begriff „Naturrecht“ führt zu Spannungen, der Inhalt hingegen ist wichtig

Drittens löst der Begriff „Naturrecht“ bei manchen Mitmenschen Reaktionen aus, die eher dem Begriff gelten als seiner Bedeutung. Lassen wir den Begriff deshalb einmal beiseite: Inhaltlich geht es darum, dass wir Menschen Gut und Böse zwar unterscheiden können, also erkennen (und ggf. besser erkennen), aber ändern können wir beides nicht. Gut und Böse sind unserer Definitionsmacht entzogen. Jeder Mensch kann das Gute und das Böse erkennen, aber kein Staat kann beide neu bestimmen, auch kein demokratischer Staat, nicht einmal einstimmig. Auf lange Sicht gehen politische Systeme, die das Böse versuchen zu etablieren, meistens zugrunde und werden zu Recht aus demokratischer Sicht verachtet. Beispiele dafür ging es genug in der Geschichte. Wo nur noch das Recht des Stärkeren, gilt, nicht aber die Menschenwürde, ist das Gute nicht mehr zu sehen. Wo Gut und Böse nicht mehr klar unterschieden werden (C. S. Lewis nennt es das „Tao“), gelangt man im günstigsten Fall zum Rechtspositivismus und hat gegen etwaige Nürnberger Rassegesetze nichts mehr in der Hand. Natürlich kann man auch Naturrechtsvorstellungen missbrauchen – auch insofern gilt wie so oft, dass allein eine Handhabung in Demut konservativ ist.

Zehn konservative Thesen

Vielleicht kann man das, was heutzutage als im positiven Sinne konservativ gelten kann und insoweit zukunftsfähig ist, wie folgt in zehn Thesen umreißen:

  1. Konservativ bedeutet nicht, dass sich alles nur langsam ändern darf. Konservativ bedeutet, dass sich manche Dinge überhaupt nicht ändern, dass es ewige Wahrheiten gibt. Eine davon ist die Unantastbarkeit der Menschenwürde.
  2. Gut und Böse sind Kategorien, die wir vorfinden. Grundsätzlich haben alle Menschen die Fähigkeit, diese zu erkennen und zu unterscheiden. Ändern kann sie niemand, ändern kann sie somit auch kein Staat.
  3. Deshalb ist auch der Staat nicht nur an seine eigenen Gesetze gebunden, die er ja ändern kann, sondern an diesen unveränderlichen Maßstab von Gut und Böse.
  4. Gesetze sind nicht automatisch gerecht. Gesetze können Unrecht sein.
  5. Da Gut und Böse unveränderlich sind*, gelten die Menschenrechte immer und überall**: Jeder Mensch hat sie, egal wann, egal wo. Sklaverei war auch schon ein Unrecht, als sie im Abendland noch üblich war, und Rassismus ist und bleibt ein Unrecht, egal wo er praktiziert wird.
  6. Während die Menschenrechte überall gelten, sind Bürgerrechte (und Bürgerpflichten) begrenzt. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Staat bzw. Staatsvolk ist an Voraussetzungen gebunden. Allerdings muss der Maßstab, der angelegt wird, für alle Betroffenen derselbe sein.
  7. Der Staat hat Rechte und Pflichten. Doch seine Zuständigkeit hat Grenzen. Die Menschen, die auf dem Territorium des Staates leben, haben grundsätzlich das Recht, ihre eigenen Angelegenheiten zu regeln, auch das Recht, sich zu diesem Zweck zusammenzuschließen. Im Zweifel soll der Staat bzw. die jeweils übergeordnete Ebene nur tätig werden, wenn die untergeordnete Ebene überfordert ist (Subsidiaritätsprinzip).
  8. Die elementarste menschliche Gemeinschaft ist die Familie. Der Staat darf nur in sie eingreifen, wenn die Menschenrechte von Familienangehörigen nachhaltig bedroht sind.
  9. Der Staat soll Gott achten (Präambel des Grundgesetzes). Aber der Staat ist nicht religiös, und insbesondere ist er keine religiöse Autorität.
  10. Im Zuständigkeitsbereich des Staates müssen Änderungen gut begründet werden.

Schlussbemerkung: Mit Konservativen leben

Dieses Manifest beruht auf der christlichen, ja sogar der katholischen Sicht des Naturrechts. Aber niemand braucht, um die Unveränderlichkeit von Gut und Böse anzuerkennen, einen religiösen Glauben.

Die hier vorgetragene Grundlage für eine konservative Politik ist nicht identisch mit der Forderung, alle Menschen müssten konservativ sein. Denn wer konservativ ist, erkennt unweigerlich die Menschenrechte an, zu denen das Recht auf Glaubensfreiheit gehört, also das Recht, andersdenkend zu sein. Mit Konservativen, die sich an dieses Manifest halten, müssten deshalb alle Menschen leben können, denen die Offene Gesellschaft recht ist.

Mit Konservativen, die sich an dieses Manifest halten, müssten deshalb alle Menschen leben können, denen die Offene Gesellschaft recht ist.

*. Unter religiösen Menschen wird darüber diskutiert, ob der allmächtige Gott Gut und Böse neu definieren kann (Nominalismus). Diese Debatte ist erheblich sinnloser als die Frage nach Gottes Fähigkeit, einen Felsen zu erschaffen, den er nicht hochheben kann. Denn wenn Gott das Gute, Wahre und Schöne definieren könnte (und es nicht etwa Ausdruck seines Wesens ist), dann hätte er das bereits getan.

**. Wenn Menschen die Menschenrechte verweigert werden, geschieht es das meist, indem man den Betroffenen die volle Zugehörigkeit zur Menschheit abspricht („Untermenschen“, „Ausbreitungstypus“, „Zellhaufen“).

 

Harald Stollmeier hat Geschichte, Englisch und Volkskunde studiert. Er hat das Pressesprecherhandwerk bei Krupp erlernt und übt es heute bei einer Krankenkasse aus. Außerdem ist er (katholischer) Blogger und Märchenautor.

Bild: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung.

Shares
Folge uns und like uns:
error20
fb-share-icon0
Tweet 384

4 Gedanken zu “Das konservative Manifest;”

  1. avatar

    Lieber Alan Posener,
    in der Tat wäre ich angenehm überrascht, wenn meine Essays eine prägende Wirkung hätten. Ich sehe in Ihnen einen – in der deutschen Debatte allerdings notwendigen – Diskussionsbeitrag.
    Das „Burke“-Manifest könnte ich nicht uneingeschränkt unterscheiben, obwohl ich vieles darin richtig finde. Denn erstens fehlt mir die Unterscheidung von Recht und Gesetz, und zweitens finde ich den vertretenen Nationalismus zu blauäugig; spätestens seit dem Bosnienkrieg sollte klar sein, an welche Grenzen das Selbstbestimmungsrecht der Völker stößt. Übrigens finde ich es auch … unglücklich, dass die Zurückweisung des Rassismus anscheinend nur den Staat binden soll. Da ist meine eigene Erklärung umfassender.
    Freundliche Grüße
    Harald Stollmeier

  2. avatar

    “Gut und “Böse” unveränderlich?
    Nein, die sind sehr wandelbar je nach weltanschaulichen, religiösen, kulturellen, historischen, politischen und persönlichen Hintergründen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Shares
Scroll To Top