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Ach, der Mensch kann so gründlich vergessen, dass Mensch er doch ist !

Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das gegen die Natur und damit auch seine Natur aufsteht, aufzustehen hat. Er muss seine Triebe der Idee der Menschheit unterordnen, hat der gute alte Kant gesagt. Sonst ist er halt nur ein Tier in Hosen und manchmal halt eine Bestie. Der Mensch ist ein Projekt gegen die Natur. Ich habe diesen Gedanken immer gemocht. Und verstehe ihn mit jedem Terrorakt besser.
 
Wir behandeln uns als Menschen, wenn  wir den anderen respektieren als Idee der Menschheit in ihm. Auch wenn er ein Arschloch ist. Oder anderen, für mich falschen, Glaubens. Oder einer ungeliebten Rasse zugehörig. Oder aus Feindesland. Wir verlieren unsere Würde, wenn wir sie anderen nehmen. Das lässt sich nicht relativieren. Darum gibt es das absolut Böse. Darum behandeln wir selbst das Böse mit Respekt.
 
Reden wir von jenem jungen Franzosen arabischer Abstammung („le petit arabe“), der in den Vororten, die Monsieur le Président Nicolas Sarkozy mit dem Kärcher vom Gesindel reinigen wollte, aufwuchs und zum Mörder wurde. Was ist der Fall Mohamed Merah? Ein Fall, der uns über Islamismus nachdenken lässt? Mag sein, mag nicht sein.
 
Ein junger Mann glaubt, der Sache seiner Religion zu dienen, indem er ein Schulmädchen am Zopf fasst und es mit der anderen Hand exekutiert? Er glaubt, dass seine Rache eine heilige sei, weil er glaubt, dass seine Religion es zulasse oder gar wünsche, dass die Ungläubigen zu töten seien. Selbst wenn. Denn der Bezug des Täters auf den Islam und Al Kaida ist nur eine Rechtfertigungspose.
 
Was ist uns der Fall des Mörders Merah? Ein Verbrecher aus verlorener Ehre? Schon Schiller hat uns Verständnis und Mitgefühl mit einer Devianzkarriere seiner Zeit einpflanzen wollen. Sollen wir in unseren Herzen den Verlust von gemeuchelten Soldaten, den Schulmädchen und ihres Rabbi verschmerzen, weil es auch der arme Mohamed nicht leicht hatte? Erst im falschen Viertel geboren, pubertärer Suizidversuch, dann Koranlektüre, bei der Fremdenlegion nicht aufgenommen, in Pakistan auch noch Gelbsucht gekriegt. Irgendwie lief es nicht super für ihn.  „Selbst als Dschihadist bekam er nichts auf die Reihe“, urteilt der SPIEGEL.
 
Alles verzeihen, weil wir alles verstehen? Alle Verständnisversuche sind von großem moralischen Elend. Sie blamieren sich als der naive Versuch, dem Bösen eine gute Kehrseite abzuringen. Manche sind auch noch politisch bescheuert. Die EU-Außenministerin Lady Ashton (Labour) verging sich so: „Wenn wir daran denken, was heute in Toulouse passiert ist, erinnern wir uns daran, was letztes Jahr in Norwegen passiert ist, wir wissen, was momentan in Syrien passiert und wir sehen, was in Gaza und an anderen Orten passiert, wir denken an junge Menschen und Kinder, die ihr Leben verloren haben.“ Was soll das meinen? Die französischen Juden müssen sich nicht wundern, wenn ihre Töchter auf dem Schulhof abgeschlachtet werden, wenn man die menschenverachtende Politik Israels im Gaza sieht? Hallo?
 
Ein normaler Fall von Antisemitismus, wie der deutsche Jude Henryk M. Broder mit tiefer Bitterkeit in der WELT konstatiert? Er hat die Autorität zu solchen Urteilen, weil er sich fragen darf, „warum Mutter Broder im Lager“ war. Ein großer Zyniker, der oft übertreibt, aber eben auch mit dem aufklärerischen Recht des Satirikers. Aber auch das ist zu perspektiviert. Nichts wäre wirklich besser, wenn es nicht-jüdische Schulmädchen gewesen wären. Wir fragen also: Gibt es das absolut Böse. Und die Antwort lautet: offensichtlich.
 
Allerdings wird man dem Bösen nicht mit gleichen Waffen gerecht. Der Migrant Sarkozy hat sich durch die populistische Rhetorik der Kärcherei hinreichend diskreditiert und wiederholt es mit anderen Thesen zur Überfremdung. Da beginnt schon wieder moralischer Relativismus, der der Faschistin Madame Le Pen Wind unter die Flügel bringt. Historiker wissen, dass sich ganze Staaten dem Bösen verschreiben können. Auch mein Vaterland hat sich dereinst dem Völkermord verschrieben.
 
Eigentlich ist es einfach: Menschen bringen sich nicht gegenseitig um. Das macht uns zu Menschen. Das wirklich ernste Gebot unter den zehnen, die Moses angeschleppt hat, heißt: „Du sollst nicht töten!“ Selbst wenn es davon eine Ausnahme geben sollte, sagen wir in Notwehrsituationen, so kann diese zwar straffrei sein, aber niemals moralisch erhaben. Wir respektieren im Menschen die Idee der Menschheit. Oder wir verlieren unsere eigene Würde.
 

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5 Gedanken zu “Ach, der Mensch kann so gründlich vergessen, dass Mensch er doch ist !;”

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    „Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das gegen die Natur und damit auch seine Natur aufsteht, aufzustehen hat. Er muss seine Triebe der Idee der Menschheit unterordnen, hat der gute alte Kant gesagt. Sonst ist er halt nur ein Tier in Hosen und manchmal halt eine Bestie.“

    Sie haben einen eigenen Kommentar dazu verdient. Eine großartige Betrachtung. Ich betrachte den Menschen eher als ein paar Schuhe. Einer ist gut, der andere böse. Ein schizoides Wesen im Grunde, was man auch oft an sich selbst betrachten kann, in sich schizoid, gut-böse oder schwarz-weiß.
    Das Tier dagegen ist keine Bestie. Ich habe eine Geschichte von einem Kletterer irgendwo in den Rockies gelesen, der auf eine Bärin mit Jungen stieß. In einem solchen Moment wird die Bärin zur Bestie, aber, wenn man es genau nimmt, ist hier der Mensch extrem unvernünftig, wenn er sich in abgelegene Bärengebiete begibt und dann noch ohne Gewehr. Ansonsten ist das Tier exakt zwischen diesen Schuhen angesiedelt und so verhält es sich auch.
    Wird ein Hund gut behandelt, wird er der beste Freund des Menschen, wird er getreten oder angekettet, wird er bissig.
    Was dieses schizoide Wesen betrifft, kann man es m.E. kaum heilen. Ich finde, dass man das am Nationalsozialismus hervorragend sieht. Das Volk, das Goethe, Schiller, Novalis, Höderlin, Beethoven, Kant, CDF etc. hervorbrachte, kippt um zur Bestie, die Juden totaleliminiert mit Methoden, die eher an die Milikaze erinnern, wenn sie die Buren angriffen.
    So bleibt nur, die Systeme zu beobachten und notfalls zu bekämpfen und am besten rechtzeitig.
    Was Merah betrifft: Wäre es nicht grundsätzlich möglich, Männer (oder selten Frauen), die ein Ausbildungslager in Af/Pak besuchen, nie wieder einreisen zu lassen? Das ist der einzige konstruktive Vorschlag, der mir dazu einfällt. Oder sie zumindest in den Knast zu bringen, also einen Straftatbestand daraus zu machen?

  2. avatar

    „Nur dadurch lebt der Mensch, daß er so gründlich
    Vergessen kann, daß er ein Mensch doch ist.“

    Ballade über die Frage: „Wovon lebt der Mensch“?

    Dreigroschenoper, Bertolt Brecht

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    Ich stimme völlig zu, insb. dem letzten Absatz, außer diesem Gedanken: „Alle Verständnisversuche sind von großem moralischen Elend. Sie blamieren sich als der naive Versuch, dem Bösen eine gute Kehrseite abzuringen.“

    Diesen Gedanken trifft man häufiger, aber er ist m.E. falsch: Verständnisversuche dienen vielleicht dazu, eine intellektuelle Irritation aus dem Weg zu schaffen, aber man möchte das Verbrechen damit nicht aufwerten und wertet es auch nicht auf. Die Alternative wäre Dämonisierung. Wir müssen uns schon um Verständnis bemühen und dem Verbrechen auf den Grund gehen; das sind wir auch den Opfern schuldig. Das ist das Einzige, was wir noch für sie tun können: die Taten, denen sie zum Opfer fielen, korrekt zu rekonstruieren und alle Hintergründe auszuleuchten. Die Alternative wäre, einfach nur den Vorhang zuzuziehen und alles zu vergessen.

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    K.K.: „Was soll das meinen? Die französischen Juden müssen sich nicht wundern, wenn ihre Töchter auf dem Schulhof abgeschlachtet werden, wenn man die menschenverachtende Politik Israels im Gaza sieht? Hallo?“

    Auf die Auslegung der Äusserungen Ashtons kommt nur, wer Vergeltungsaktionen in Gaza rechtfertigt.

    Meinen da manche etwa: die Leute in Gaza brauchen sich nicht zu wundern, wenn ihre Kinder getötet werden, nachdem man ihnen das Land gestohlen, sie eingepfercht, jeglicher Entwicklungsmöglichkeit beraubt, ihre Schulen und Infrastruktur periodisch zerstört und sie obendrein auch noch als Terroristen diffamiert hat.

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    Fleissaufgabe Herr Kocks, bitte.

    Was sind „die Natur“ oder gar „die Natur des Menschen“? Synthetische Begriffe, die der Philosoph so einfach in den Ring werfen kann oder haben Sie die Seite gewechselt zu den „Theologen“, für die sich alles intelligent von selbst zu erkennen gibt?

    Verstehen Sie meine Frage nicht falsch, aber Sie wollen sensibilisieren und das könnte zunächst einmal bei den Begriffen beginnen. In der Präambel des GG findet man „Natur“ auch ohne jede Vorbereitung, als wäre dieses Wort wie „Gott“ eine ausgemachte Sache. Noch schwieriger wird es mit der „Natur des Menschen“, oder wollen Sie uns hier nur etwas vor-gau(c)keln?

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