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Kritik der reinen Toleranz

Ich freue mich über jeden und jede, die für die offene Gesellschaft und die Meinungsfreiheit eintritt. Sie ist bei uns in keinem guten Zustand. Deshalb hat Harald Stollmeier Recht, wenn er dafür eintritt,  Karl Poppers offene Gesellschaft zu bewahren und festhält: „Wir müssen bloß begreifen, dass wir sie für die Anderen zu bewahren haben. Für uns selbst bewahren wir sie automatisch mit.“ Und doch hat Popper selbst einen entscheidenden Vorbehalt gegen die Freiheit für die Andersdenkenden formuliert, auf den Stollmeier nicht eingeht. Der ist aber wichtig.

Zwar nicht das einzige, aber doch ein zentrales Argument Stollmeiers lautet: „Die Alternative, pardon: die einzige Alternative zu gleichem Recht für alle ist letztlich das Recht des Stärkeren. Damit kann man leben, wenn man der Stärkere ist. Wenn man aber sicher sein will, der Stärkere zu bleiben, und das will man vernünftigerweise, wenn man den Schwächeren ihr Recht nicht mehr gönnt, dann beginnt eine totalitäre Eigendynamik: Denn man muss dann die Schwächeren konsequent weiter schwächen, damit sie nicht eines Tages Rache nehmen können.“

Das ist das „do ut des“ Prinzip: Ich gebe, damit du gibst. Nicht zufällig ist „des“ allerdings ein Konjunktiv: „du mögest geben“. Es drückt eine Hoffnung aus, keine Wirklichkeit. Konkret: Im normalen, parlamentarischen Spiel der Kräfte führt ein Regierungswechsel nicht dazu, dass die abgewählte Partei unterdrückt wird. Sie bleibt frei, mit allen legalen Mitteln für die Rückkehr an die Macht zu kämpfen. Das ist Poppers Falsifizierungsprinzip, das bezogen auf den Staat sagt: Demokratie ist die Möglichkeit, eine Regierung ohne Gewalt loszuwerden.

Toleranz für die Intoleranten?

Aber wir kennen aus Deutschland den Fall, dass eine Partei, einmal an der Macht, die Mittel des Staates einsetzt, um Bedingungen zu schaffen, unter denen es nicht mehr möglich ist, sie mit friedlichen Mitteln zu stürzen. Seit dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 war Deutschland eine Diktatur. Die Machtergreifung der Kommunisten in Ost-Berlin und Prag, der Mullahs in Teheran und der Muslimbrüder in Kairo sind weitere Beispiele.  Das heißt: Faschisten und Kommunisten – und Islamisten – respektieren das Prinzip des „do ut des“ nicht. Sie fordern für sich Meinungsfreiheit. Wenn sie an der Macht sind, verweigern sie ihren Gegnern jegliche Freiheit.

Daraus zog Popper in seinem Buch “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ den Schluss: “Unlimited tolerance must lead to the disappearance of tolerance. If we extend unlimited tolerance even to those who are intolerant, if we are not prepared to defend a tolerant society against the onslaught of the intolerant, then the tolerant will be destroyed, and tolerance with them. — In this formulation, I do not imply, for instance, that we should always suppress the utterance of intolerant philosophies; as long as we can counter them by rational argument and keep them in check by public opinion, suppression would certainly be unwise. But we should claim the right to suppress them if necessary even by force; for it may easily turn out that they are not prepared to meet us on the level of rational argument, but begin by denouncing all argument; they may forbid their followers to listen to rational argument, because it is deceptive, and teach them to answer arguments by the use of their fists or pistols. We should therefore claim, in the name of tolerance, the right not to tolerate the intolerant.”

Und was folgt daraus?

Dieses “Paradoxon der Toleranz” ist nicht auflösbar. Es ist allerdings keine direkte Anleitung zum Handeln. Ob und wann die Weimarer Republik die NSDAP und die KPD hätte verbieten können oder sollen, kann man im Nachhinein schwer sagen. Aber man kann mit einiger Sicherheit sagen, dass eine vorübergehende Militärdiktatur 1933, die Kommunisten und Nazis in KZ eingesperrt und erst nach und nach und unter Auflagen freigelassen hätte, uns und der Welt viel Leid erspart hätte. Vermutlich ist auch die Militärherrschaft Abd-al Fatah as-Sisis einer Theokratie der Muslimbrüder vorzuziehen, aber schon da bin ich mir nicht ganz so sicher.

Poppers Paradoxon diente in der Bundesrepublik Deutschland in den 1950er Jahren zur Begründung der „wehrhaften Demokratie“, etwa in Gestalt des KPD-Verbots 1956. Man kann es missbrauchen zur Begründung einer illiberalen Demokratie – etwa wenn man das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung der Frau, mithin der Intoleranz, verbietet. Dagegen muss man festhalten, dass Popper im Grunde genommen taktisch argumentiert: Intolerante und ihre Parolen kann man dulden, so lange sie keine reale Gefahr für die Demokratie darstellen. 

Sehr weise handelten die SPD/FDP-Regierungen in den 1970er Jahren zum Beispiel, als sie einen Verein wie die KPD (AO), der ich angehörte, auch dann nicht verbot als wir am 10. April 1973 das Bonner Rathaus aus Protest gegen den Besuch des südvietnamesischen Präsidenten Thieu besetzten und einen Monat später die  Dortmunder Innenstadt aus Protest gegen den Besuch des sowjetischen Diktators Breschnew lahmlegten. Man war sich in der Regierung Willy Brandt wohl klar, dass wir eine Menge Ärger machten, zweifellos staatsfeindlich eingestellt waren und nicht wenige Anhänger unter den radikalisierten Studenten hatten, jedoch erstens vor bewaffneter Gewalt zurückschreckten und zweitens nie so viele Anhänger bekommen würden, dass wir ernsthaft die freiheitlich-demokratische Grundordnung gefährden könnten.

Auch heute kann und muss man mit intoleranten Sekten wie der Scientology Church oder den Zeugen Jehovas ebenso leben wie mit „Extinction Rebellion“ und Anhängern der AK Partei des türkischen Präsidenten Erdogan. Auch die NPD ist ja bisher nicht verboten, und ich füge hinzu: gut so. Diese Organisationen gefährden den Staat nicht.

Das Medium ist die Message

Es gibt auch einen Unterschied zwischen der akademischen Erörterung eines Sachverhalts und der Volksverhetzung. Ich bin zum Beispiel gegen die Kriminalisierung der Holocaustleugnung und dafür, dass man auch Bücher verlegen darf wie Pedro Banos‘ „Wie man die Welt beherrscht“, in denen Verschwörungstheorien ausgebreitet werden, die Berührungspunkte mit Elementen der nationalsozialistischen Ideologie haben. Hier gilt, was Popper sagt: “(As long as) we can counter them by rational argument and keep them in check by public opinion, suppression would certainly be unwise.” Unklug, wohlgemerkt, nicht unmoralisch oder undemokratisch.

Ob man aber Plakate dulden müsste, auf denen steht: „Schluss mit der Holocaustlüge! Gegen die zionistische Weltherrschaft!“ – Das steht auf einem anderen Blatt. Das habe ich in der Auseinandersetzung mit Henryk M. Broder darzulegen versucht.

Ist die AfD die „Partei der Meinungsfreiheit“?

Nun steht ein Elefant im Raum: die AfD. Muss die tolerante Demokratie sie dulden, auch weil sie bisher sich an deren Spielregeln hält, sich zum Grundgesetz bekennt, und weil das Meiste, was ihre Funktionäre sagen, sich ein einem Meinungskorridor bewegt, der zum Teil unappetitlich ist, aber nicht volksverhetzend – oder muss die wehrhafte Demokratie gemäß der Parole „Wehret den Anfängen“ und eingedenk der Drohungen eines Björn Höcke, nach Erringung der parlamentarischen Mehrheit ganz andere Saiten aufzuziehen, über eine Einschränkung der  Tätigkeit dieser Partei bis hin zum Verbot nachdenken?

Die AfD sieht längst, dass sich diese Frage stellt und positioniert sich seit einiger Zeit dezidiert als „Partei der Meinungsfreiheit“.

Freilich meint das immer nur die Meinungsfreiheit der eigenen Leute. So fordert sie zum Beispiel ein Verbot der antisemitischen BDS-Bewegung.

Meine Meinung zu einem Verbot der AfD oder einzelner ihrer Untergliederungen, Publikationen usw. ist, dass es „unklug“ wäre. Ich bin aber nicht der Meinung, dass die Toleranz grenzenlos zu sein hat; da wiederum bin ich ganz bei Henryk Broder und seiner „Kritik der reinen Toleranz“.

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32 Gedanken zu “Kritik der reinen Toleranz;”

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    Hallo „Derblondehans“,
    beides ist ein Verstoss, selbst dann, wenn beide Personen vorher selbst durch Worte verletzt haben sollten. Das ist keine Frage der Macht, sondern eine Frage der Wuerde und des Wuerdeschutzes. Wo Sie recht haben, ist, dass der Staat (also wir, denn auch Sie sind der Staat) Angriffe gegen die Wuerde jahrelang tatenlos geschehen liessen. Das ist so etwas wie die Ursuende des Internets. Es wird nun machtvoll in die andere Richtung schlagen muessen, auch dies vermutlich ueberzogen weit, damit es sich am Ende auf einem Niveau einpendelt, das einer Zivilisation wuerdig ist. Tut es das nicht, werden wir die Zivilisiertheit verlieren.

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    Lieber Herr Posener,
    das Grundrecht auf freie Meinungsfreiheit, Art. 5 GG, ist kein absolutes Recht, sondern wird in § 5,2 gleich wieder eingeschränkt:
    (2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.
    Nun stellt sich die Frage, ob soziale Gruppen oder Politiker das Recht der persönlichen Ehre haben und was persönliche Ehre bedeuten soll?
    Ich weiß es nicht, was das juristisch bedeutet. In meinem Rechtsverständnis sollte es folgendes bedeuten, niemand hat das Recht einen anderen Menschen oder eine soziale Gruppe so anzugreifen, dass diese ihre Würde/Ehre verletzt sieht.
    Meinungsfreiheit bewegt sich daher in den Grenzen des persönlichen Anstands. Jeder, der diese Grenzen überschreitet, kann daher nicht mit der Toleranz der Anderen rechnen.

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      Lieber Herr Gierse, im GG steht „persönliche Ehre“, weil „persönlich“ gemeint ist. Politiker haben selbstverständlich das Recht, ihre Ehre geschützt zu wissen (und das Urteil in der Causa Renate Künast ist ein Skandal), soziale Gruppen aber nicht. Dort greifen die Gesetze über Volksverhetzung.

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        @APo

        … vorn weg zur ‚Causa‘ Künast; ich benutze solche ‚Kraftausdrücke‘ nicht. Gut, ‚doof‘ kommt auch mir schon mal, bei ‚passender‘ Gelegenheit, über die Tastatur. Trotzdem kann ich die Entscheidung vom Landgericht Berlin – als Angehöriger der ‚Köterrasse‘ in Deutschland – nachvollziehen.

        Komisch, als Alice Weidel als ‚Nazischlampe‘ tituliert wurde, hat es CDU/CSU, SPD, Bündnis90/Die Grünen, die SED aka Die Linke, die FDP und den ‚Wahrheitsmedien‘ der ‚BRD‘ nicht gestört.

        … eben doch alles eine Frage der Macht?

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    Sehr geehrter Herr Posener,
    die Grenzziehung zur Wahrheit, einmal unabhaengig vom Thema, ist dann einfacher, wenn man meine Unschaerfe in der Wortwahl „Wahrheit“ ersetzt. Wahrheit ist philosophisch betrachtet relativ. Gegenbeispiel: -273,15 °C ist kalt, hier gibt es keine denkbare Relativierung. Ob bei einem Verbrechen einer oder Millionen umkommen, schraenkt die Wahrheit, dass dies ein Verbrechen ist, nicht ein. Die Differenzierung wird erst bei der Strafhoehe relevant, wobei die Hoechststrafe, wie Sie wissen, auch nicht ueberschritten werden kann und darf (siehe Rechtsstaat).
    Bleibt die Luege, die Unwahrheit oder die vorsaetzliche Taeuschung durch absolute Meinungsfreiheit ohne jede Verantwortung. Wenn Boris Johnson sagt, dass der Brexit sein muss, damit 350 Millionen GBP nicht an die EU, sondern an den NHS gehen, und dadurch jemand zu Schaden kommt, weil er nun arbeitslos wird, trotzdem erst nach 10 Jahren einen Zahnarzttermin bekommt und an einer Sepsis stirbt oder seine Rentenansprueche minimiert, weil eine langanhaltende Wirtschaftsflaute droht, dann wurde die Luege zu einer Schaedigung einer Person. Handlungen und Meinungen ohne jede Verantwortung duerfen nicht statthaft sein, auch wenn wir uns mittlerweile daran gewoehnt haben. Der fehlende Anstand benoetigt ein Aequivalent, sondern kollabieren die Systeme.

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    Keine Toleranz gegenüber der Intoleranz, eine Forderung von Wilhelm Busch (so weit ich mich erinnere), ist doch nur eine hohle Phrase, weil im Kern die Lauten die Leisen mit Luegen, Unwahrheiten und Entgleisungen niederbruellen. Was im Internet in den Foren passiert ist nichts weiter als Koerperverletzung, begangen von den Intoleranten an den Toleranten.
    So paradox (wie bei Popper) ist es nicht. Das Missverstaendnis beruht darauf, dass die Meinungsfreiheit fuer jede noch so krude Aeusserung nicht komplett rechtlos im Raum schweben darf – momentan ist das leider so. Die, nennen wir sie einmal absolute Meinungsfreiheit muss nur mit der absoluten Verantwortung fuer das Gesagte verbunden werden, untrennbar verbunden werden.
    Wer glaubt, er muesse die Erde zu einer Scheibe machen, die Shoah leugnen oder wie die AfD dem Rassismus froenen, wird in dem Augenblick wach, in dem ein Rechtsstaat die objektiv nachweisbare Unwahrheit mittels Geldstrafe nach einer Verurteilung zur Finanzierung der besseren Bildung nutzt. Gegen Dummheit hilft nur Bildung, und wenn die Dummen und Verblendeten das bezahlen, dann waere es sogar eine konstruktive Form von Gerechtigkeit.

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      Lieber James Taylor, das Problem beginnt aber schon mit der Pilatus-Frage, „Was ist Wahrheit?“ Sie mögen jemanden zu einer Geldstrafe verurteilen, weil er meint, die Erde sei eine Scheibe, aber was ist mit jemandem, der meint, im Holocaust seien nicht sechs, sondern „nur“ drei Millionen Juden getötet worden? Und wann kommen Sie bei der Bestrafung von Leuten an, die wie KJN meinen, die Gefahr der Treibhausgase werde übertrieben? Es sollte unter vernünftigen Menschen zwar gelten, dass am Ende die Fakten entscheiden, aber es fehlt eine Instanz, die entscheidet, was ein Fakt ist und was ein Fake.

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        APo: ‚Es sollte unter vernünftigen Menschen zwar gelten, dass am Ende die Fakten entscheiden, aber es fehlt eine Instanz, die entscheidet, was ein Fakt ist und was ein Fake.‘

        … ob Sie an eine ‚Instanz‘ – ‚… mein ist die Rache und die Vergeltung‘ – glauben oder nicht, Sie können nicht urteilen. Die Frage – ob Fakt oder Fake – ist eine Machtfrage. Das ist ein Fakt.

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        Nein, dbh, das ist kein Fakt. Und Ihre Kirche hat mit ihren Märyrern beredtes Zeugnis davon abgelegt, dass Ihre zynische Auffassung mit der kirchlichen Lehre unvereinbar ist.

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        @APo

        … mhm, ich kann bei mir keinen Zynismus erkennen. Selbstverständlich ist die Frage – ob Fakt oder Fake – eine Machtfrage. Was denn sonst?
        Das nach meinem Glauben Fakten letztendlich ‚ganz oben‘ beurteilt werden, ist dabei – zunächst – eine andere Sache.

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        Lieber dbh, ob der Mond eine Scheibe oder eine Kugel ist, und ob die Amerikaner 1969 dort gelandet sind, das sind Fakten. Ebenso, dass die Deutschen zwischen 1933 und 1945 sechs Millionen Juden ermordeten. Und so weiter, bis hinunter zur DNA, anhand derer bewiesen werden kann, wer wessen Vater und wer wen umgebracht hat. Ob Fakten anerkannt werden, das mag eine Machtfrage sein. Die Fakten selbst nicht.

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        … lieber Alan Posener, vom Mond habe ich nicht geschrieben. Ich würde mich nie auf den Mond schießen lassen. Fakt.

        Auch nicht davon, ‚dass die Deutschen zwischen 1933 und 1945 sechs Millionen Juden ermordeten.‘ Das steht mir nicht zu.

        ‚Ob Fakten anerkannt werden, das mag eine Machtfrage sein. Die Fakten selbst nicht.‘ … Sie stimmen mir zu. 😉

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    Gibt es nicht ein Tertium zwischen verbieten und dulden: die AfD politisch ausgrenzen und sie nicht so zu behandeln, als sei sie eine Partei wie jede andere?

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      Lieber Ruprecht Polenz, darüber würde ich gern mehr von Ihnen in einem eigenen Beitrag lesen. Was „politisch ausgrenzen“ bedeuten soll, erschließt sich mir im parlamentarischen Alltag nicht.

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    „Demokratie ist die Möglichkeit, eine Regierung ohne Gewalt loszuwerden.“

    Nach dieser Definition hätte die DDR ja die beiden Des zurecht im Namen geführt.

    Wie gesagt, in der Logik und den Naturwissenschaften kann ich das Falsifikationsprinzip akzeptieren. In den Gesellschaftswissenschaften kann man damit alles und gar nichts beweisen.

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      „“Demokratie ist die Möglichkeit, eine Regierung ohne Gewalt loszuwerden.” Nach dieser Definition hätte die DDR ja die beiden Des zurecht im Namen geführt.“ Kommen Sie, 68er, das meinen Sie nicht ernst.

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        Ach Herr Posener, der ach so wissenschaftliche Herr Popper wusste eigentlich selber nicht genau, was er mit seiner These, die Sie etwas zugespitzt hier vorgestellt haben meinte. Nach Ihrer Verkürzung der These wäre jedenfalls nach dem „früüdlüchen Revolutiönchen“ das gerade keine Revolution war, die DDR eine Demokratie. So einen Unsinn behaupte ja noch nicht mal ich. Und damit wäre die These Poppers in Ihrer verkürzten Form falsifiziert.

        Es gab nach den Grossdemonstrationen und der Fluchtwelle einen Regierungswechsel Honecker Krenz, relativ freie Volkskammerwahlen und einen Beitritt zur BRD, d.h. die rechtliche und faktische Möglichkeit, die eigene Staatsform zu falsifizieren. Freiheiten, um es einmal etwas überspitzt zu sagen, von denen die Katalanen und Basken und nach den aktuellen Ankündigungen Johnsons, auch die Schotten, nur träumen können.

        Popper hat Mal 1987 im Spiegel ein Essay zum Thema veröffentlicht und dabei auch zu Wahlsystemen, explizit auch zum britischen Stellung genommen. Das erscheint mir auch sehr unscharf, d. h. wahrscheinlich auch die Bezeichnung Essay. Politikwissenschaft scheint mir das nicht zu sein.

        https://m.spiegel.de/spiegel/print/d-13523345.html

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        Lieber 68er, Popper war kein Politikwissenschaftler. Er wollte zu einer Definition der Demokratie gelangen, die bestimmte Kriterien vermied wie „Herrschaft des Volkes“, „Auswahl der Besten“ usw., die von Demagogen gegen die Demokraten angewandt werden könnten. (Aber am besten, Sie lesen selbst, wie er das begründet.) Er wandte dann eben sein Falsifizierungprinzip an: Die Demokratie ist ein System (ich formuliere aufgrund Ihres Einwands vorsichtiger), in dem der friedliche Regierungswechsel vorgesehen ist. A feature, not a bug. Das war die DDR nicht. Als sie sich in der Schlussphase für diese Möglichkeit öffnete (also unter Druck von Moskau und der Straße das Prinzip Perestroika akzeptierte), brach das System zusammen.

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        Wieso gehen Sie eigentlich nie auf meine Argumentation ein? Ich versuche immer wieder auf Sachfragen zu kommen, so z. B. bei der „Pressediskussion“ aber dann bricht die Kommunikation abrupt ab. Genauso bei der Diskussion mit Herrn Seidel. Und hier biegen Sie sich auch alles wieder so hin, wie es ihnen passt. Ich fand meinen an Popper angelehnten Ansatz von der Falsifizierbarkeit politischer Systeme gar nicht so dumm. Das Thema hat mich schon in der Schule sehr interessant. Ich hatte mit Unterbrechungen von der Sexta bis zum Abi Leistungskurs einen tollen Geschichtslehrer, der uns über die Jahre die mäandernde Entwicklung der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systeme versucht hat näher zu bringen. Und irgendwann kam die Frage auf, ob wir jetzt am Ende dieser Entwicklung seien. Ein Narr ist, wer das glaubt. Der Real-Existierende-Sozislismus hat sich falsifiziert, es gibt viele Anzeichen, das auch der real existierende westliche Kapitalismus grundlegend reformieren muss.

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        Lieber 68er, ich habe nun wirklich nicht den Eindruck, dass ich „nie auf Ihre Argumentation eingehe“. Im Gegenteil. Irgendwann bricht die Diskussion ab, das stimmt, aber das gilt auch für die Diskussionen mit KJN über Klimafragen oder mit Stevanovic über die Konservativen, und, ja, auch mit Herrn Seidel über den Antisemitismus, wobei es in dem Fall so ist, dass er nicht mehr postet. Ich bin kein Simultanschachspieler, erstens. Ich muss mein Geld verdienen mit Schreiben dort, wo ich dafür bezahlt werde, zweitens. Drittens muss ich mich selbst weiterbilden. Und viertens gibt es in jeder Diskussion einen Punkt, an dem man den Eindruck bekommt, wir haben die Argumente ausgetauscht, wir kommen nicht weiter. Dass dies immer daran liegt, dass ich „alles so hinbiege, wie es mir passt“, glaube ich nicht.
        Um Ihr DDR-Beispiel noch einmal aufzugreifen: 39 Jahre lang war die DDR im Popper’schen Sinn keine Demokratie, weil die Regierung nicht friedlich gestürzt werden konnte. Als sie demokratische Elemente entwickelte, wählte das Volk die DDR ab. Ich kann nichts dafür. Ich war damals auch nicht für die Wiedervereinigung. Ich habe ein Buch geschrieben – „Olli aus Ossiland“ – in dem es um die Anerkennung von DDR-Biographien geht usw. usf.
        Sie schreiben, dass „auch der real existierende westliche Kapitalismus grundlegend reformieren muss“. Ich stimme Ihnen zu. Googeln Sie „Posener und „Piketty“. Ich führe diese Diskussion schon seit Jahren.

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        Lieber Herr Posener,

        als „alter Haudegen“ des deutschen Journalismus, müssten Sie doch eigentlich wissen, dass selbst der geneigte Leser im Zweifel undankbar und unfair ist.

        Auch ich habe nur begrenzt Zeit und erlaube mir, bei Ihnen meinem Hobby zu fröhnen. Dafür an dieser Stelle noch einmal herzlichen Dank!

        Was das „nie“ betrifft, hatte ich gedacht, dass Sie dies im klassischen Sinne verstanden hätten, wie es gerne in Familien genutzt wird:

        „Du räumst NIE die Spülmaschine aus!“

        Du denkst NIE an meinen Geburtstag!“…

        Ich weiß nicht mehr in welcher Diskussion es war, ich glaube bei Herrn Seidel, haben Sie irgendwo geschrieben, dass ein Dritter vielleicht etwas dazu sagen könne, so dass ich mich dann erst eingemischt habe. Und irgendwie haben Sie dann ja auch mit diesem Artikel bestätigt, dass Sie und Herr Seidel abweichend vom Mainstream in einigen Dingen doch übereinstimmen.

        Sie scheinen immer in meine Argumentation eine Verteidigung der DDR hinein zu lesen. Das ist hier nicht das Thema. Da sind wir uns wohl tatsächlich in der Einschätzung näher als wir beide denken. In Ihrem Beitrag geht es um Poppers Theorie. Und tatsächlich ist es doch paradox, wenn Sie aus meiner Beweisführung, das poppersche Theorem sei dadurch falsifiziert, weil das Volk einer selbsternannten und auch objektiv bestehenden Diktatur friedlich ihre Regierung gewechselt hat, als Rechtfertigung dieser Diktatur werten. Das fühlt sich ein wenig wie Projektion an.

        Ganz skurril wird es, wenn Sie den Druck aus der UdSSR anführen. War das nach Ihrer Meinung keine Diktatur? (Ich hoffe, Sie merken, dass ich hier bewusst polemisch werde, um Sie ein bisschen anzusticheln.)

        Worum es mir geht, ist zum einen Popper, der, wenn Sie das von mir verlinkte Interview lesen, so griffig argumentiert, wie Schneckenschleim. Und um die Frage, ob die Theorie der Falsifizierbarkeit für den Fortschritt der Menschheit nicht viel besser auf Staatssysteme an sich passen. Was staatstheoretisch natürlich ein Paradoxon zu sein scheint. Und weil, Brandt, Bahr, Ehmke und Co. das möglicherweise auch so erkannt haben, liessen diese Sie und Ihre Genossen damals gewähren, in der Hoffnung, dass bei Ihnen die Echternacher Schrittfolge greifen würde, was bei Ihnen, Herrn Mahler und z. B. Herrn Schlögel ja funktioniert zu haben scheint.

        Herr Mahler ist offensichtlich nicht sehr Tanzfest bzw. trittsicher. Da er anstatt einen zurück und zwei nach vorne direkt drei nach hinten gesprungen ist und damit ideologisch wohl noch hinter seine Zeit in der Studentenverbindung gesprungen ist. Bei Ihnen und Herrn Schlögel habe ich noch die Hoffnung, dass Sie nach Ihrem Sidestep zu den Kommunisten und Ihrem Rückschritten zur „Reaktion“ sich irgendwann wieder auf den offenen Weg in die Zukunft abschließen, auf der die Sozialdemokratie seit mehr als 150 Jahren gegen alle Widerstände mäandernd entgegen schreitet.

        Das mag jetzt vielleicht arrogant klingen, aber so ist es nicht gemeint, sondern freundschaftlich satirisch.

        Herzliche Grüße

        Ihr 68er

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        „War Gorbatschow ein Diktator, war die UdSSR 1988ff eine Diktatur? Ich glaube nicht. Sie überlebte freilich die Demokratisierung auch nicht.“

        Und weil Boris Johnson das weiß, wird er sich mit allen Mitteln dagegen wehren, dass die Schotten über Ihre eigene Zukunft demokratisch entscheiden dürfen.

        Mal sehen, wie sich das entwickelt, ob Frau Sturgeon den Puigdemont gibt, ob es eine friedliche Revolution gibt, oder ob Ende wieder Briten auf Briten schiessen.

        Beste Weihnachtsgrüße

        Ihr 68er

        P.S.: Wenn Sie in die SPD eintreten, geben Sie mir bitte Bescheid, dann schließe ich mich an, um den Proporz ein wenig im Gleichgewicht zu halten.

        https://youtu.be/fIRO5mJZmGU

      7. avatar

        Lieber 68er, in Schottland wird es – so oder so – nicht so weit kommen, dass Briten auf Briten schießen. Sie können diese Vorhersage aufheben, wie meine Vorhersage, dass BoJo gewinnen würde, und mir ggf. vorhalten. Nicht so sicher bin ich, was Nordirland betrifft.

    2. avatar

      Und weil in einer Demokratie die Gefahr besteht, daß wenn sie und ihre unabhängigen Gewalten leidlich funktionieren, lässt BoJo jetzt den Donald Putin aus dem Sack:

      https://www.theguardian.com/media/2019/dec/15/boris-johnson-threatens-bbc-with-two-pronged-attack

      Wer schließt mit mir Wetten ab, wann er in polnischer Manier auf das britische Justizsystem PiSt? Er hat ja noch einige Rechnungen auf. Fast alle Tory-Rebellen waren Juristen und die Richter am Supreme Court haben ja auch klar zum Ausdruck gebracht, was sie von ihm halten. Als Nachtmensch und Narzisst wird er das nicht auf sich sitzen lassen.

      Poor Britain!

      1. avatar

        Das erinnert dann schon eher an Putin, als an Trump. Vielleicht auch ein bisschen Erdogan? Mal sehen.

        Das beste finde ich natürlich die steile These, Johnson würde sein Wahlversprechen einlösen indem er Geld in den NHS stecken würde. Ich würde eher denken, die ausgehungerte Pute wird noch einmal mit Steuergeldern des kleinen Mannes gemästet, damit man sie dann zusammen mit Trump und seinen Kumpanen schlachten kann.

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