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Fiktionale Geschichtsklitterung

Schriftsteller sind keine guten Gewährsleute  für die Verkündigung  historischer Wahrheiten. Aus der Stalin-Ära ist bekannt, dass intelligente Autoren, die bei der Entlarvung des Kapitalismus jeden Scharfsinn aufboten, ihren Verstand abschalteten, als sie  Huldigungsgedichte an den sowjetischen Diktator  verfassten. Die Poeme sind  an Peinlichkeit und Zynismus nicht zu überbieten. Hier zwei Beispiele für deutschen  Stalin-Kitsch:

„Dort wirst du, Stalin, stehn, in voller Blüte
Der Apfelbäume an dem Bodensee,
Und durch den Schwarzwald wandert seine Güte,
Und winkt zu sich heran ein scheues Reh.“   (Johannes R. Becher)

“ Das Leben hörte ihm zu.
Die er jetzt belehrte,
Hatten ihn viel gelehrt,
Immer horchte er hin in die Masse,
Mit ihren Schmerzen beschwert.
Die er dem Licht zukehrte.“  (Stephan Hermlin)

Wer meinte,  solche Geschichtsklitterungen gehörten der Vergangenheit an, wurde jüngst eines Besseren belehrt. Im SPIEGEL 12/2017 erschien ein Text  der österreichischen Schriftstellerin Eva Menasse.

Er  trägt den Titel „Hundert Kinder“ und befasst sich mit der Vertreibung  palästinensischer Familien aus ihren Häusern, die dem Siedlungsbau israelischer Familien weichen müssen. Eva Menasse nennt ihren Text eine „Erzählung“. Diese Textform erlaubt es ihr, die historische Wahrheit hinter der Fiktionalität, die dieser Gattung eigen ist, bestens  zu verstecken. Der erste Satz heißt dann auch: „Ich stelle mir vor (sic), ein Kind, acht Jahre alt…“. Dann wird unter Aufbietung aller Rührseligkeit  geschildert, wie palästinensische Kinder unter der Vertreibung aus ihren Häusern leiden. Historische Daten werden eingestreut, ohne sie  korrekt zu  erklären. Zum Schicksalsjahr 1948 heißt es: „Aber 1948, zur Zeit der Katastrophe, musste das Dorf umziehen, mit Sack und Pack.“ – Die Autorin verschweigt, dass die „Katastrophe“ von den Palästinensern und ihren arabischen Verbündeten selbst heraufbeschworen wurde. Nach einem Beschluss der UN-Vollversammlung wurde der Staat Israel am 14. Mai 1948 gegründet. Noch in der Gründungsnacht erklärten Ägypten, Saudi-Arabien, der Libanon, der Irak und Syrien dem jungen Staat den Krieg. Dieser israelische Unabhängigkeitskrieg dauerte bis Januar 1949 und brachte den Israelis Geländegewinne, die über das Israel  von den UN zugesprochene Staatsgebiet hinausgingen. Das arabische Palästina wurde zerstückelt. Das Westjordanland gelangte unter die Verwaltung Jordaniens, der Gaza-Streifen unter das Mandat Ägyptens. Hätten die Palästinenser und ihre Verbündeten die geografische Aufteilung durch die UN akzeptiert, hätte es damals schon einen palästinensischen Staat gegeben. Die Alles-oder-Nichts-Politik der arabischen Staaten  hat dies verhindert. Auch spätere Gelegenheiten für eine Zweitstaatenlösung, wie z.B. der  Oslo-Friedensprozess (1993-2000), wurden durch die Maximalforderungen der Palästinenser fahrlässig  vereitelt. Der Iran und seine Hilfstruppen (Hisbollah und Hamas) halten bis heute am Ziel fest, die „Israelis ins Meer zu treiben.“

Nichts davon liest man  in der „Erzählung“ von Eva Menasse. Stattdessen Schilderungen wie diese: „Der Soldat lacht, ein anderer befreit ihn. Er schüttelt die Mutter ab wie Ungeziefer.“ Die Konnotation ist unübersehbar: Früher haben die Nazi-Schergen die Juden wie Ungeziefer behandelt, heute tun dies  die israelischen  Herrenmenschen mit den Palästinensern. Menasse zitiert ungefiltert aus einem Text des palästinensischen Autors Raja Shehadeh: [Die Palästinenser errichten ihre Dörfer,] um die Hügel zu umarmen, nicht auf ihnen zu reiten.“ [Die Israelis dagegen] „hocken sich immer auf die Hügelkuppen.“ Auch hier ist der Herren-Gestus unübersehbar. Das Herr-und-Knecht-Bild  nimmt groteske Züge an, wenn Menasse schreibt, die Israelis würden, wenn sie immer  auf den Hügeln siedeln, den  Palästinensern im Tal die gute Luft wegschnappen.

Dass die österreichische Schriftstellerin die von den Israelis im Westjordanland errichteten Siedlungen für „illegal“ hält, versteht sich von selbst. Als Begründung schreibt sie: „Denn Besatzung ist normalerweise ein  vorübergehender Zustand. In einem Provisorium werden per Definition keine Baugenehmigungen vergeben.“ Wie ist es zu dieser „Besatzung“ gekommen? „19 Jahre später, im nächsten Krieg, überrannten die Blau-Weißen die unsichtbare Grüne Linie  und besetzten das ganze Land.“ Auch für den Ausbruch dieses „nächsten“ Krieges, des Sechstagekriegs  von 1967, wird den Israelis die alleinige  Schuld gegeben. Wie war es wirklich?

Radio Kairo meldete am 18. Mai 1967: „Ab heute gibt es keine internationalen Friedenstruppen mehr, die Israel beschützen. [Der ägyptische Präsident Nasser hatte den Abzug der Friedenstruppen UNEF auf dem Sinai erzwungen.] Unsere Geduld ist zu Ende. Wir werden uns nicht mehr bei den Vereinten Nationen über Israel beklagen. Ab jetzt herrscht der totale Krieg gegen Israel, und er wird zur Auslöschung des Zionismus führen.“ Aus Syrien hieß es am 20. Mai vom syrischen Verteidigungsminister Hafez Assad: „Unsere Streitkräfte sind absolut gerüstet, nicht nur die Aggression zurückzuschlagen, sondern auch einen Befreiungsschlag zu starten und die zionistische Präsenz aus unserer arabischen Heimat hinauszusprengen. Die syrische Armee, den Finger am Abzug, ist sich einig … als Militär bin ich der festen Überzeugung, dass die Zeit gekommen ist, in eine Vernichtungsschlacht hineinzugehen.“ Am 22. Mai sperrte die ägyptische Armee die Straße von Tina, den Zugang zum Golf von Akaba,  erneut für die israelische Schifffahrt, was von Israel   als Kriegshandlung angesehen  wurde.

Die israelische Regierung beschloss angesichts dieser militärischen Drohungen einen Präventivschlag, der zu einem überragenden militärischen Sieg in nur  sechs Tagen führte. Das Westjordanland und der Gaza-Streifen kamen unter israelische Verwaltung. Menasse geht wie viele ihrer intellektuellen Freunde davon aus, dass Israel die  1967 eroberten Gebiete gefälligst an die Palästinenser zurückzugeben habe. Warum eigentlich? Besatzung ist eben nicht, wie Menasse schreibt, „ein vorübergehender Zustand.“ Die dauerhafte Besatzung eines eroberten Gebietes, die Annexion, ist in der Geschichte der Kriege der Normalzustand.  Sie dient dem Sieger  vor allem dazu, das eigene Land dauerhaft zu schützen und der Wiederholung einer Aggression für immer vorzubeugen. Nach den beiden Weltkriegen zeichneten die Siegermächte die Landkarte Europas neu. Diese geografischen Verschiebungen waren eben nicht nur „ein vorübergehender Zustand“. Die deutschen Ostgebiete und Elsaß-Lothringen wurden dauerhaft an die Siegermächte und ihre Verbündeten abgetreten. Kein vernünftiger Mensch will daran rütteln. Jeder hält diesen Verlust für den Preis der von Deutschland  begonnenen Aggression und des  verlorenen Krieges. Kann sich jemand allen Ernstes vorstellen, dass Russland die 2014 besetzte Halbinsel Krim jemals an die Ukraine zurückgeben wird, deren Annexion von der Weltgemeinschaft einhellig als völkerrechtswidrig verurteilt wird? Von den Israelis verlangt man jedoch, dass sie die eroberten Gebiete großzügig zurückgeben. Wenn Israel im Spiel ist, wird  immer mit  zweierlei Maß gemessen. Was man anderen Staaten zugesteht, lässt  man  Israel – dem Paria der Staatengemeinde – keineswegs durchgehen. Antisemitismus-Forscher halten die Haltung, an Israel ständig höhere moralische Maßstäbe anzulegen als an den Rest der Staatengemeinschaft, für einen versteckten Antisemitismus. Da der offene (noch) verpönt ist, muss er sich tarnen. Wie die Camouflage  funktioniert, hat Eva Menasse in ihrer „Erzählung“ mustergültig  vorgeführt.

Eine besondere Perfidie zum Schluss:  Allein im  Jahr 2016 gab es 142 Terrorangriffe von Palästinensern auf Israelis. Eva Menasse erwähnt in ihrem Text  einen einzigen Anschlag. Es handelt sich  um den Brandanschlag, den  jüdische Extremisten  in dem Dorf  Duma verübten und  bei dem ein Ehepaar und ihr  Kleinkind getötet wurden. Auch hier ist die Botschaft klar: Terror geht von den Israelis aus. Palästinenser wehren sich  nur. Fühlte  sich Eva Menasse wirklich der Wahrheit verpflichtet, hätte sie  erwähnen können, dass israelische Attentäter von israelischen Gerichten  regelmäßig  verurteilt    werden, während die Eltern von palästinensischen Selbstmordattentätern von der Autonomieregierung eine Märtyrerrente  beziehen. Aber mit  solchen  Kleinigkeiten hält sich Eva Menasse nicht auf. Sie drückt lieber auf die Tränendrüse: „Ich frage mich, ob Kinder wie Aya, die mitten in der Nacht aus ihrem Bett geholt werden, weil das Militär kommt, um ihre Häuser platt zu machen, diesen Moment je vergessen werden.“

Wenn bei einer Schriftstellerin eine politische Obsession die Feder führt, gehen Kitsch und Geschichtsklitterung Hand in Hand.

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3 Gedanken zu “Fiktionale Geschichtsklitterung;”

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    … apropos o.t.:

    Schulz, Freund, Genosse

    Music: M. Blanter Lyrics: unbekannter Genosse 2017

    In den weiten, wunderschoenen Landen,
    Von der freien Arbeit froh beschwingt,
    Ist der Freiheit hellstes Lied entstanden,
    Das vom grossen Freund der Menschen singt.

    Refrain:
    Schulz fuehrt uns zu Glueck und Frieden,
    Unbeirrbar wie der Sonne Flug,
    |: Langes Leben sei dir noch beschieden,
    Schulz, Freund. Genosse treu und klug. 😐

    Heimatland der Freiheit hier auf Erden
    Wurdest du, geliebtes Euroland,
    Immer reicher unsre Ernten werden,
    Wohlstand spendet jede fleiss’ge Hand.

    Refrain:

    Schoener als der klare Lenz des Morgen
    Leuchtet unsrer Jugend Maienzeit,
    Schulz laechelt, lebt doch ohne Sorgen,
    Unsre Kinderschar in Lust und Freud.

    Refrain:

    Alle Wuesten werden wir bezwingen,
    Alle Not der Welt durch eigne Kraft,
    Und die allerschoensten Lieder klingen,
    Wo der Mensch auf freier Erde schafft.

    Refrain:

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    Lieber Herr Werner, warum gehen Sie bis zum Stalinkult der DDR zurück? Geschichtsklitterung in Bezug auf Israel und „die Juden“ war in beiden Deutschland und auch nach der Vereinigung fester Bestandteil des wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Diskurses. Denken Sie an den „Antizionismus“ in der DDR – Geschichtswissenschaft, die einseitige Darstellung des Nahostkonflikts bei den Linken im Westen (siehe auch H.M. Broders „Der ewige Antisemit“ aus den 80ern). Oder Grass‘ unsägliches Israelgedicht. Gegen den Stachel wird immer mal wieder gelöckt. In der Sache stimme ich mit Frau Menasse überein; ich bin gegen den Siedlungsbau in den besetzten Gebieten. Ihre Begründung jedoch finde ich scheinheilig und unhistorisch, um nicht zu sagen: böswillig.

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