Ein Hotel in Nordzypern, beim Auschecken. Der Angestellte an der Rezeption fragt einen deutschen Touristen nach seiner Zimmernummer – auf Englisch. Der starrt ein Loch in die Luft und sagt gleichmütig: „Deutsch, bitte.“ Nicht, dass er kein Englisch gekonnt hätte. Er war in meinem Alter, ein Wessi, der mindestens vier Jahre englisch in der Schule gehabt haben dürfte und zweifellos in der Lage gewesen wäre, die gefragten drei Zahlen aufzusagen. Aber er wollte nicht. Und mir schien sich da etwas Verstorendes anzukündigen.
Gut, das ist eine statistisch wenig aussagekräftige Anekdote. Aber die Erfolge der AfD bei Kommunal- und Landtagswahlen in Brandenburg, Hessen, Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt sind nicht anekdotisch; und mir scheint, zwischen diesen statistisch belastbaren Ergebnissen und meiner Beobachtung besteht ein Zusammenhang – obwohl der Tourist, netter Kerl übrigens, kein AfD-Anhänger, sondern Sozialdemokrat war.
Man könnte auch anwenden, dass Briten und Amerikaner im Ausland ja nicht besser sind, im Gegenteil, dass sie automatisch annehmen, ihr Gegenüber werde Englisch reden. Stimmt. Aber Englisch ist nun einmal die lingua franca der Ferienwelt, das haben inzwischen selbst die früher so hochnäsigen Franzosen einsehen müssen. Bürger der kleineren Nationen haben sich auf diese Verhältnisse seit Jahrzehnten eingestellt. Und außer im Ballermann und ähnlichen Enklaven deutscher Kultur haben sich Deutsche im Ausland eher wie die Bürger eines kleinen Landes aufgeführt. Erst recht traf das auf die deutsche Außen- und Europapolitik zu. Man zahlte und hielt die Klappe.
Das ändert sich schon seit geraumer Zeit. „Auf einmal wird in Europa Deutsch gesprochen“, stellte auf dem Höhepunkt der Eurokrise Unions-Fraktionschef Volker Kauder fest. Damit meinte er nicht Hotels auf Nordzypern. Damit meinte er die Durchsetzung der – übrigens verhängnisvollen und inzwischen stillschweigend aufgegebenen – Austeritätspolitik in der gesamten Eurozone: „Wir spüren, dass wir dieses Europa in eine neue Zeit führen müssen“, so Kauder weiter, und teilte entsprechend gegen die anderen Länder des Kontinents aus: Frankreich habe „das Wort Schuldenbremse zunächst gar nicht aussprechen wollen.“ Nun hätten sie sich das anders überlegt. Die Briten würden eine Finanztransaktionssteuer akzeptieren müssen. „Nur den eigenen Vorteil suchen zu wollen und nicht bereit sein, sich auch einzubringen – das kann nicht die Botschaft sein, die wir den Briten durchgehen lassen.“ Die Türkei werde auf keinen Fall Mitglied der EU, und so wie Türken in Deutschland ihre Religionshäuser bauen dürften, „erwarten wir, dass die Christen in der Türkei ihre Kirchen bauen dürfen. Da darf es keine Kompromisse geben“. Tja. Man ist etwas kleinlauter geworden inzwischen, aber den Ton hat sich Europa gemerkt.
Dabei ist Kauder kein Nationalist, ebenso wenig wie der Finanzminister oder die Bundeskanzlerin, mochte man auch ihr Konterfei bei Demonstrationen in Athen mit einem Hitlerbärtchen verzieren. Aber die schiere Größe und das ökonomische Gewicht Deutschlands schaffen eine eigene Dynamik. Es besteht eine gewisse historische Ironie in der Tatsache, dass Deutschland – jedenfalls bis zur Flüchtlingskrise – sehr erfolgreich seine eigenen nationalen Interessen unter der Losung immer engerer europäischer Integration verfolgen konnte, die ja auch von der gesamten politischen, wirtschaftlichen und publizistischen Elite des Landes unterschrieben wird, während die anti-elitäre „Alternative für Deutschland“ suggeriert, man müsse, um „mehr Deutschland“ zu erreichen, „weniger Europa“ fordern. Die europäische Revolte gegen Angela Merkel in der Flüchtlingsfrage gibt den deutschen Nationalisten natürlich Auftrieb.
Deshalb kann man die AfD nicht allein unter innenpolitischen Gesichtspunkten betrachten. Deshalb ist es kurzsichtig zu sagen, dass Deutschland mit dem so gut wie sicheren Einzug der AfD in den Bundestag 2017 einfach zu einem normalen europäischen Land würde. Dabei sind die meisten Führer der AfD – ich bleibe dabei – in mancherlei Hinsicht weniger abstoßend als die Populisten in Ungarn, Polen, Tschechien, Griechenland, Finnland, Norwegen, Dänemark, Österreich oder den Niederlanden, die dort bereits regieren oder mitregieren. Deren Einfluss ist schlecht für Migranten in Dänemark oder für die Pressefreiheit in Polen, und das ist schlimm genug. Aber international gesehen ist ihr Einfluss unbedeutend, und innerhalb der Europäischen Union üben die Normen und Institutionen Europas – und das Geld Deutschlands – einen mäßigenden Einfluss aus. Deutschland ist ein völlig anderer Fall.
“Vom Wesen her ist Deutschland eher ein destabiliserender al sein stabilisierender Faktor in Europa”, schrieb Margaret Thatcher in ihren Memoiren. Deshalb habe sie Mikhail Gorbatschow 1989 im Namen der anderen Nato-Mächte davon überzeugen wollen, die Wiedervereinigung abzulehnen. Sie berief auch ein Treffen führender Deutschlandkenner ein, die ihr den „deutschen Nationalcharakter“ erklären sollten. Laut Protokoll der Sitzung nannten die Teilnehmer (darunter Fritz Stern und Timothy Garton Ash) „Angst, Aggressivität, Durchsetzungswillen, eine Neigung zum Drangsalieren, Egoismus, Minderwertigkeitsgefühle und Sentimentalität“ als typisch deutsche Eigenschaften. Deshalb meinte Thatcher in einem Telefonat mit dem damaligen US-Präsidenten George Bush: „Wenn man weit in die Zukunft blicke, könne nur die Sowjetunion – oder deren Nachfolger – eine Balance“ gegen ein wiedererstarkendes und möglicherweise dem Westen nicht wohlgesonnenes Deutschland bilden.
Thatcher befand sich in einer Zwickmühle. Denn Helmut Kohl und Francois Mitterrand befürworteten zur Einbindung Deutschlands, dessen künftigem Kurs beide durchaus misstrauten, die engere Integration der Staaten der damaligen Europäischen Gemeinschaft hin zu einer politischen Union – ein Konzept, das Thatcher ablehnte. Aber ein nicht in westliche Institutionen eingebundenes und eingehegtes Deutschland war noch gefährlicher. Daher ihre Fantasie einer Gleichgewichtspolitik, die übrigens auch von anderen Denkern der „realistischen“ Schule damals geteilt wurde, zum Beispiel von den amerikanischen Politologen John J. Mearsheimer und Stephen M. Walt, die sich eine atomar bewaffnete Ukraine als Gegengewicht zu Deutschland vorstellten und später wegen ihres Pamphlets gegen den Einfluss der „Israel-Lobby“ zu trauriger Berühmtheit gelangten.
Angesichts der Entwicklung im Russland Wladimir Putins mag Thatchers geopolitische Vision so absurd erscheinen wie die Vorstellung eines Nationalcharakters. Jedoch machten sich schon 1995 so vorzügliche Denker wie Richard Herzinger und Hannes Stein in ihrem Buch „Endzeitpropheten“ Sorgen um die politisch-publizistische „Offensive der Antiwestler“ in Deutschland; wer ihr Buch über „Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte“ zur Hand nimmt, erkennt mit Schrecken, wie herrlich weit es die Antiliberalen hierzulande inzwischen gebracht haben. Dass Russland als Gegengewicht ausfällt, sondern sich im Gegenteil als Schutzmacht der Antiwestler aufspielt, während die EU taumelt, macht die ganze Chose noch heikler.
Seit seiner Konstituierung als „verspätete Nation“ 1871 laviere Deutschland „zwischen Aggression und Selbstzweifel“, schrieb Thatcher. „Der wahre Ursprung der deutschen Angst ist die Agonie der Selbsterkenntnis.“ Kein Wunder, dass man Thatcher hierzulande so hasst: ihre Psychoanalyse der deutschen Seele ist allzu treffend. Aggressiv gehen die AfD und die wachsende Schar ihrer intellektuellen Vor- und Nachdenker, Apologeten und Mitläufer gegen die deutschen Selbstzweifel vor, deren Ausdruck sie als „politische Korrektheit“ diffamieren. Wir sind wieder wer, oder sollen wieder wer sein, und die seit dem Zweiten Weltkrieg institutionalisierten Tabus fallen; man darf wieder Rassist sein – die AfD ziert sich noch verteidigt aber Pegida und Co., und das Pack, das feige sein Mütchen an Asylbewerbern und ihren Wohnheimen kühlt, statt dort zu demonstrieren, wo die Politik gemacht wird, die ihnen nicht passt. Völlig zu Unrecht wurde Christopher Clarks „Die Schlafwandler“ in diesen Kreisen als Rechtfertigungsschrift für die deutsche Politik im Vorfeld des Ersten Weltkriegs begeistert rezipiert. Und Alexander Gauland, der nicht umsonst zugleich anglophil und ein Thatcher-Hasser ist, hat sich für eine „Neo-Bismarck’sche“ deutsche Außenpolitik ausgesprochen.
Darunter ist eine Balance-Politik zwischen Ost und West zu verstehen, die Russland gegen die USA ausspielt, so wie Thatcher Russland gegen Deutschland ausspielen wollte. Die AfD „respektiert“ die imperialen russischen Interessen in Osteuropa, spricht sich gegen die EU-Erweiterung aus und lehnt es ab, anderen Ländern „die Demokratie aufzuzwingen“ – das heißt, Diktatoren entgegenzutreten. Sie ist gegen das Freihandelsabkommen TTIP, den liberalen Kapitalismus und die „Amerikanisierung“ Deutschlands. Die EU soll nur noch ein lockerer Staatenverbund sein, der Deutschland keine Fesseln auferlegen kann: ein gaullistisches „Europa der Vaterländer“ – was schon damals ein gegen die USA und Großbritannien gerichtetes Konzept war. Sollte der Schwanz AfD auch außenpolitisch mit dem Hund Große Koalition wedeln, wie er es bereits in Sachen Flüchtlinge getan hat, dann stehen uns außenpolitisch schwierige Zeiten bevor. Was Konrad Adenauer, Willy Brandt und Helmut Kohl wussten: Ein Deutschland, das sich nicht klar für den Westen entscheidet, für die Nato und die EU, gefährdet sich und Europa.
@ Alan Posener oder Stefan Trute, der das aufgegriffen hat:
„Angst, Aggressivität, Durchsetzungswillen, eine Neigung zum Drangsalieren, Egoismus, Minderwertigkeitsgefühle und Sentimentalität“
1. Angst. Stimmt. Manchmal unberechtigt, häufig berechtigt (berechtigte Sorge auch). Bei den heutigen Briten zu ersetzen durch Gleichgültigkeit, Apathie, Passivität. Die übrigen wählen gern UKIP. Nachtigall!
2. Aggressivität (wie Sie sagen, Mottenkiste). In anderen Völkern ansonsten genauso vorhanden (wo kam noch der Ausdruck Hooligan her?)
3. Durchsetzungswillen. Gott sei Dank. Mittal will gerade mit Thyssen kooperieren. Wie hat noch mal Thatcher die britische Industrie versenkt? War da nicht was mit Angst? Vor Unions?
4. Neigung zum Drangsalieren. Ja. Stimmt. Berüchtigt bei Schweizern, die dann die Schotten dicht machen. Man wird schon von Fremden engesprochen, wenn man falsch parkt/den Hund ihrer Ansicht nacht falsch führt – alternativ das Kind/in die falsche Richtung niest usw.
5. Egoismus. Wünschenswerte Eigenschaft, die Briten auch besitzen. Wer sie dort hat, wird meistens Jurist oder Investmentbanker.
6. Minderwertigkeitsgefühle. Höchstens in Zusammenhang mit WWII und den Ereignissen darin. Im nationalen Fußball haben das inzwischen eher die Briten. Jedenfalls bis vor kurzem.
7. Sentimentalität. Kann in beiden Ländern vorkommen. Häufigster comment bei tragischen Fällen im Daily Mail: „My heart goes out.“ Die Franzosen dagegen völlig ungerührt. Das kommt vom Froschschenkelspeisen.
@ KJN
Mich nerven Sie nicht. Das ist völlig richtig, was Sie sagen. Bezahlen tun die Kinder. Das Geld reicht nicht, die Zeit auch nicht. Der Stress führt zu Scheidungen.
Super Idee: Persilschein für Flüchtlinge.
Auch eine gute Idee der temporären Lügenpresse:
http://www.faz.net/aktuell/wir.....t-Analysen
http://www.welt.de/kultur/arti.....linge.html
Err. ..VON Rainer Werner (Tippfehler dem smartphone geschuldet)
@Stefan Trute
Das klingt aber jetzt schon ein bisschen nach ‚Schreien im Walde‘. Ich weiß, ich nerve da, aber was läuft schief, wenn die Abgehängten nicht mehr Links wählen, sondern AfD? Wenn Sahra Wagenknecht auf einmal AfD-mäßig das Thema ‚Flüchtlinge‘ aufgreift? (Passt wohl besser zum aktuellen Thema nun Rainer Werner)
„Sie berief auch ein Treffen führender Deutschlandkenner ein, die ihr den „deutschen Nationalcharakter“ erklären sollten. Laut Protokoll der Sitzung nannten die Teilnehmer (darunter Fritz Stern und Timothy Garton Ash) „Angst, Aggressivität, Durchsetzungswillen, eine Neigung zum Drangsalieren, Egoismus, Minderwertigkeitsgefühle und Sentimentalität“ als typisch deutsche Eigenschaften.“
Dieser so beschriebene „deutsche Nationalcharakter“ scheint mir der Mottenkiste der britischen Weltkriegspropaganda entsprungen zu sein, bzw. dem parvenuhaften Auftreten der verspäteten deutschen Nation im Zeitalter des Imperialismus und Faschismus verhaftet. Worin soll denn der britische Nationalcharakter bestehen? War Britannien nie für andere Länder eine Gefahr? Immerhin hat es sich den halben Globus unterworfen.
Ein Artikel mit dem oben gewählten Titel, in dem das Wort „Rußland“ kein einziges Mal vorkommt, hat das Thema teilweise verfehlt.
Lesen scheint nicht gerade Ihre Stärke zu sein, Herr Thonberger, Sie Besserwisser:
„Deshalb meinte Thatcher in einem Telefonat mit dem damaligen US-Präsidenten George Bush: „Wenn man weit in die Zukunft blicke, könne nur die Sowjetunion – oder deren Nachfolger – eine Balance“ gegen ein wiedererstarkendes und möglicherweise dem Westen nicht wohlgesonnenes Deutschland bilden.“
„Angesichts der Entwicklung im Russland Wladimir Putins mag Thatchers geopolitische Vision so absurd erscheinen wie die Vorstellung eines Nationalcharakters. Jedoch machten sich schon 1995 so vorzügliche Denker wie Richard Herzinger und Hannes Stein in ihrem Buch „Endzeitpropheten“ Sorgen um die politisch-publizistische „Offensive der Antiwestler“ in Deutschland; wer ihr Buch über „Fundamentalismus, Antiamerikanismus und Neue Rechte“ zur Hand nimmt, erkennt mit Schrecken, wie herrlich weit es die Antiliberalen hierzulande inzwischen gebracht haben. Dass Russland als Gegengewicht ausfällt, sondern sich im Gegenteil als Schutzmacht der Antiwestler aufspielt, während die EU taumelt, macht die ganze Chose noch heikler.“
„Und Alexander Gauland, der nicht umsonst zugleich anglophil und ein Thatcher-Hasser ist, hat sich für eine „Neo-Bismarck’sche“ deutsche Außenpolitik ausgesprochen.
Darunter ist eine Balance-Politik zwischen Ost und West zu verstehen, die Russland gegen die USA ausspielt, so wie Thatcher Russland gegen Deutschland ausspielen wollte. Die AfD „respektiert“ die imperialen russischen Interessen in Osteuropa, spricht sich gegen die EU-Erweiterung aus und lehnt es ab, anderen Ländern „die Demokratie aufzuzwingen“ – das heißt, Diktatoren entgegenzutreten.“
@KJN: „Und tatsächlich ist mir manchmal, was heißt manchmal, oft, ein säkularer deutscher Staat unheimlich. New order: Akademische Eltern, beide arbeiten, möglichst Vollzeit, Kinder sofort in die Krippe, Riester Rente, Überteuerte Eigentumswohnung auf Kredit in der Stadt, damit alles mit dem fahrrad oder ÖPNV geht = 80% des gemeinsamen Einkommens verplant.“
Die Aufzählung ließe sich beliebig fortsetzen. Allein, wer wird dazu gezwungen, so zu leben? Niemand! Ist aber schon das Leben, das am meisten „systemkonform“ ist, damit der ganze Laden noch ein bißchen länger läuft. Die Gesellschaft “ kommt nicht über uns“, die Gesellschaft, das sind wir. Und es gibt schon noch genügend „Freiräume“, sich dem ganzen Wahnsinn wenigstens teilweise zu entziehen.
Warum ist ein Europa der Vaterländer ein gegen Großbritannien gerichtetes Konzept? Das kommt doch den ständigen britischen Ausscher- und Extrawurstbestrebungen sowie der Furcht vor der deutschen Dominanz sehr entgegen, wie jetzt dem Brexit.
Nun, Herr Grafenstein, Charles de Gaulle verstand das „Europa der Vaterländer“ als gegen die USA und Großbritannien gerichtetes Konzept, und deshalb war er auch gegen den Beitritt Großbritanniens zur EWG. ich glaube, dass die „Little Englanders“ unter den Konservativen kursichtig sind, wenn sie glauben, durch einen Brexit mehr Souveränität zu gewinnen, und dass sich in einem losen EU-Verbund die deutsche Dominanz sehr viel deutlöicher ausprägen würde – außer dort, wo sich eine russische Dominanz etablieren könnte, zum Beiuspiel in Serbien und Bulgarien, aber auch auf Zypern und in Griechenland.
Nicht meine Meinung, aber lesenswert:
http://freie.welt.de/2016/03/2.....andhalten/
Vielleicht darf ich noch ein paar Gedanken zu GUDEs Fragen hier loswerden:
„Inwieweit nutzen die Liberalen die Aufklärung um zu dekonstruieren, wem nützt es, was bleibt übrig?“
Ja, die liberale Aufklärung dekonstruiert bis über die Schmerzgrenze. Stände, Berufe, Geschlechterrollen, Geschlechter, Familien, Religionen, Nationalitäten…. Identitäten.
Merkwürdigerweise findet man das alles in liberaleren Ländern, als Deutschland mehr als reichlich. Vielleicht versetzt also gerade der Liberalismus die Menschen – quasi therapeutisch – in die Lage dahin, sich dahin zu entwickeln, wo sie hin wollen. Oder gibt den Raum dafür, per se das zu sein, was sie sind. Woher rührt also die Angst vor der (nationalen) Selbstauflösung? Mir fällt da als Ursache nichts anderes ein, als der ewige deutsche Glaube an den Staat, der die deutsche Lebensart definiert, der Staat, der die deutsche Lebensart bis hin zum Schweinefleisch schützt, am besten der christlich religiös begründete Staat, der die Hetero-Ehe genauso als am meisten erstrebenswürdige Lebensform erklärt, wie den männlichen Alleinverdiener. Und tatsächlich ist mir manchmal, was heißt manchmal, oft, ein säkularer deutscher Staat unheimlich. New order: Akademische Eltern, beide arbeiten, möglichst Vollzeit, Kinder sofort in die Krippe, Riester Rente, Überteuerte Eigentumswohnung auf Kredit in der Stadt, damit alles mit dem fahrrad oder ÖPNV geht = 80% des gemeinsamen Einkommens verplant. Wer sich da nicht nach einem imaginierten ultramontanen Paradies der 50er sehnt, hat kein Herz.
(Das Problem ist nur, die 50er waren nicht so: Es gab genauso Kriminalität und Randale, wie heute (‚Halbstarke‘) und ich selber wollte nicht in einer solchen piefigen topfguckenden Nachbarschaft leben.)
Vielleicht steckt wirklich hinter der Angst vor der Moderne etwas ganz anderes: Nämlich, daß jede Neuerung gleich zur Staatsraison erklärt wird – von wem auch immer.
Früher ‚Rabenmutter‘, heute ‚wie – nur Hausfrau?‘
Ich vermute, das hat was mit Kant zu tun.
Nun, und „seelische Leere [erzeugt], die der Konsum nicht auszugleichen vermag“:
Konsummöglichkeiten sind ja auch nicht dazu da, um seelische Leere auszugleichen, sondern um mit etwas Genuss satt zu werden, etwas Komfort zu haben und das leben zu erleichtern. Wer da übertreibt – Eigenverantwortung? Ich bin der erste, der gegen kollektivistisch begründeten Zwangskonsum (vulgo ‚Umweltschutz‘) ist.
Deutschland ist das Land der Mitte.
@GUDE: Man sollte die Liberalen nicht mit den „Kapitaliban“ gleichsetzen, also mit denjenigen, die den Liberalismus auf freie Wirtschaft reduzieren und jedes Zweifeln an dieser „einzigen Heilslehre“ mit einer Gotteslästerung gleichsetzen (auch wenn sie derzeit das Bild bestimmen). Ein gemäßigter Liberalismus, also ein Kapitalismus mit menschlichem Antlitz, hat immerhin vier Jahrzehnte auch in großem Maßstab funktioniert.
Naja der Länderfinanzausgleich wird ja auch nicht aus reiner Menschenfreundlichkeit gemacht, sondern weil es billiger ist, in Strukturen zu investieren, als in Sozialabgaben. Und so ist das auch mit der Transferunion. Das man das so vehement abgelehnt hat, wird letztlich teurer, wie man ja schon sieht. 60% des deutschen Exportes gehen in die EU und die Zinssenkungen bzw. Negativzinsen sollen diesen Export weiter ermöglichen, bzw. überhaupt dafür sorgen, daß das Geld in Umlauf bleibt, wenn niemand mehr, als das nötigste konsumiert. Die Transferleistungen wären uns (‚den kleinen Mann‘) billiger gekommen, als die Negativzinsen, flankiert von der geplanten Abschaffung des Bargeldes um die Ausweichmöglichkeiten zu verbauen. Wie eine nationale Politik genau das erreichen soll, nämlich eine Stärkung des Binnenmarktes zu erreichen, was offensichtlich noch nicht mal durch Negativzinsen in einem Europa erreicht werden kann, erschließt sich mir tatsächlich nicht.
Wahrscheinlich durch staatlich verordneten Zwangskonsum (weitere Abwrackprämien, Grundbesitzabgaben erhöhen, wenn nicht gedämmt wird, noch eine Energiewende, Treibstoffsteuern ‚rauf..). Nein, ich glaube das gefällt mir nicht und die verschiedenen europäischen Standpunkte in einer noch funktionierenden EU sind mir da allemal lieber. Da kann die AfD in ihrem Programm versprechen, was sie will – der Rückwärtsgang hat in der Geschichte noch nie funktioniert.
Inwieweit nutzen die Liberalen die Aufklärung um zu dekonstruieren, wem nützt es, was bleibt übrig?
Was unterscheidet den religiösen Sprengstoffgürtel vom raubtierkapitalistisch orientierten Banker? In beiden Fällen hat die Aufklärung versagt. Beide hinterlassen Landschaften des Grauens.
Deutschland als „Macht der Mitte“ kann sich deshalb allzu liberale Experimente nicht leisten.
Der Liberalismus hat eine seelische Leere erzeugt, die der Konsum nicht auszugleichen vermag. Und dieses Problem ist nicht gelöst.
SED – KPD/AO: wäre dort sehr schnell rausgeflogen.
Ich kann die ganze Nacht über spazieren gehen – in meinem Viertel. Und warum?
Ja gut, lieber Alan Posener, sei meine Frage Ausdruck des Problems, daß Deutschland keine Alternative bei der Blockzugehörigkeit hat (sehe ich übrigens auch bei Holland oder Finnland so, denn ich kann mir nicht wirklich vorstellen, daß irgendjemand tatsächlich eine Antimoderne à la Putin oder Erdogan herbeisehnt). Aber ist Merkels Politik der Austerität und gleichzeitigen Sozialisierung der südeuropäischen Schulden über die Bankenrettung alternativlos? Oder anders: Fällt Deutschland die Rolle der europäischen Führungsmacht zwangsläufig zu und hat nur die Wahl, sie entweder als Wirtschaftshegemon oder eben wieder militärisch auszuüben? Es ist doch bereits Bismark’sche Politik, die deutsche Kanzler in Europa machen. (Wenn ich die Argumentation der AfD-Befürworter und ihrer entschiedenen Gegner ansehe, denke ich, mit meiner Wahrnehmung komplett aus dem Koordinatensystem zu fallen, daß die politische Landschaft beschreiben soll.) Daß sich so viele Wähler von der jetzigen AfD mit samt dieser antimodernistischen Kulturkritik Erlösung versprechen, ist auch ein Mangel an politischen Alternativen, bzw. wahrscheinlich an Phantasie. Ich meine, mit Blockzugehörigkeit hat das Ganze ursächlich nichts zu tun.
Lieber Klaus J. Nick, eine wirklich europäische Politik – im Gegensatz zur Hegemonialpolitik, die Schäuble und Merkel in der Eurokrise betrieben hätten – hätte natürlich aus der Eurozone eine Transferunion gemacht, wie ja die Bundesrepublik zu DM-Zeiten eine Transferzone war und jetzt auch ist, siehe Länderfinanzausgleich. Stattdessen wollte man, wie ich es beschreibe, die Eurozone in einer Weise thatcherisieren, wie es Thatcher in Großbritannien nie gewagt hätte. Dazu habe ich hier und anderswo genug geschrieben. Das war schon schlimm genug. Aber was die AfD will, die Desintegration Europas, ist noch schlimmer.
Hier ist der Entwurf des Grundsatzprogramms der AfD, aus dem ersichtlich ist, dass ich nicht übertreibe:
https://www.alternativefuer.de/wp-content/uploads/sites/7/2016/03/Leitantrag-Grundsatzprogramm-AfD.pdf
Sehr interessant. Vielen Dank.
Ich weiß, wie gefahrlos die Gegenfrage(n) ist (sind), weil nichts detailliert begründet werden muss. Trotzdem: Wollte Deutschland jemals westlich werden, bzw. war Adenauers Politik nicht ein notwendiges kleineres Übel innerhalb der Blöcke? Ist die ‚rheinische‘ (soziale) Marktwirtschaft nicht letztlich eine Weiterführung der Bismarck’schen Sozialpolitik, die die Großindustrie vor dem Zorn der besitzlosen Massen, die sie selber produzierte, geschützt hat? Schützen sich mittlerweile deutsche Regierungen nicht generell vor dem Volkszorn in Folge ihrer einseitigen Wirtschaftsförderungspolitik durch (beliebig skalierbare) soziale Wohltaten? Hat Deutschand überhaupt den Feudalismus überwunden?
So.
Wer wirklich predigt – Thatcher hin Thatcher her – Deutschlands Schicksal würde von ‚fremden Mächten‘ abhängen (‚Souveränität‘), will politische Verantwortung nach außen deligieren. Wieso hat Deutschland keinen Bernie Sanders???
Lieber Klaus J. Nick, Ihre Frage ist Ausdruck des Problems, das ich anspreche. Holland oder Finnland können sich ruhig fragen, in welches Lager sie gehören, das ist weltpolitisch nicht bedeutend. Deutschland als „Macht der Mitte“ (Herfried Münkler)hat eine andere Verantwortung.
Wenn der letzte Satz eine Drohung ist, ist dieser Artikel nicht auf dem neuesten Stand der geopolitischen Kontroversen.
Und wenn Donald Trump Präsident wird?
Die Liberalen haben zumeist eine wirtschaftliche Perspektive, oftmals als Beweggrund für andere Ziele getarnt, während die Kultur als Nebenprodukt ihr Dasein zugestanden bekommt.
Was die Nato, eine Fremdenlegion im Dienste der westlichen Finanzoligarchie, wirklich überflüssig macht, sind ihre nuklear aufgerüsteten Gegner. Aber Deutschland soll natürlich unten bleiben, deshalb auch die Weltkriege, damit andere die Sahne abschöpfen können.
Es bleibt für mich ein Rätsel, aber am Ende werden die Liberalen Europa gegen die Wand fahren.
Deutschland hat es nicht geschafft ein Land der Mitte zu bleiben, wie es Bismarck intendierte, was Europa Deutschland so oder so nicht verzeihen wird. Und goutieren kann es Europa wahrscheinlich auch nicht.
Die EU als Sklaventreiber, als Geldumverteiler, langfristig ein schwaches Argument. Noch nichteinmal ein liberales.
Tja, GUDE, Sie sind ein gutes Beispiel dafür, dass sich rechts und links kaum unterscheiden. Sie sind vermutlich AfD-Sympathisant, aber Ihr Vokabular hätte auf einem Parteitag der SED anno 1953 (oder der KPD/AO 1973) kein negatives Aufsehen erregt. Ich könnte auch sagen: QED.
http://www.sueddeutsche.de/pol.....-1.2924188
Thatcher konnte sich ja seinerzeit nicht durchsetzen, also wieso sollte man sie hassen? Allerdings sollte man mehr George Bush senior lieben, denn der Mann stand zu seinem Wort und war der einzige Staatschef, der klar für die deutsche Einheit war. Genauso wie Reagan, der nicht nur den German-American Day eingeführt hat, sondern auch klar, den Abriß der Mauer forderte, was eine große Empörung in der „deutschen“ Medien- und Politiklandschaft zur Folge hatte. Damals war Gauland noch in der CDU, und Merkel war Moskau-Fan.