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Helmut Schmidt und das deutsche Nazi-Gen

Helmut Schmidt war ein zufälliger Kanzler und ein Kanzler des Übergangs. Er wurde 1974 Regierungschef, nachdem sein visionärer, aber willensschwacher Vorgänger das Amt in einem Anfall von Depressionen hingeschmissen hatte; und er musste 1982 den Posten zugunsten eines anderen Visionärs, Helmut Kohl, räumen.

Der als Architekt der „Neuen Ostpolitik“ damals vielerorts als Verräter verdächtigte Brandt wird heute allseits aus dem gleichen Grund verehrt. Man begreift, dass Gesten wie sein „Kniefall“ in Warschau den moralischen Status der Bundesrepublik aufwerteten, und dass die Ergebnisse seiner Ostpolitik – etwa die Vereinbarungen der „Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ – zum Rosten des Eisernen Vorhangs beitrugen. Kohl wird, wenn auch die von ihm geforderte „geistig-moralische Wende“ bis heute ausgeblieben ist, allseits als Architekt der deutschen Einheit und der Europäischen Union anerkannt. Aber unter Schmidt passierte nichts Weltbewegendes, und er hinterlässt kein politisch-geistiges Erbe.

Es gab, gewiss, die blutige Farce des RAF-Terrors, den Schmidt als nationalen Notstand behandelte, obwohl weder Staat noch Gesellschaft durch den Amoklauf einiger Bürgerkinder je ernsthaft gefährdet waren. Aber das war’s auch schon.

Merkwürdigerweise ist jedoch Schmidts Ansehen seit dem Ende seiner Kanzlerschaft stetig gewachsen, was nur bedingt damit zu tun hat, dass er einer der Herausgeber der „Zeit“ ist, dem Pflichtblatt des liberalen Bildungsbürgertums. Seine gesammelten Gespräche mit dem Chefredakteur jener Zeitung wurden ebenso zum Bestseller wie Schmidts Memoiren und das Buch „Unser Jahrhundert”, das Protokoll einer Unterhaltung mit dem amerikanischen Historiker Fritz Stern, das ich neulich mit wachsendem Entsetzen gelesen habe.

Was die Deutschen an Helmut Schmidt bewundern, ist schwer zu sagen. Die Nostalgie spielt vielleicht eine Rolle. Als Schmidt Kanzler war, schien die Welt zwar nicht in Ordnung, aber doch geordnet und überschaubar zu sein. Der Ost-West-Konflikt dominierte die Politik. Westdeutschland saß sicher und relativ bedeutungslos unter dem Atomschirm der USA; es wurde an der Elbe verteidigt, nicht am Hindukusch. Der Zusammenbruch des Ostblocks lag ebenso jenseits des Horizonts wie die Globalisierung. Hinzu kam eine Politik der umfassenden sozialen Alimentierung. Obwohl Schmidt nach der Ölkrise von 1973 immer wieder die Unhaltbarkeit des üppigen westdeutschen Sozialstaats verkündete, erhöhte er immer wieder die Staatsausgaben, getreu seinem Diktum, fünf Prozent Inflation seien besser als fünf Prozent Arbeitslosigkeit. Gegen Ende seiner Kanzlerschaft strebten beide Indikatoren der Zehn-Prozent-Marke zu. Und trotzdem gilt Schmidt vielen Deutschen, wenn auch kaum sonst jemandem, als praeceptor mundi in Sachen Wirtschaft. Die Deutschen haben sich nie mit dem Wirtschaftsliberalismus anfreunden können, der seit Reagan und Thatcher den Keynesianismus als Schulweisheit abgelöst hat, und es kann sein, dass es Schmidts unverblümter Etatismus ist, der ihn als Symbol einer vermeintlich goldenen Ära den Deutschen so sympathisch macht. Hinzu kommt seine realpolitische, an Kissinger geschulte Skepsis gegen jeden Versuch, die Welt zu ändern und sich in die Angelegenheiten anderer Länder einzumischen, was einer aus der Historie heraus verständlichen, ja fast sympathischen, wenn auch unhaltbaren deutschen Neigung entgegenkommt, sich als etwas groß geratene Schweiz zu empfinden.

Doch nun zu „Unser Jahrhundert“. Bei einer Unterhaltung zwischen einem jüdisch-amerikanischen Historiker, der als Kind aus Deutschland fliehen musste, und einem deutschen Politiker, der acht Jahre in Hitlers Armee diente, spielen naturgemäß der Nationalsozialismus und der Holocaust eine große Rolle. Schmidt bekennt, ihm sei „der ganze Prozess“ immer noch „ein völliges Rätsel“. Er misstraue immer noch seinen deutschen Mitbürgern, weil er – Sarrazin-Freunde aufgepasst! – davon ausgehe, dass „es irgendwelche Gene geben muss, die hier eine Rolle spielen“. Stern ist über diese „biologistische, fast rassistische“ Herangehensweise an geschichtliche Ereignisse zu Recht entsetzt, aber Schmidt bleibt ungerührt: „Nennen Sie es eine ererbte Eigenschaft … Wenn Sie die mit dem Wort Gen verbundenen Konnotationen vermeiden wollen, nennen Sie es eine Prädisposition.“

Schmidts „biologistische, fast rassistische“ Erklärung der deutschen Anfälligkeit für Biologismus und Rassismus ist natürlich genauso absurd wie Sarrazins biologistische und rassistische Erklärung für das Versagen des deutschen Schulsystems. Aber wie Sarrazins Provokation den großen Vorteil hat, jede konkrete Diskussion über Verbesserungen im Keim zu ersticken, so hat auch Schmidts scheinbar radikale Kritik am deutschen Nazi-Gen den Vorteil, jede konkrete Untersuchung deutscher Geschichte und individueller Verantwortung im Grunde genommen überflüssig zu machen.

So kann Schmidt, der 14 Jahre alt war, als die deutschen Eliten Hitler die Macht übergaben, und der einen jüdischen Großvater hatte, dem er beim Fälschen des Ariernachweises half, dennoch im Gespräch mit Stern behaupten, er und seine Familie hätten „als Beamte aus der unteren Mittelschicht“ schlicht und einfach „keine Ahnung gehabt, was das Wort Jude bedeutete“. „Das bezweifle ich“, sagt Stern mit bewundernswerter Zurückhaltung. Wenn man die Rolle des Antisemitismus in der Nazi-Propaganda bedenkt, wenn man bedenkt, dass gerade jüdische Beamte als erste von den Diskriminierungen der Nazis betroffen wurden, so muss man Schmidts Mär von der Ahnungslosigkeit seiner Familie als offenkundige Schutzbehauptung einstufen, ebenso wie seine Behauptung, seine Familie habe vom Pogrom der Reichskristallnacht „einfach nichts mitbekommen“, oder seine Behauptung, er habe nicht gewusst, dass die Nazis die Konzentrationslager einsetzten, um aktuelle und potenzielle politische Gegner durch Terror „umzuerziehen“ – obwohl die Nazis, wie Stern zu Recht erklärt, dafür sorgten, dass die Existenz und Funktion der KZ bekannt wurden, um die Bevölkerung einzuschüchtern. Schmidt hingegen sagt, ihm sei klar geworden, dass die Nazis „verrückt“ waren, als sie die „entartete“ moderne Kunst angriffen, die er schätzte; dass sie „kriminell“ waren, habe er erst 1944 erkannt, als er vom Reichsluftfahrtministerium abkommandiert wurde, den Schauprozessen gegen die Verschwörer des 20. Juli an Freislers Volksgerichtshof als Claqueur beizuwohnen.

Dieses Bekenntnis, obzwar schockierend, ist immerhin ehrlich; aber es ist eben die Tatsache, dass so viele individuelle Deutsche es vorzogen, so viel so lange nicht zu bemerken und nicht zu wissen, dass so viele individuelle Deutsche lieber nicht fragten, was mit Juden, Kommunisten, Sozialdemokraten und kritischen Christen passierte,  dass so viele individuelle Deutsche offenbar keinen besonderen Widerwillen gegen die Diktatur, gegen den Militarismus und gegen den Rassismus empfunden, der jenes „Rätsel“ wenigstens teilweise löst, von dem Schmidt spricht. Hier gilt es, nach Ideologien und Institutionen, nach kulturellen und politischen Prägungen, nach der Verantwortung und dem Versagen von Eliten und Parteien, Militärs und Kirchen, Schulen und Verbänden, ja und eben auch von Familien und Individuen zu fragen, statt von einer genetischen Prädisposition zu schwafeln.

Wie wenig der biologistische Ansatz hilft, zeigt sich daran, dass Schmidt sich selbst offenkundig – vielleicht dank seines nichtarischen Großvaters – als frei vom verhängnisvollen deutschen Gen empfindet und trotz seiner acht Jahre in der Wehrmacht und seiner selbst eingestandenen Blindheit gegenüber dem verbrecherischen Charakter des Regimes ein erstaunlich reines Gewissen hat. Deshalb kann er kategorisch behaupten: „Deutschland hat keine Verantwortung für Israel.“ Man müsse „sich vor Augen führen, dass es höchstens 15 Millionen Juden weltweit gibt“, und dass Israel „nur ein kleiner Staat ist, der durch seine Siedlungspolitik in der Westbank und länger noch in Gaza (sic!) eine friedliche Lösung fast unmöglich macht.“ Man könnte meinen, die Tatsache, dass es nur 15 Millionen Juden gibt, von denen sechs bis sieben Millionen in jenem von Feinden umgebenen „kleinen Staat“ leben, gerade eine gewisse Verantwortung bei jenen begründet, die unter dem Schutz der Wehrmacht, in der Schmidt diente, Europas Juden erfolgreich ausrotteten. Aber nein, für Schmidt bedeutet die Tatsache jüdischer Schwäche, dass es leichtsinnig wäre, die historisch guten Beziehungen Deutschlands zur bevölkerungs- und ölreichen arabischen Welt durch das Herausstellen einer besonderen Verantwortung für Israel zu gefährden, wie es Kanzlerin Angela Merkel 2008 bei ihrem Staatsbesuch getan hat. Leider, klagt Schmidt, „traut sich kaum jemand, Israel zu kritisieren, aus Angst vor dem Vorwurf des Antisemitismus“ – eine ebenso falsche wie weit verbreitete Behauptung aus dem Handbuch des sekundären Antisemitismus.

Gerade angesichts solcher Kaltschnäuzigkeit ist man fast geneigt, Schmidt Recht zu geben und anzunehmen, die Deutschen hätten tatsächlich eine genetische Prädisposition zur Judenfeindschaft. Jedenfalls sollten diejenigen, die heute Sarrazin bejubeln, sich vor Augen führen, dass eine solche Mutation dem Rest der Welt erheblich einsichtiger erscheint als die von Sarrazin behauptete genetische Minderwertigkeit derjenigen, die in dieses Land einwandern oder in seinem Schulsystem versagen. Die Überlegung, die Deutschen seien – sei es kulturell, sei es eben biologisch – in besonderem Maß für den Militarismus anfällig, lag ja auch hinter dem Morgenthau-Plan, der tatsächlich darauf hinauslief, aus Deutschland eine größere Schweiz zu machen, in der Hoffnung, seinen Bewohnern im Lauf einiger Generationen „das Marschieren auszutreiben“, wie Franklin D. Roosevelt es formulierte.

Erstaunlicherweise hat in der Diskussion über Sarrazin, das Türken-, Unterschichten-, Basken- und Juden-Gen, so weit ich weiß niemand auf Schmidts Auslassungen zum deutschen Nazi-Gen verwiesen. Das macht Mut. Es beweist, denke ich, dass die Leute zwar Politiker-Bücher kaufen, sie aber nicht lesen. Und das ist gut so. Mit dem Kauf helfen sie den Verlagen, wirklich gute Bücher querzufinanzieren, mit dem Nichtlesen beweisen sie einen sicheren Instinkt für das, was sich lohnt. Hoffen wir, dass sich dieser Instinkt auch bei der Bewertung von Sarrazins Bestseller durchsetzt. Denn wie sagte FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher richtig: Der Biologismus ist das Dümmste, was sich eine demokratische Gesellschaft leisten kann.

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55 Gedanken zu “Helmut Schmidt und das deutsche Nazi-Gen;”

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    Nun, nachdem ein E. El Calvarosso am 01.03.2016 einen Vorschlag zur Erforschung des Nazi-Gen bei den rechtsnationalen und rechtsradikalen Parteien und Politiker gemacht hat, stellt sich die Frage:

    „Wie weit ist denn nun im vergangenen Jahr die Erforschung des Nazi-Gen vorangekommen.“

    Oder sitzen da die Blockierer der rechten Szene im Bundestag auf der Leitung und lassen jeden der da etwas erforschen will von den Türstehern der etablierten Parteien – den sogenannten Geheimdiensten und Verfassungsschützern – akribisch bespitzeln und in Nazimanier abschalten.

    Um Diskussion wird gebeten!

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    Nun 01.März 2016: NPD, AFD, CSU, Rassismus, Ausländerhetze, brennende Asylunterkünfte und ein CDU-Ministerpräsident der die massenhaften Rechtsverletzungen gegen Ausländer, Asylsuchende, Frauen und Kinder klein redet und mit der „Besorgnis der anständigen Bürger“ rechtfertigt.
    Da wäre doch eine eingehende Untersuchung des Nazi-Gen in den Köpfen unserer zum Rassismus neigenden Politiker geradezu ein MUSS.
    Ich schlage vor mit folgenden zu beginnen:
    Frank Franz, Alexander Gauland, Horst Seehofer, Markus Söder, Klaus Armstroff, Tony Gentsch, Erika Steinbach, Volker Kauder, Frauke Petry, Beatrix von Storch, Stanislaw Rudi Tillich, Peter Hinze, Matthias Fischer, Gerda Hasselfeldt, Ilse Aigner, Jörg Meuthen, Albrecht Glaser, Hans-Peter Friedrich, Hermann Gröhe, Thomas de Maizière, Wolfgang Schäuble, Ursula von der Leyen, Frank Schwerdt, Ronny Zasowk.
    Diese Liste ist weder repräsentativ noch vollständig. Sie steht lediglich für eine lockere Auflistung eines „besorgten Bürgers“.

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    Die Biologie bietet die einzige vernünftige Grundlage, den Menschen als Lebewesen, in seinem Verhalten, auf naturwissenschaftlicher, rational gesicherter Grundlage, richtig zu verstehen !! Humanethologie, Soziobiologie, Bioökonomie usw. heißen die Werkzeuge, mit denen man sich gerade auch das Sozialverhalten des Menschen, umfassend und tiefschürfend, bis zu den genet. Grundlagen hin, verstehend erschließen kann !! Dass ein untrügliches, umfassendes Verständnis des menschlichen Verhaltens, dem Ewigen Völkerparasiten nicht passt, ist verständlich !! Ebenso, wie sein massenmedialer Kampf, gegen jegliche, ihm gefährlich werdende Erkenntnis, in den Reihen, der von ihm als Wirtsvölker, zur umfassenden Ausbeutung, bestimmten Menschheit !!

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    Jens sagt:
    12. September 2010 um 21:16
    „Offen gestanden: ich habe auch gar keine andere Antwort von Alan Posener erwartet.“

    „Für sie gibt es verschiedene Namen, die an sich ein und dasselbe bedeuten: Fairneß, Vertrauen, Toleranz.
    Wie man in den Wald ruft, so schallt es heraus. Das hat man uns schon oft gesagt, als wir noch Kinder waren. Und in unserem Kopf wissen wir es auch; aber glauben tun es nur einige wenige Glückliche.
    Glaubten wir es nämlich, dann wüßten wir, daß wir nicht nur die Schöpfer unseres eigenen Unglücklichseins sind, sondern genausogut unsere Glücklichkeit selbst schaffen könnten.“

    Paul Watzlawick: Anleitung zum Unglücklichsein, S. 123f

    @ Allan Posener:

    „EIN Aspekt dieses Terrors im Wahn der RAF-Leute begründet, sich in einer historischen Situation zu befinden, die sich vergleichen ließe mit der Endphase der Weimarer Republik.“

    Die Ideengeschichte der RAF ist für mich Neuland. Bitte um einen Literaturhinweis dazu.

    Wo genau verwendete Marx das Wort Farce über Hegels Diktum?

    „Als sich hingegen 1972 der Terror nicht gegen deutsche “Politiker und Manager” und andere wichtige Leute redete, sondern nur gegen israelische Sportler, da gingen die Olympischen Spiele in München seelenruhig weiter.“

    Am 5. September 1972 war ich sieben Jahre alt und erinnere mich an bleierne Schwere, die von der Berichterstattung dieser Katastrophe ausgelöst wurde. Vielleicht ist der Wikipedia-Artikel darüber nicht die zuverlässigste Quelle, aber er vermittelt ein anderes Bild über die Ereignisse. (http://de.wikipedia.org/wiki/G.....die_Spiele)Der Vorwurf Ihrer Worte ist nicht von der Hand zu weisen. Sind Ihnen eventuell interne Diskussionen darüber bekannt? So zwischen den Organisatoren und der Regierung? Mir leider nicht. Diese furchtbaren Morde ereigneten sich unter Bundeskanzler Willy Brandt. Helmut Schmidt wurde am 15. Mai 1974 vereidigt.

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    „Als sich hingegen 1972 der Terror nicht gegen deutsche “Politiker und Manager” und andere wichtige Leute redete, sondern nur gegen israelische Sportler, da gingen die Olympischen Spiele in München seelenruhig[!] weiter.“
    Und dies geschah auf direkte Anordnung des Nazi-Gen-Trägers Helmut Schmidt, ja?

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