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„Ich fühle mich abgewertet durch die Frauen mit Kopftuch“

Unbequeme Kämpferin: Eva Quistorp 2023 bei einer Veranstaltung der Böll-Stiftung. Foto: Ole Schwarz

Eva Quistorp, Mitgründerin der Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung und der Grünen, spricht in einem langen Interview zu ihrem 80. Geburtstag über ihren ewigen Kampf gegen linke Männer und patriarchalische Strukturen unter Migranten, Fehler von Merkel und Habeck, den neuen alten Hass auf Israel und Juden und falsche Pazifisten wie Alice Schwarzer.

Sie sind in einer evangelischen Pfarrerfamilie in der westfälischen Provinz aufgewachsen, haben in Berlin während der Studentenbewegung Germanistik, Politikwissenschaft und evangelische Theologie studiert und sind Gymnasiallehrerin geworden. Was hat Sie damals dazu gebracht, statt einen bürgerlichen Lebensweg einzuschlagen, die Frauen-, Friedens- und Umweltbewegung mit zu initiieren und später die Grünen mitzugründen?

Eva Quistorp: Ich gehörte zur Nachkriegsgeneration, die einen Bruch mit der Vergangenheit wollte und die Chance dazu hatte. Heute glaube ich allerdings, dass ich doch stärker von meinem Elternhaus geprägt wurde, als ich damals dachte. Ich bin in Detmold geboren. Mein Vater, der wie meine Mutter in der Bekennenden Kirche war und aus Bonn stammte, ist dorthin gegangen, weil sein Vorgänger von den Nazis deportiert wurde. Meine Eltern haben mir nie etwas mit dem Zeigefinger beigebracht. Aber das war das Klima, in dem ich groß geworden bin.

Im Studium bin ich bei Professor Gollwitzer gelandet über seine Nichte, die Jüdin war. Wir fanden uns sofort sympathisch. Deshalb denke ich, dass mein Weg zur Friedensbewegung vorgezeichnet war. Mein Eltern gehörten zum Flügel der Bekennenden Kirche von Bonhoeffer und Niemöller, die für Juden gebetet haben und nicht nur für den Erhalt der evangelischen Kirche gegen die Nazis protestierten. Mein Vater war auch an den Protesten gegen die Wiederbewaffnung in den 1950er Jahren beteiligt. Dadurch kam auch ich in Kontakt zu Gustav Heinemann und Erhard Eppler.

Und der Weg zur Umweltbewegung?

Quistorp: Der kam aus dem Pfarrhaus mit Garten. Da habe ich den Jahresverlauf der Natur erlebt. Das war mit Arbeit wie Unkrautjäten, aber auch mit Freuden verbunden. Die Nähe zu Bäumen und Blumen, die Apfelbaumplantage meines Onkels und eine Kuh zu hüten, das war eine gute Ergänzung zum Bildungsbürgertum meiner Familie. Das hat mich wohl zur Umweltkämpferin gemacht. Bei den 68ern und denen, die später aus den K-Gruppen zu den Grünen kamen, spielte die Umwelt überhaupt keine Rolle.

Das war also damals etwas ganz Neues?

Quistorp: Ja, und das verbindet sich für mich sehr mit der Frauenfrage. Beides richtete sich gegen die traditionelle Linken. Die Frauenbewegung begann Anfang der 1970 Jahre mit der Forderung nach Abschaffung des Abtreibungsparagrafen 218, aber auch mit der Ansage, dass wir den Welterklärungsformeln der Linken nicht mehr folgen wollten, die wie die Ideologien, gegen die sie sich richteten, von Männern dominiert wurden. Mit dem Feminismus ist bei mir viel aufgebrochen. Meine Mutter, Tanten und Großmütter waren auf die klassische Rolle als Hausfrauen beschränkt. So wollte ich nicht werden. Zugleich lebten sie sehr bescheiden. Nachhaltig würde man heute sagen. Vor dem Essen wurde gebetet. Das und Kirchenlieder haben in mir den Wunsch nach Bewahrung der Schöpfung und der Natur geweckt.

Tomaten auf linke Patriarchen

Die feministische Bewegung war also auch ein Aufstand gegen linke Männer?

Quistorp: Die Männer hielten lange Reden, die Frauen durften Kaffee kochen. Es gab damals eine selbstbewusste Frau im AStA der Freien Universität, die war für mich ein Vorbild. Sie war die einzige Frau im Akademischen Senat und die einzige, die auf Teach-Ins geredet hat. Alle anderen waren Männer. Sie war auch diejenige, die bei dem berühmten SDS-Kongress in Frankfurt Tomaten auf die führenden SDS-Männer warf. An dem Abend haben wir uns zum ersten Mal an der FU als 100 Studentinnen getroffen. Da hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, unter kämpferischen Frauen zu sein. Als Germanistik-Studentin habe ich weibliche Autoren wie Ingeborg Bachmann schätzen gelernt. Und schon 1969 habe ich mit einer Theologie-Mitstudentin den ersten feministischen Gottesdienst gehalten. Wir haben die Liturgie geändert, um aus den Männerstrukturen und der patriarchalischen Sprache auch in der Kirche auszubrechen.

Auch bei den Grünen dominierten lange Zeit Männer.

Quistorp: Als ich beim Gründungsparteitag in Karlsuhe eine Frauenquote forderte, war das ein Begriff, den es bis dahin nicht gab. Petra Kelly hatte mir zugerufen, als ich Rederecht bekam: „die Quote!“ Mir war war irgendwie klar: Sie meinte eine Frauenquote. Die Grünen haben das dann gleich in die Praxis umgesetzt. Unser Öko-Feminismus war aber nur in der Minderheit.

Der Kampf gegen Ungerechtigkeiten und gegen die Macht der Männer über Jahrtzehnte erforderte viel Kraft. Dazu gehörten ja auch Niederlagen. Woher nehmen Sie diese Kraft bis heute?

Quistorp: Ich hatte sehr viel Kraft aus mir heraus und von den vielen Frauen und Männern, mit denen ich in der ganzen Welt zusammengearbeitet und gekämpft habe. Ich hatte allerdings auch immer wieder Krankheitseinbrüche. Den ersten hatte ich, als ich 1973 von einer langen Reise durch Südamerika wiederkam. Da war ich in Chile, kurz bevor das Militär gegen den sozialistischen Präsidenten Allende putschte. In Lateinamerika habe ich wie in Afrika viele Menschen kennengelernt, die ihre Kraft wie ich aus dem christlichen Glauben zogen. Vorher war ich in den USA. Obwohl auch ich stark durch den Widerstand gegen den amerikanischen Imperialismus und den Vietnamkrieg geprägt war, habe ich mich dort stark an Martin Luther King und der Bürgerrechtsbewegung orientiert. Ich war erschrocken über die Kluft zwischen Arm und Reich, habe aber viele sehr kritische Amerikaner getroffen. Deren Freiheitswillen und die amerikanische Frauenbewegung haben mir und meinen Mitstreiterinnen viele Anstöße gegeben.

Hat diese lange Reise ihr Weltbild verändert?

Quistorp: Den Internationalismus lernte ich dadurch nicht nur aus Büchern und linken Zirkeln, sondern durch eigene Anschauung. Die USA und die unterschiedlichen politischen Systeme in Südamerika habe ich als viel widersprüchlicher wahrgenommen als viele hier. In Chile bin ich in eine existenzielle Situation gekommen, weil da schon im Herbst 1972 der rechte Widerstand gegen die Volksfront-Regierung lief. Das begleitet mich bis heute. Die Hoffnung auf Veränderung bei den Armen, aber auch die Kämpfe innerhalb der Linken, auf der anderen Seite die Reichen mit Unterstützung der CIA. Da habe ich einen starken Schub an Realismus bekommen und gelernt, dass Reformen ein besserer Weg sind als revolutionäre Umstürze. Mitbekommen habe ich auch, dass es selbst unter den Ureinwohnern Machismus gab und gibt.

In Deutschland entstand in dieser Zeit die Antiatombewegung mit den ersten Besetzungen von AKW-Bauplätzen in Whyl, Brokdorf, Gorleben und anderen Orten. Waren sie auch da beteiligt?

Quistorp: Ich war 1973 als Lehrerin in den Schulferien in Whyl. Da habe ich gelesen: „Frauen erklären Atom und Blei den Krieg.“ Das war die Parole für mich. Widerstand nicht nur gegen den militärischen Krieg, sondern auch gegen den gegen die Natur. Bei der ersten großen Demo in Brokdorf kam dann die Frage, ob man gewaltsam gegen den Bau von AKWs vorging. Da waren wir in meiner WG gespalten. Ich habe mich gegen Gewalt entschieden.

„Eine Grüne Partei wollte ich erst gar nicht“

Wie ist bei ihnen und anderern die Idee entstanden, die Anti-AKW-Bewegung und die anderen sozialen Bewegungen zu einer grünen Partei zusammen zu führen?

Quistorp: In Berlin habe ich Roland Vogt kennen gelernt, einen Pafizisten, der damals noch in der SPD war und später einer der ersten Grünen-Bundestagsabgeordneten wurde, und durch ihn Jo Leinen, der den Bundesverband der Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU) leitete. Der nahm mich mit nach Bonn zum Büro der Internationalen Föderalisten. Das war wohl ein entscheidender Schritt, bevor ich Petra Kelly traf, die mich in die Grüne Bewegung reingezogen hat. Dadurch habe ich gelernt, wie wichtig ein Organisationsnetzwerk ist. Eine neue Partei wollte ich aber überhaupt nicht. Ich kam ja aus der antiautoritären Bewegung. Petra Kelly hat mich da klug eingebunden. Sie hatte in Deutschland keine Basis und hat sofort erkannt, dass ich wie Frauen, die sie aus den USA und aus Brüssel kannt, sowohl in der Umwelt- als auch in der Frauenbewegung verankert war. Die Antiatombewegung machte in der Zeit die ersten bundesweiten Treffen. So entstand nach und nach der Gedanke, eine Partei zu gründen, um Frauen-Solidarität mit dem Einsatz für Umwelt und Natur zusammen zu bringen. Bei einem internationalen Kongress gegen Atom traf ich den Vorsitzenden einer Metallergewerkschaft und die Vorsitzende eines Hausfrauenverbands, für mich als Feministin ein Schock. Dadurch habe ich gelernt, wie wichtig es ist, Bündnisse mit unteschiedlichen gesesellschaftlichen Gruppen zu schließen.

Petra Kelly und sie bildeten also ein Frauenduo zur Gründung der Grünen.

Quistorp: Petra Kelly war ein Energiebündel. Ich war als Pfarrerstochter eher auf nicht ehrgeizig und zurückhaltend getrimmt. Ich war für eine Basisbewegung, um eine neue Demokratie von unten aufzubauen. Wir waren ein sehr unterschiedliches Gespann. Sie hatte einen liberal-katholischen Hintergrund mit Kontakten zur Bürgerrechtsbewegung in den USA. Ich war Teil der sozialen Bewegung. Aber eigentlich war sie die Powerfrau mit Organisationserfahrung.

Hätten Sie sich damals vorstellen können, dass aus den teilweise chaotischen Anfängen Jahrzehnte später eine staatstragende Partei würde, die das Land nachhaltig verändert und geprägt hat?

Quistorp: Ich hätte nicht gedacht, dass sie so mächtig würde im Sinne eines auch kulturellen Einflusses. Petra Kelly hatte damals den Slogan der Anti-Parteien-Partei ausgegeben. Aber gleichzeitig waren sie und andere durchaus an Macht interessiert, um ihre politischen Ziele durchzusetzen. Das war nicht mein Denken, wie bei vielen in den Basisbewegungen in ganz Europa. Dort haben mir manche übel genommen, als ich mich dann doch für die Grüne Partei als Reformprojekt einsetzte, um zu verhindern, dass sich der Widerstand immer mehr radikalisierte. Von der Idee der Graswurzelbewegung habe ich dennoch nicht gelassen.

Die Grünen standen anfangs allein gegen die anderen Parteien. Heute koalieren sie fast mit allen.

Quistorp: Vor allem bei der CDU und auch in der SPD gab es lange große Ablehnung. Aber schon Willy Brandt hatte von der blauen Luft über der Ruhr gesprochen, junge Gewerkschafter engagieren sich für Umweltschutz. In der CDU setzte sich Herbert Gruhl für Ökologie ein. Da gab es Anknüpfungspunkte. Wir als Grüne haben das gebündelt. Mit Erfolg.

Warum haben Sie als Mitgründerin nie ein führendes Amt in der Partei oder einen Ministerposten in einer Regierung übernommen? Wollte sie das nicht oder wollte man sie nicht?

Quistorp: Petra Kelly wollte mehr Frauen in die Spitze. Meine Haltung dagegen war: gemeinsam sind wir stark. Ich wollte Herrschaftsstruktur und Machtapparate vermeiden. Dazu kam das Christliche, andere zu befähigen eine Stimme zu haben. Ich wurde mit 90 Prozent der Stimmen in den ersten Bundesvorstand gewählt, habe aber verzichtet, um in den Vorstand des BBU zu gehen, weil mir klar war, dass die neue Partei eine gesellschaftliche Verankerung brauchte. Ich habe also ein Führungsamt übernommen, aber eins, das nicht so im Fokus der Öffentlichkeit stand. Außerdem wurde ich Geschäftsführerin der da gerade entstehenden Friedensbewegung und habe die großen Demonstrationen in Bonn und eine Menschenkette in Baden-Württemberg organisiert. Ohne diese beiden Bewegungen wären die Grünen 1983 nicht in den Bundestag gekommen. Ich war das Bindeglied. Parteikarriere habe ich dadurch jedoch nicht gemacht.

Bedauern sie das?

Quistorp: Nein, dafür bin ich wohl nicht geschaffen. Ich war aber sehr leidenschaftlich Europaabgeordnete. Auch das war für mich eine wichtige Erfahrung, die an meine Verbindung zu den sozialen Bewegungen in anderen europäischen Ländern anknüpfte.

Vom Grünen-Machtapparat schlecht behandelt

Haben Sie den Eindruck, dass ihre Rolle bei der Gründung der Grünen nicht genug gewürdigt wird?

Quistorp: Petra Kelly und Waltraud Schoppe, die beide zum ersten Vorstand gehörten und wie ich aus der Frauenbewegung kamen und gegen das Mackertum standen, werden nicht in der Bedeutung wahrgenommmen, die wir hatten. Wir sind alle vom Grünen-Männerapparat schlecht behandelt worden und ziemlich vergessen.

Die Grünen haben einen weiten Weg zurückgelegt und sind jetzt im Bund wieder in der Opposition. Wenn Sie zurückschauen, überwiegt da bei Ihnen der Stolz, was sie erreicht haben oder die Sorge, dass vieles wieder in die falsche Richtung geht mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und dem Bremsen der Energiewende durch die jetzige Bundesregierung und Trump?

Quistorp: Ich empfinde die Entwicklung der Grünen als Trost in dieser schreckliche Weltlage. Dass sie fest an der Seite der Ukraine stehen; dass sie weiter für Menschen- und Bürgerrechte kämpfen und für Klimaschutz; dass sie aber auch gelernt haben, Kompromisse in Regierungsbündnissen mitzutragen, das alles gibt mir Hoffnung.

Aber die Weltlage ist dramatisch. Putin führt Krieg gegen den freien Westen, in Washington regiert eine unberechenbarer, autokratischer Präsident, auf den sich Europa nicht verlassen kann.

Quistorp: 2017 habe ich eine Frauendemo gegen „Trumputin“ organisiert. Da regierte Trump zum ersten Mal, Putin hatte schon Krieg in der Ukraine, in Georgien und Tschetschenien geführt. Der internationale Blick hilft mir, solche Entwicklungen besser zu verstehen. Ein Einschnitt waren für mich die Jahre 2000 und 2001 mit den Bewegungen gegen das Erstarken der Weltfinanzmärkte. Da habe ich Attac mitgegründet, weil ich befürchtete, dass sich in der Weltwirtschaft etwas verändert, was alle demokratischen Fortschritte gefährdet, und man neue Regeln finden muss. Leider sind wir da nicht weit gekommen. Die Finanztransaktionssteuer gibt es immer noch nicht. Dazu kam 2001 der islamistische Anschlag auf die USA. Auch das war eine globale Wende. Seit 25 Jahren kümmere ich mich auch um islamischen Fundamentalismus als Gefahr für Frauenrechte. Bei Reisen nach Nordafrika habe ich Männermassen erlebt, die sich gegen die Frauen stellen. Da gibt es zum Glück tapfere, kluge Feministinnen, die sich dagegen wehren und die ich unterstütze, genauso bei uns. Das Thema kommt er leider viel zu wenig vor.

Also sind sie gar nicht so pessimistisch?

Quistorp: Es gibt immer noch überall auf der Welt fantastische soziale Bewegungen. Das Internet hilft ihnen, sich zu vernetzen. Es hat allerdings auch zur allgemeinen Verdummung beigetragen und Rechte gestärkt. Die Grünen auch in anderen europäischen Ländern können helfen, demokratische Strukturen zu erhalten. Deshalb bin ich froh, dass ich sie mitgegründet habe.

Obwohl sie die Friedensbewegung mit geführt haben, haben sie früh vor einem Völkermord im zerfallenden Jugoslawien gewarnt und die Nato zum Eingreifen in Bosnien gedrängt – gegen Widerstände in ihrer Partei. Und sie haben auch schon früh vor Putin und seinen Kriegsplänen gewarnt. War der Pazifismus naiv? Hat er gegen die falschen Feinde mobilisiert und den wirklichen Kriegstreibern bis heute das Feld bereitet?

Quistorp: Auch ich war in den 1980er Jahren von einem Idealismus getragen. Wie bei allen sozialen Bewegungen gab es einen Überschuss an gutem Willen. Der reicht aber nicht. Die Friedensbewegung war aber nicht durch und durch pazistisch. Zum Teil war sie eine Anti-Atomwaffenbewegung. Das ist weiterhin dringend. Ich habe es auch als eine Art Wiedergutmachung der Deutschen gesehen, dass sie noch einmal in ihre Familiengeschichten schauen und den Militarismus und Chauvinismus abbauen. Es gab allerdings auch einen starken Einfluss aus der kommunistischen Ecke und aus der DDR.

„Putins Faschismus lässt sich nicht sozialer Verteidigung aufhalten“

Heute wenden sich Pazifisten, die sich auf die Friedensbewegung berufen, gegen Waffenhilfe für die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen die russischen Aggressoren.

Quistorp: Ich war immer gegen den Austritt aus der Nato, den die Grünen lange gefordert haben, und gegen eine starke Senkung des Verteidigungsetats. Da kommt bei mir wieder die Bekennende Kirche ins Spiel, der Widerstand gegen die Nazis. Und ich wusste sowohl aus Lateinamerika als auch aus den antikolonialen Bewegungen in Afrika, dass es sehr wohl ein Militär geben kann, dass für progressive Ziele kämpft.

Aber tragen sie nicht Mitverantwortung dafür, dass bei vielen Deutschen heute ein „Ohne-mich“-Haltung herrscht?

Quistorp: Ich habe früh Demonstrationen gegen Putin und seine Kriegstreiberei organisiert. Auch um gegen falsche Vorstellungen anzugehen, man könne mit sozialer Verteidigung seinen Imperialismus und Faschismus aufhalten. Und mit Nett-Sein und Lieferkettengesetzen alles Böse von Deutschland fernhalten. Aber manchmal zerreißt es mich selbst, weil ich lieber meine verbliebene Energie in die gute alte Friedensarbeit stecken würde, als mit Argumenten dagegen anzuarbeiten.

Sind die Grünen zu Bellizisten geworfen, wie ihnen Linke vorwerfen?

Quistorp: Nein. Wir haben beim Bosnien- und Kosovokrieg unter heftigen inneren Auseinandersetzungen die richtige Lehre gezogen, dass das „Nie wieder“ bedeutet, keinen Vernichtungskrieg mehr zuzulassen und bedrohten Nationen auch militärisch beizustehen. Aus der Frauen-Friedensarbeit ist geblieben, dass Frauen an Friedensprozessen beteiligt werden müssen und das Gewalt gegen Frauen in Kriegen als solche gesehen werden muss. Das nützt jetzt auch Frauen in der Ukraine. Wir setzen uns als Grüne ja nicht nur für Waffenlieferungen ein, sondern auch für die Stärkung der Zivilgesellschaft und gegen Korruption. Das ist eine Gratwanderungen. Manchmal fühle ich mich erschlagen.

Haben Sie noch Berührungspunkte zu Alice Schwarzer, die mit Sarah Wagenknecht und anderen die Ukraine im Grunde zur Kapitulation aufruft.

Quistorp: Was uns eint ist der Kampf gegen die Unterdrückung von Frauen durch Islamisten. Sie hat mir aber schon immer Verrat an der feministischen Bewegung vorgeworfen, weil ich die Frauen- mit der Friedensfrage verbunden habe. Dadurch hätte ich sie dahinter zurückgestellt. Schwarzer und Wagenknecht tun so, als wären sie die Frauenfriedenskämpferinnen der 80er Jahre. Das stimmt vorne und hinten nicht. Wagenknecht war da noch in der SED.

Woher kommt aus Ihrer Sicht der israelbezogene Antisemitismus bei vielen Linken? Der Zionismus war ja in Teilen selbst eine linke emanzipatorische Bewegung. Die 68er Bewegung enstand aus Protest gegen die Nazi-Vergangenheit der Elterngeneration. Dennoch wird Israel, obwohl Millionen Juden Opfer des Faschismus waren, „Kolonialismus“ und „Apartheid“ vorgeworfen.

Quistorp: Der Islamismus ist eine rechtsextreme Bewegung mit vielen Berührungen zu den Nazis. Das verstehen aber viele Linke und Jüngere nicht. Sie glauben, eine antikoloniale Widerstandsbewegung von Unterdrückten zu unterstützen. Ich finde grauenhaft, was an den Unis und auf den Straßen los ist. Ich war in Berlin bei einer der Pro-Palästina-Demos, die im Grunde pro Hamas sind. Da stand ein einsamer Mann mit einer Israelfahne. Der musste von meheren Polizisten geschützt werden. Ich habe mich neben ihn gestellt. Sofort wurde ich von Demonstranten gefilmt und beschimpft. Schon vor 15 Jahren ist der alte Antisemitismus in neuer linker Weise hochgekommen. 2009 gab es in Durban eine UN-Konferenz. Da ist aus dem südafrikanischen ANC mit früheren Verbindungen zur Sowjetunion der Apartheidsvorwurf ins Spiel gebracht worden. Seitdem zieht er seine Runden auch durch die international verbundenen Zivilgesellschaften. Durch die Medien wird das noch verstärkt. Linke und islamistische Kadergruppen haben dadurch Auftrieb.

Und befeuern die Stimmung gegen Israel und Juden auch in Deutschland.

Quistorp: Leider. Israel wird nicht mehr mit dem Holocaust assoziiert, sondern mit Bildern vom Hunger und Krieg in Gaza, wie das auch Greta Thurnberg macht, die so große Verdienste um die Klimabewegung hat. Das zeigt die grässliche Macht des Internets, das Stimmungen schafft und das alte Klischee bedient: Juden töten Kinder. Das ist emotionale Erpressung. Auch innerhalb der Grünen gab und gibt es da Konflikte. Ich war die erste prominente Grüne, die in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem einen Kranz niedergelegt hat. Dagegen gab es Proteste. Die Grünen wurden damals von Linken dominiert, und die standen auf der Seite der PLO. Ich bin froh, dass Baerbock und Habeck nach dem 7. Oktober nicht mehr die Position vertreten haben wie der Bundesvorstand während der ersten Intifada. Damals stand ich mit der Forderung, dass wir Israel Waffen liefern müssen, alleine. Nun wiederholen sich die alten Auseinandersetzungen, jetzt aber mit linken Influencern. Es wird verpopt. Das macht es so schwer, dagegen anzugehen. Eine der israelischen Frauen, mit denen ich in der Frauenfriedensarbeite zu tun hatte, ist von den Hamas-Terroristen lebendig verbrannt worden. Dass ich das noch einmal erlebe, dass eine solche jüdische Frau verbrannt wird! Ich habe Wochen gebraucht, um das zu verarbeiten.

„Wir haben nicht hingeschaut, wer wirklich Schutz braucht“

Die Grünen haben sich immer für Migranten und deren Rechte eingesetzt. Tragen sie Mitverantwortung dafür, dass durch mangelnde Integration muslimische Einwanderer sich nun offen gegen Juden, gegen die westliche Kultur, gegen Frauenrechte und Homosexuelle wenden?

Quistorp: Auch wir Grünen haben nicht genau hingeschaut, wer wirklich Schutz braucht und Recht auf Asyl hat und wer nicht. Ich habe früh davor gewarnt, dass wir die Gesellschaft nicht überfordern dürfen. Als Urgrüne habe ich 2015 öffentlich Horst Seehofer zugestimmt, dass wir eine Obergrenze brauchen. Die grenzenlose Globalisierung geht mit einer unbegrenzten Migration einher. Es kann aber nirgendwo Grenzenlosigkeit geben. Es gibt nur grenzenlose Liebe. Die kann man aber nur selbst leben. Man kann sie nicht anderen aufoktroyieren und zum politischen Programm machen.

Das war aber 2015 die allgemeine Stimung.

Quistorp: Kurz vor ihrer Kehrtwende hat Merkel damals im Fernsehen noch einem palästinensischen Mädchen gesagt: „Wir können nicht alle aufnehmen.“ Das war eine richtige, vernünftige Haltung. Daraufhin wurde sie in den Medien als kaltherzig denunziert. Insofern tragen auch die Medien eine Mitverantwortung dafür, was dann passiert ist. Ich habe oft Shitstorms erlebt, aber durchgehalten. So erhält man jedoch nicht seine politische Karriere.

Als Folge der großen Einwanderung und der Integrationsprobleme ist die AfD erstarkt und heute doppelt so stark wie die Grünen. Hätte sich das vermeiden lassen?

Quistorp: Die Hauptverantwortung dafür tragen Merkel, SPD und die Linke. Sie haben immer gesagt, das mit den Wohnungen, Schulen und Arbeit für die Flüchtlinge bekommen wir schon hin. Gerade die SPD hätte wissen müssen, dass es da schon Wohnungsnot und viele soziale Spannungen und Integrationsproblem gab. Nach Merkels Spruch „Wir haben schaffen das“ habe ich selbst mit Flüchtlingsarbeit begonnen und schnell gemerkt, dass wir es nicht schaffen. Und habe kritisch darüber geschrieben und wurde ins Fernsehen eingeladen. Als Lehrerin habe ich schon vor 50 Jahren erlebt, dass es schwierig ist, vier oder fünf Migrantenkinder in einer großen Klasse zu integrieren. Wie soll das ein Lehrer schaffen, wenn mehr als die Hälfte migrantisch ist?

Weshalb fordern junge emanzipierte Frauen Verständnis und Toleranz für patriarchalische Stukturen in Teilen der migrantischen Community und dafür, dass muslimische Frauen und Mädchen gezwungen werden, Kopftuch zu tragen oder sich zu verschleiern?

Quistorp: Ich fühle mich dadurch abgewertet, dass nun soviele Frauen mit Kopftuch herumlaufen. Was sollen denn da die kleinen Jungs denken, die daneben laufen? Dass Frauen nichts wert sind, wenn sie nicht ihren Kopf und ihren Körper verdecken? Das ist die Wiederkehr einer globaler Ideologie, diesmal der islamistischen, wie in meiner Jugend der lenistischen und maoistischen. Die Leninisten haben den Gulag geleugnet. Für die Maoisten gab es die Kulturrevolution in China nicht. Die Hamas ist mindestens genauso grausam. Aber das wird ausgeblendet. Man nimmt sich die Oberfläche des Revoluzzerhaften und schaut nicht dahinter. Das ist eine üble Melange. Bei Grünen und der SPD ist es nicht so extrem, aber opportunistisch. Sie wollen Wählerstimmen bei Migranten gewinnen und sich gegen die CDU und das konservative Lager profilieren. Nur dass sie dabei Teile des Arbeitermilieus und auch der bürgerlichen Milieus verlieren.

Trotz all dieser Entwicklungen: Wenn Sie auf ihr Leben und ihre 60 Jahre politischen Einsatz zurückschauen: Sind sie stolz darauf, was die bewegt haben?

Quistorp: Ich glaube, dass ich für die Frauen- und Friedensbewegung eine Menge erreichen konnte und an Aufmerksamkeit für das Friedensthema. Es ist aber manchmal auch über meine Kräfte gegangen. Jetzt bräuchte man für diese weltpolitische Zeit viel Kraft. Und da frage ich mich, warum habe ich mich nicht häufiger ausgeruht und Klavier gespielt oder bin spazieren gegangen. Ich hatte durch meine politische Arbeit viele schöne Begegnungen. Aber ich habe dafür auch mit meiner Gesundheit gezahlt. Das darf aber sein. Man kann nicht erwarten, dass man sich politisch engagiert und dafür nichts geben muss. In anderen Ländern zahlen viele dafür mit ihrem Leben oder ihrer Freiheit. Insofern habe ich Glück gehabt, in Deutschland und Europa zu leben.

Interview: Ludwig Greven

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