Dass ich ein anderer sei, das wissen wir; aber wer ist Du? Wer will es dunkler? „You Want It Darker“, so heißt das letzte zu Lebzeiten Leonard Cohens veröffentlichte Album. Als ich den Titel las, dachte ich, der Mann gestatte sich einen letzten Scherz mit seinen Fans: Ihr wollt es noch dunkler. Die Stimme tiefer, die Stimmung düsterer. Bitte sehr.
Den Humor hätte ich Cohen zugetraut, weil ich einmal – vielleicht in Maxim Jakubowskis „Wit and Wisdom of Rock and Roll“, das ich leider verlegt habe – ein Zitat von ihm fand, das etwa so ging: „Ich bin voller Schmerz und Dunkelheit. Ich habe genug Schmerz und Dunkelheit, um meine Karriere weitere 20 Jahre zu befeuern.“ Cohens Selbstironie wäre ein eigenes Kapitel wert, jedenfalls darf man bei seinen Liedern nie unterstellen, dass etwas nicht ironisch gemeint sei.
Übrigens hat Stephen King letztes Jahr eine Kurzgeschichtensammlung mit dem Titel „You Like It Darker“ veröffentlicht, der auf Deutsch mit „Ihr wollt es dunkler“ übersetzt wurde.
Zurück aber zu Cohens Album. Kein schwacher Song darauf. Vielleicht insgesamt doch zu dunkel für meinen Geschmack, danach brauche ich immer einen Schuss Dylan oder irgendwas in Richtung Blues, sagen wir Taj Mahal oder die frühen Rolling Stones, aber das spricht nicht gegen das Album. Und schon gar nicht gegen den grandiosen Titelsong. (Den Text findet man unten.) Und, nun muss ich mich also korrigieren, es geht doch nicht um die Fans, wie bei Steven King, sondern um Gott:
Du willst es dunkler, Herr. Gut. Löschen wir also das Licht.
Der Song, bei dem der Chor der Gemeinde Shaar Hashomayim die Background-Vocals und deren Kantor Gideon Zelermyer den hebräischen Ausruf „Hineni, Hineni!“ – hier bin ich – singen, hat etwas von der Dunkelheit des Buchs Hiob oder des Predigers. Der Gott, um den es hier geht, ist kein lieber Vater. Und da wir von Vätern reden: Der Ausruf „Hineni“ kommt in einer einzigen Bibel-Geschichte dreimal vor: in jener schrecklichen Erzählung, in der Gott Abraham auffordert, seinen geliebten Sohn Isaak zu opfern. Das erste Mal, als Gott Abraham anspricht. Hier bin ich, antwortet er. Das zweite Mal, als Abraham seinen Sohn auffordert, mitzugehen. Hier bin ich, antwortet Isaak. Und das dritte Mal, als der Engel Abraham auffordert, beim Hieb innezuhalten: Hier bin ich, antwortet er: Hineni.
Auch Bob Dylan hat über diese Geschichte geschrieben, und zwar in „Highway 61 Revisited“. Ich gehe in meinem Dylan-Buch darauf ein. Doch da antwortet Abraham auf die unerhörte Zumutung nicht: „Hineni“, sondern: „Du willst mich wohl verarschen.“ Um sich dann doch dem Unausweichlichem zu fügen: „Where do you want this killing done?“ Du willst es dunkler. OK, bringen wir den Mord hinter uns.
https://www.lukasverlag.com/programm/titel/shot-of-love.html
Auch Cohen klagt diesen unerbittlichen Gott an, der „magnified and sanctified“, erhöht und geheiligt wird, gerade indem er in Menschengestalt – denn wir sind nach seinem Bild erschaffen – „vilified and crucified“, beschimpft und gekreuzigt wird. Eine Anspielung auf die Passion jenes zweiten Isaak, des Gottessohns, der um sein Leben bettelte, bei dem der Vater aber unerbittlich blieb. Du willst es dunkler. Und die Christen zünden Millionen Kerzen an, weil sie an die Liebe glauben, die aus jenem Opfer kommen sollte, die aber nie kam. Du willst es dunkler.
Und weil Er es dunkler will, müssen wir für ihn die Flamme löschen. Grausamkeit, Mord und Totschlag sind dann nicht nur erlaubt, sondern in Seinem Sinn: Richten wir also die Gefangenen hin. Wie kleinbürgerlich waren die zahmen Dämonen des Gewissens, mit denen ich rang, weil ich nicht begriff, dass ich von dir eine Lizenz zum Töten erhalten hatte! Hineni, hier bin ich, Herr.
Ist dieser Ich, der in großer Demut sich selbst zum Werkzeug Gottes ermächtigt, derselbe Ich, der am Anfang sagt: Wenn Du die Karten mischst, bin ich raus; wenn Du der Arzt bis, bin ich wohl kaputt; wenn die Herrlichkeit Deine ist, bleibt mir nur die Scham? Möglich. Denn der Gotteskrieger, der Inquisitor, der Kreuzfahrer, Revolutionsgardist und Terrorist hat eben vergessen, dass Gott am sechsten Tag seine Schöpfung besah und fand, dass sie sehr gut sei; er ist vielmehr vom Sündenfall niedergedrückt, von der eigenen Verworfenheit und Nichtigkeit, und angewidert von der Verworfenheit der gesamten Schöpfung: Du willst es dunkler, löschen wir also die Flamme der Hoffnung.
Denn so steht es geschrieben: „It’s written in the scriptures“. Was genau? Nun, dass Gott sich nicht in die Karten schauen lässt. Abraham versuchte, ihm die Zerstörung von Sodom und Gomorrha auszureden, weil da Unschuldige mit den Schuldigen umkommen könnten. Als Dank für seine Menschlichkeit musste er seinen Sohn opfern. König Saul wurde gestürzt, weil er bei der Ausrottung der Amalekiter gegen den unerbittlichen Befehl Gottes ihren König und ihre Herden verschonte. Hiob wurde gepeinigt, seine Familie getötet, seine Habe zerstört, weil Gott eine Wette mit dem Teufel abgeschlossen hatte, dass sein Diener auch im Unglück zu ihm halten würde. Wegen einer Wette! Und als Hiob Gott zur Rede stellte, was antwortete der: „Ja, ähm, sorry, aber, hey, nimm’s nicht persönlich, kriegst ja auch alles zurück, neue Frauen inklusive“, wäre wohl angemessen, aber stattdessen sagt Gott (Hiob 38):
„Wer ist’s, der den Ratschluss verdunkelt mit Worten ohne Verstand? Gürte deine Lenden wie ein Mann! Ich will dich fragen, lehre mich! Wo warst du, als ich die Erde gründete? Sage mir’s, wenn du so klug bist! (…) Kannst du die Bande des Siebengestirns zusammenbinden oder den Gürtel des Orion auflösen? Kannst du die Sterne des Tierkreises aufgehen lassen zur rechten Zeit oder die Bärin samt ihren Jungen heraufführen? Weißt du des Himmels Ordnungen, oder bestimmst du seine Herrschaft über die Erde? Kannst du deine Stimme zu der Wolke erheben, dass dich die Menge des Wassers überströme? Kannst du die Blitze aussenden, dass sie hinfahren und sprechen zu dir: »Hier sind wir«?“ Und so weiter und so fort.
Was natürlich Angeberei schlimmster Sorte, aber keine Antwort ist. Denn wer allmächtig ist, muss wohl nicht zum Spaß eine Wette mit dem Widersacher abschließen. Aber so ist er: „It’s written in the scriptures“; und wenn da ein Liebender auftaucht, wie der Sohn des Bautischlers aus Nazareth, bleibt die Geschichte doch die gleiche. Das Christentum, so scheint’s ist bloß ein Einschlaflied für Leidende, ein schaurig-schönes Paradoxon, das die Schuld der Geschöpfe zur Ursache der Grausamkeiten des Schöpfers erklärt.
Das alles wissen und trotzdem treu bleiben, macht das Judentum aus. Cohen weiß es und kann sich nicht entscheiden: „Ich bin raus“ singt er, und dann doch: Hineni, Herr, ich bin bereit.
Ein Lied, das eine einzige Glaubenskrise ist, eine Anklage wie von Hiob, die aber Gottes Antwort nicht gelten lässt. Unauslotbar. Große Lyrik.
If you are the dealer, I’m out of the game
If you are the healer, it means im broken and lame
If thine is the glory, then mine must be the shame
You want it darker
We kill the flame
Magnified, sanctified
Be the holy name
Vilified, crucified
In the human frame
A million candles burning
For the help that never came
You want it darker
Hineni, hineni
I’m ready, my Lord
There’s a lover in the story
But the story’s still the same
There’s a lullaby for suffering
And a paradox to blame
But it’s written in the scriptures
And it’s not some idle claim
You want it darker
We kill the flame
They’re lining up the prisoners
And the guards are taking aim
I struggled with some demons
They were middle class and tame
I didn’t know I had permission
To murder and to maim
You want it darker
Hineni, hineni
I’m ready, my Lord
Magnified, sanctified
Be the holy name
Vilified, crucified
In the human frame
A million candles burning
For the love that never came
You want it darker
We kill the flame
If you are the dealer, let me out of the game
If you are the healer, I’m broken and lame
If thine is the glory, mine must be the shame
You want it darker
Hineni, hineni
Hineni, hineni
I’m ready, my Lord
Nach diesem Cohen-Interview-Ausschnitt kannte er den Bezug auf Sefer Bereschit von Hineni nicht. Ebensowenig erwähnt er Samuel.
https://www.youtube.com/watch?v=g9BlBsCtFzw
Ich halte diesen Text mehr für ein hermetisches Gedicht, wobei für mich vollkommen offenbleibt, was gemeint ist, da der Text für nahezu alle möglichen und unmöglichen Interpretationen herhalten kann. „Und das ist auch gut so“, würde jetzt vielleicht Wowereit hinzufügen. Für mich ein tiefsinniger Abschied von seinen Fans und von seinem Leben, der geschrieben wurde, als er unter erheblichen körperlichen Schmerzen litt und gebrechlich war. Dieses eine Wort Hebräisch mit seinen hellen Vokalen und eigenem rhythmischem Charme ist sehr schön. Und es bietet für alle möglichen Leser vielfältige Lesarten. L’art pour l’art. Es freut mich, dass dieser Text hier erörtert wird und damit indirekt auf die bemerkenswerte letzte CD Leonard Cohens aufmerksam gemacht wird.
Ja, lieber Dieter W., aber „hermetisch“ und „für mich …“ sind zwei problematische Aussagen. Auch das dunkelste (!) Gedicht muss einer Interpretation zugänglich sein, und wenn ich auch Anhänger der rezeptionsästhetischen Haltung bin, dass es nicht darauf ankomme, was uns der Dichter angeblich sagen wollte, sondern darauf, was mir das Gedicht sagt, so muss jede subjektive Reaktion auf das Gedicht sich messen lassen an dem, was der Text hergibt. Und da gibt es mögliche und eben unmögliche Interpretationen. Ich schildere ja, wie auch ich zuerst dachte, mit „you“ seien die Fans gemeint – aber wenn das auch mitschwingen mag, weil ja die Fans das auf sich beziehen können: der Text gibt den Bezug nun einmal nicht her; „you“ ist dieselbe Person, an die der Kantor das jodelnde „Hineni“ richtet. Überhaupt geht es mir bei diesen Interpretationen, wie schon bei Dylan darum, das irgendwie angefasst und berührt sein von solchen Songs zu ersetzen durch ein klares – oder möglichst klares Verständnis dessen, was der Text sagt und sagen – und eben auch nicht sagen – kann. Siehe meine Auseinandersetzung mit „Suzanne“.
Ach, und „l’art pour l’art“ bedeutet nicht, dass die Kunst nichts bedeuten würde, sondern, dass sie nicht unbedingt eine Funktion – Lobgedicht, Gebet, Liebesgedicht, Schmuckfries, Herrscherporträt usw. usf. – jenseits ihrer selbst haben muss. Nicht zufällig ist das – in der lateinischen Fassung ars gratia artis – das Motto von Metro Goldwyn Mayer; bekanntlich sagte Sam Goldwyn, wer eine Botschaft habe, solle ein Telegramm schicken. Filme sollen unterhalten. Aber das heißt nicht, dass sie nicht interpretationsfähig wären. Übrigens spielt die Frage bei der neuen Apple-Serie „The Studio“ eine Rolle.
Interessant. Ich habe warum auch immer, den Text immer gelesen als Antwort Cohens (und letzten, sarkastischen Gruß) an sein Pubikum. Aber Ihre Interpretation ergibt natürlich mehr Sinn.
Was die Bibel und die Zumutungen Gottes angeht: So gesehen wäre dann das neue Testament der Copout der Christen die, im Gegensatz zur Standhaftigkeit der Juden, selbige auf eine Person, Jesus, projezieren. Smells like Catholicisms Spitit.
Im Hiob kommt zum ersten mal in der Heiligen Schrift der „Widersacher“ vor.
Ein Import aus dem Sassaniden-Reich. Ein Import aus dem Reich Zarathustras.
Der beantwortete die Frage, warum der gute und allmächtige Gott so viel Böses geschehen lasse.
– Ist er wirklich gut, der Allmächtige?
– Ist er wirklich allmächtig, der Gute?
Zarathustra lehrt dazu zwei Götter. Den Lichtgott Ormuzd und den Finstergott Ahriman.
Das Buch Hiob lässt den HERRN siegen auf Erden. Hiob stirbt reich, wie er wieder geworden ist, auch reich an Söhne, die er wieder bekommt.
Und doch ist das Leben erfahrungsgemäß anders. Dem wiederum begegnet dann das Evangelium von der Auferstehung des Gekreuzigten
Ich empfehle denn doch die Lektüre meines Textes (und des Liedtexts).
Mir kommt bei beim hebräischen „Hineni“ die Berufungsgschichte de Propheten Samuel in den Sinn:
„Der junge Samuel tat Dienst für den Herrn
unter der Aufsicht des Priesters Eli. Zu dieser Zeit kam es nur noch selten vor, dass der Herr ein Wort mitteilte. Weit und breit gab es auch keine Vision mehr. Eines Tages geschah Folgendes: Eli war bereits zu Bett gegangen. Seine Augen waren im Alter schwach geworden, sodass er kaum noch etwas sehen konnte. Samuel aber legte sich im Tempel des Herrn hin, wo die Lade Gottes stand. Die Lampe Gottes brannte noch. Da rief der Herr den Samuel.
Der antwortete: »Hier bin ich!«
Schnell lief er zu Eli hinüber und sagte: »Ja, hier bin ich, du hast mich gerufen.« Eli erwiderte: »Nein, ich habe dich nicht gerufen. Zurück ins Bett!«
Da ging er zurück und legte sich schlafen. Doch der Herr rief noch einmal: »Samuel!« Wieder stand Samuel auf, lief zu Eli und sagte: »Ja, hier bin ich, du hast mich gerufen.« Er antwortete: »Nein, ich habe dich nicht gerufen. Zurück ins Bett, mein Sohn!«
Samuel aber erkannte nicht, dass der Herr ihn gerufen hatte. Denn er hatte noch nie ein Wort des Herrn erhalten. Der Herr rief den Samuel ein drittes Mal. Wieder stand er auf, ging zu Eli und sagte:
»Ja, hier bin ich, du hast mich doch gerufen.« Da merkte Eli, dass der Herr den Jungen rief.
Eli sagte zu Samuel: »Leg dich wieder hin!
Und wenn er dich nochmals ruft, dann antworte: Rede, Herr, dein Knecht hört!« Samuel legte sich wieder hin an seinen Platz. Da kam der Herr und trat zu ihm hin. Er rief wie die anderen Male: »Samuel, Samuel!« Und Samuel antwortete: »Rede, dein Knecht hört!«“ (1. Samuel 3f., Basis-Bibel)
Darauf verstehe ich Cohens Zitat bezogen. Ob das stimmt, weiß ich nicht. Cohen interessierte sich für das Christentum, doch kam ihm so wenig nah wie seinen jüdischen Wurzeln in spiritueller Hinsicht. Daher lebte er buddhistisch.
Das „Hineni = Hier bin ich“ gilt Gott mit seinem Tod. Cohen könnte sich vorgestellt haben, Gott hätte ihn erst im Moment seines Todes gerufen. Solches wird auch umgangssprachlich von sogenannten Frommen floskelhaft manchmal in den Raum gestellt mit einem „Gott hätte ihn zu sich geholt“, wenn sie damit ausdrücken, er sei gestorben.
Lieber Dieter W., „Hineni“, hier bin ich, kommt in der Bibel öfter vor. Ich habe beim Schreiben diesen Artikel von Yehuda Teichtal zu Rate gezogen, der Samuel nicht erwähnt:
https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/hier-bin-ich/
Ob aber das „lyrische Ich in diesem Song identisch ist mit Leonard Cohen, das möchte ich bezweifeln und begründe diese Zweifel in meiner Exegese.