War es Kalkül oder Zufall? Am 26. November 2024 wurde Angela Merkels Erinnerungsbuch „Freiheit“ – gleich auch in 30 Übersetzungen – veröffentlicht. Einen brisanteren Zeitpunkt hätte sich die Altkanzlerin wohl kaum aussuchen können: Die Ampel-Regierung, die ihren Amtszeiten nachfolgte, war gerade mit einem lauten Knall zerbrochen, und die ehemaligen Koalitionäre überhäuften sich gegenseitig mit Vorwürfen, wobei Noch-Kanzler Olaf Scholz (SPD) in der Retrospektive dieser Vorgänge wohl die schlechtesten Stilnoten eingefahren haben dürfte. Und während sich ihre Partei, die CDU, gerade für den Wahlkampf in Stellung bringt und dabei auch merklich versucht, inhaltlich eher wie die alte Union zu wirken und einige Entscheidungen und Entwicklungen der Merkel-Ära zu korrigieren, platzt eben diese mit ihren Memoiren auf den Markt.
„Wir schaffen das!“
Vorweg: Der Inhalt des Buchs ist keine Überraschung. Merkel verspricht zwar Selbstreflexion, die dann aber doch kaum bis gar nicht erfolgt. Stattdessen erklärt und verteidigt sie ihr eigenes Handeln. Fehler hat die Kanzlerin in 18 Jahren CDU-Vorsitz sowie 16 Jahren als Kanzlerin (außerdem davor in sieben Jahren zwei Ministerämter) offensichtlich kaum gemacht. Alles, wofür sie heute besonders in der Kritik steht – zum Beispiel der Ausstieg aus der Kernkraft 2011 oder ihr folgenreiches Handeln bei der Migrationskrise 2015 – findet Merkel offensichtlich immer noch großteils richtig. Zwar habe ihre Entscheidung, die Menschen an der deutsch-österreichischen Grenze nicht zurückzuweisen, in ihrem politischen Leben eine Zäsur bedeutet, schreibt sie, aber ob sie aus heutiger Sicht etwas anderes machen würde? Die Antwort auf diese Frage sucht man im Buch vergebens. Stattdessen erklärt sie, stellenweise langatmig, wie diese Entscheidungen fielen. Das mag für sich betrachtet zwar durchaus interessant sein, enttäuscht aber aufgrund der Tragweite dieser Entscheidungen.
Merkel und Putin
An mehreren Stellen im Buch findet der russische Präsident Wladimir Putin Erwähnung. Trotz einiger offensichtlicher und durchaus auch persönlicher Provokationen des früheren KGB-Mitarbeiters dauerte es anscheinend bis 2014, bis zur völkerrechtswidrigen Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim, bis Angela Merkel feststellte, dass man Gegner sei. Ausführlich rechtfertigt die Altkanzlerin dafür ihre Entscheidung, sich im April 2008 beim Nato-Gipfel in Bukarest gegen die perspektivische Aufnahme der Ukraine und Georgiens in die Nato auszusprechen. Viele sahen es damals schon kritisch und fürchteten, die beiden Ex-Sowjetrepubliken könnten so auf Sicht Opfer des russischen Machthungers werden. Und tatsächlich, bereits im August desselben Jahres griff Russland Georgien an, unter dem Vorwand, russische Bürger in den georgischen Regionen Südossetien und Abchasien schützen zu wollen. Tatsächlich hatten zu diesem Zeitpunkt viele Menschen in diesen Regionen russische Pässe – die hatte Russland dort seit 2002 großzügig verteilt. Warum Putin für Merkel erst 2014 zum Gegner wurde, obwohl Russland bereits davor immer wieder massive, aggressive Einflussnahme auf die Ukraine ausübte? Darüber schweigt sich die frühere Kanzlerin aus.
Keine Rücksicht auf die CDU
Für Merkels Partei, die CDU, werden ihre Erinnerungen eher Ballast als Schützenhilfe im Wahlkampf sein. Nicht nur, dass die Altkanzlerin in ihrem Buch kaum Fehler zugeben mag und ihrer Partei so die nötige Legitimation zur Kurskorrektur verweigert, Merkel grätscht der Union mitten im Vorwahlkampf sogar gekonnt in die Parade. Während sie ausführlich ihren Werdegang beschreibt – von einer in den Wendeturbulenzen irgendwie beim Demokratischen Aufbruch (DA) gelandeten Physikerin hin zur mächtigsten Frau im Land, vielleicht sogar europa- oder weltweit – und dabei penibel darauf bedacht zu sein scheint, sich selbst wiederholend als unbedarft, fast schon naiv, zu beschreiben, vermittelt sie immer wieder den Eindruck, Handlungsträger der CDU hätten hauptsächlich aus Gründen des Machterhalts Entscheidungen getroffen oder die Parteilinie über das Wohl des Volkes gestellt. Mittendrin: Angela Merkel, die Pfarrerstochter aus der DDR, die auch ohne politische Ausbildung oder freiheitlich-demokratischen Stallgeruch viel besser als andere wusste, was Demokratie zu sein habe und was gut für sie wäre; für die Demokratie – und für Merkel.
In „Freiheit“ erinnert Merkel auch an die dunkelsten Stunden der Union. Beinahe schon genüsslich erzählt sie von der Parteispendenaffäre von 1999 und ihrer Rolle als innerparteiliche Reformerin. „Kohls Mädchen“, wie sie aufgrund ihres kometenhaften Aufstiegs seit ihrem CDU-Beitritt 1990 oft genannt wurde, hatte die Gunst der Stunde genutzt, um sich blitzschnell von ihrem Ziehvater, dem Einheitskanzler Helmut Kohl, zu distanzieren und zu emanzipieren. Die damalige Generalsekretärin der CDU übernahm im Jahr 2000 bekanntlich den Vorsitz der Partei, den sie 18 Jahre lang behalten sollte. Aus dieser Position heraus gelang es ihr, im Jahr 2002 nach der verlorenen Bundestagswahl als Fraktionsvorsitzende Oppositionsführerin zu sein. Dabei löste sie den bisherigen Fraktionsvorsitzenden Friedrich Merz ab – etwas, das diesen kalt erwischte. Zwei Jahre später gab Merz das Amt des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden ab und damit den Machtkampf mit Angela Merkel auf. 2009 schied der Wirtschaftsexperte sogar aus dem Parlament aus. Es ist, je nach Sichtweise, Ironie des Schicksals oder eben doch irgendeine Art von Kontinuität, dass Merkel Merz jetzt aus dem Off heraus noch ein weiteres Mal in die Beine fährt. Das letzte Mal?
Ein Fazit: Merkel macht Merkel-Sachen
Auf über 700 Seiten erfahren die Leser der Autobiografie Angela Merkels wenig Neues und nichts Sensationelles. Die angekündigte Selbstreflexion bleibt dabei großteils aus, stattdessen sind irgendwie immer andere schuld, bevorzugt CSU oder FDP. Einen Zugewinn an Wissen wird dieses Buch für politisch interessierte Menschen kaum bieten, die diversen Blicke hinter die Kulissen sind aber schon spannend. Allerdings, auch dabei verrät Merkel kaum Weltbewegendes, aber man lernt vielleicht doch etwas über das politische Alltagsgeschäft. Unterm Strich aber ist „Freiheit“ typisch für Angela Merkel: Die erfolgreiche Machtpolitikerin reklamiert ein weiteres Mal die Deutungshoheit über sich selbst und kommt damit, auch aufgrund einer guten Lesbarkeit und einiger persönlich wirkender Anekdoten, wohl auch durch. Die abschließende Beurteilung ihrer Politik werden eh andere vornehmen müssen.
Vielen Dank für den Abriss eines Buches, dass sich offensichtlich nicht zu lesen lohnt. Vielen Dank, dass Sie sich das angetan haben.
Wenn Angela Merkel, Kampfnahme: GröKaZ, in der CDU Karriere gemacht hat, dann nicht, so mein Eindruck, weil sie selbst die Werte dieser Partei verkörperte, sondern weil es in der Partei, in die sie eigentlich gehört hätte – B90/Die Grünen – keinen Platz für sie gab, weil die CDU nach den Jahren der Kohl-Agonie und der Parteispendenaffäre so geschwächt war, dass selbst ein so mittelmäßiger Geist dort zur richtigen Zeit einen derart kometenhaften Aufstieg hinlegen konnte und weil sie die Fähigkeit besitzt, ihre naiv-tumbe Art der Wurschtigkeit als Markenzeichen auszugeben: Keine eigene Vision, dagegen Entscheidungen, die das Land an die rot-grünen Sozialisten ausgeliefert haben. Als ehemalige FDJ-Sekretärin für Agitation und Propaganda schimmerte ihre Ideologie durch, aber sie war so clever, das als konservativen Wert zu verkaufen. Die Spitznamen, die man ihr im Laufe ihrer Regierungszeit gab, von „Mutti“ über „Abrissbirne Germoney‘s“ bis „Die letzte Rache Erich Honeckers“ hat sie sich redlich verdient.
Angela Merkel hat 2015 die im Budapester Bahnhof festgehaltenen Menschen einreisen lassen. Die Zustände in Budapest waren furchtbar. Frauen bekamen während einer Geburt im Freien keine ärztliche Hilfe, Kinder und alte Menschen hatten keinen Schutz. Klar war das zu schaffen.
Dass Deutschland die Migration über das Asylrecht regeln wollte, war nicht Merkels Idee, sondern ein fundamentaler Irrtum der Union gewesen.
Noch deutlicher wird die Klugheit beim Ausstieg aus der Kernkraft 2011. Bislang hat niemand ein Konzept, wie der radioaktive Abfall entsorgt werden soll, noch dazu in einem so dicht besiedelten Land wie Deutschland.
Es gibt Fehler, aber diese hat der obige Kommentar nicht benannt.
M.F.: ‚Angela Merkel hat 2015 die im Budapester Bahnhof festgehaltenen Menschen einreisen lassen. Die Zustände in Budapest waren furchtbar. Frauen bekamen während einer Geburt im Freien keine ärztliche Hilfe, Kinder und alte Menschen hatten keinen Schutz.‘
… das habe ich wirklich noch nicht gelesen; Frauen machen sich, warum auch immer, von Syrien über die Türkei, Bulgarien, Serbien oder Rumänien, Ungarn und Österreich, wie auch immer, auf den Weg nach Deutschland, damit Mama Merkel Geburtshilfe leisten soll, kann, muss oder will.
Respekt. Diesen ‚Sermon‘ muss man/frau erst mal hinbekommen. (Und ausgerechnet von Ihnen, werte Fr. M.F..)
… und? Was nun? „Allahu Akbar“ statt „Stille Nacht“?