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10.000 km ostwärts – eine Reise durch das beginnende 1989 (6)

MOSKAU, 4. Februar 1989

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Es ist Samstag.
Tanja und Sergej werden in Moskau auf dem Kiewer Bahnhof von Freunden erwartet. Schon haben sie mir angekündigt, dass sie mir Moskau zeigen werden.

Auch Kolja und Andrej, denen ich nun vorgestellt werde, sind dieser Meinung: „Wir haben jetzt sieben Stunden Zeit. Wenn wir Dich nicht führen, siehst Du nichts von der Stadt.“

Als erstes gehen wir auf den Roten Platz. Er ist noch abgesperrt.
Das Lenin – Mausoleum, vor dem gerade die Wache wechselt und der Kreml öffnen erst um 10 Uhr.

Auf dem Dshershinski – Platz warten wir auf Koljas Frau, die noch etwas erledigen mußte. Zeit bleibt also für Tanja, mir zu erklären, daß wir vor dem „wichtigsten Gebäude der Sowjetunion“ stünden – der Zentrale des Komitees der staatlichen Sicherheit – „Komitet Gosudarstveny Besopostnost“, des Geheimdienstes KGB.

Unübersehbar steht Dshershinski, der Begründer der Geheimpolizei auf seinem Denkmalsockel und scheint alles fest im Griff zu haben. „Er selbst“ sagt Kolja , „hat niemals jemanden wegen seiner abweichenden Gesinnung verfolgt.“

Ich habe da meine Zweifel. Dann hätte der Mann ja gar nichts zu tun gehabt. Sage aber nichts dazu. Denn nicht nur hier, auch später noch werde ich immer wieder feststelllen:

Lenin, der Begründer und Festiger des Reiches steht außerhalb aller Kritik, ebenso sein engster Freundeskreis. Dass ausgerechnet ihnen all die heutige Misere zu verdanken wäre, nein – undenkbar.

Ich bitte Andrej, ein Foto von mir vor dem Gebäude zu machen.
Dazu suche ich an einer der Eingangstüren ein möglichst dekoratives Türschild mit Aufschrift. Doch vergeblich laufe ich rundum. Außer dem metallnen Hinweis, dass Jurij Andropov hier ein arbeitsreiches Leben verbrachte, weist nichts auf die Funktion dieses Gebäudes hin. Gut, dann fotografieren wir eben ohne Schrift.

Gerade stehe ich vor dem Haupteingang in Positur, da werden wir von einem Milizionär unterbrochen. Fotografieren ? Moment, da muss er erst einmal hinein, fragen. Nach einer Weile kommt er wieder: man darf.

Alina, Koljas Frau, ist inzwischen auch da.
Wir haben Hunger. Die Restaurants wiederum öffnen erst um elf Uhr. „Woanders ?“ – Kolja lacht. „Du bist in Moskau, nicht in Westeuropa !“ Endlich, fünf Minuten nach elf Uhr sitzen wir in einer
Pizzeria. „Champagner“ – „Nein !“ Die Kellnerin zuckt bedauernd mit den Schultern. „Sekt darf ich erst nach 14 Uhr ausschenken.“

Da hilft alles Bitten nicht. Die Anti-Alkoholkampagne des Genossen Generalsekretär, des Mineral (-wasser ) – Sekretär trifft jeden.

Heimlich reicht Andrej eine Flasche Aprikosenschnapses unter dem Tisch herum. Vorsichtig !
Bezahlen darf ich nicht. Bitte keinen Streit. Ich bin der Gast.

Noch einmal hetzen wir durch die Stadt und dann zum Arbat.

Auf der Arbat-Strasse konzentriert sich ein Großteil des Moskauer Kulturlebens. Maler stehen mit ihren Bildern hier, um zu verkaufen. Immer wieder bleibe ich stehen. Alles ist mit feinstem Pinsel gearbeitet. An einem Bauzaun hängen Zettel mit Gedichten, Vorstellungen von Kandidaten für den Stadtsowjet und städtische Bekanntmachungen. Leute stehen davor.

Ein Stück weiter sitzt eine kräftige ältere Frau und spielt Akkordeon. Wir bleiben stehen, wie andere Leute auch. Tanja und Alina singen mit.

Noch ein Stück weiter steigt gerade ein junger Mann auf einen prallen Sack.
Als wir vorbeikommen, schmettert er seine Gedichte los. Von der Größe Russlands ruft er, die endlich alle in der Sowjetunion erfassen sollten.

Schon ist es kurz vor 14.00 Uhr, wir laufen zurück zum Leningrader Bahnhof, mein Gepäck zu holen. Und wieder sitze Ich im Zug.

15.05 Uhr geht es weiter. Ich stehe am Fenster und winke. Kolja soll ich telegrafieren, wann Ich wieder in Moskau bin. Den anderen schreibe ich. In drei Stunden fahren auch Tanja und Sergej weiter nach Osten.

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Über Bodo Walther

Bodo Walther, geboren 1960 in Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt, studierte 1985 bis 1991 Rechtswissenschaften in Tübingen und Bonn. Er war aktiver Landes- und Kommunalbeamter in Sachsen-Anhalt, ist heute im Ruhestand und Anwalt in der Nähe von Leipzig.

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