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Das Jagger-Richards-Songbuch (9): The Spider And The Fly

Das Bild der Spinne, die eine Fliege anlocken, einwickeln und fressen will, ist im Blues eine beliebte Metapher für den Verführer. Etwa in dem Song „The Spider And The Fly“ von der Jazzsängerin Myra Taylor, die außerdem den Wal bemüht, der Jonah verschluckte, und den Wolf, der sich als Rotkäppchens Großmutter ausgab. Ob Mick Jagger und Keith Richards Myras Song kannten, als sie „The Spider And The Fly“ schrieben, ist nicht klar; ebenso ist in dieser Geschichte von einem One-Night-Stand während einer Tournee nicht unbedingt klar, wer die Spinne ist und wer die Fliege.

Zunächst ist der Song ein interessantes Beispiel für den kreativen Umgang der Rolling Stones mit dem Blues-Genre. Oberflächlich ist „The Spider And The Fly“ ein Blues, aber anders als ein klassischer Blues (etwa Robert Johnsons „Love In Vain“) besteht der Text nicht aus einer Zeile, die eine Situation oder einen Zustand beschreibt und wiederholt wird, um die dadurch aufgebaute Spannung aufzulösen: „I followed her to the station, with a suitcase in my hand / Well I followed her to the station with a suitcase in my hand, / Ain’t it hard to tell, when all your love’s in vain“. Hier wird eine Begebenheit durcherzählt. Außerdem gibt es nach der ersten Strophe einen Refrain, den es im Blues eigentlich nicht gibt; und als hätten sich Jagger & Richards plötzlich besonnen, in welchem Genre sie schreiben, kommt der Refrain nie wieder vor. Das Gitarrensolo besteht fast nur aus drei Tönen und hat mit dem, was Gitarreros unter einem Blues-Solo verstehen, zunächst nichts zu tun, bis es sich so auflöst, wie man es etwa von Jimmy Reed her kennt. Alles sehr merkwürdig. Und sehr schön.

Aber der Text ist die eigentliche Perle. So kompakt. So realistisch. So traurig.

Sitting, drinking, sinking, drinking
Wonderin‘ what I’ll do when I’m through tonight
Smoking, moping, maybe just hoping
Some little girl will pass on by
Don’t want to be alone but I love my girl at home
I remember what she said
She said, „My, my, my, don’t tell lies,
Keep fidelity in your head
My my my, don’t tell lies,
When you’re done you should go to bed
Don’t say hi, like a spider to a fly
Jump right ahead and you’re dead“

Sit up, fed up, low down, go round
Down to the bar at the place I’m at
Sitting, drinking, superficially thinking
About the rinsed-out blonde on my left
But then I said „hi“ like a spider to a fly
Rememberin‘ what my little girl said

She was common, flirty, she looked about thirty
I would have run away but I was on my own
She told me later she’s a machine operator
She said she liked the way I held the microphone
Then I said „hi“ like a spider to a fly
Jump right ahead in my web

Da bist du allein im Hotelzimmer, immer noch voller Adrenalin nach der Show, gelangweilt und sexuell erregt. Vielleicht kommt eins der kleinen Mädchen vorbei, die bei der Show so gekreischt haben? Nein. Und außerdem hat dich deine Freundin ermahnt, treu zu bleiben. Sonst ist Schluss. Aber allein bleiben? Na, ein Drink kann ja nicht schaden. Also stehst du auf, gehst herunter an die Hotelbar, trinkst so lange, bis die ältere Frau ein paar Barhocker weiter mit den ausblondierten Haaren begehrenswert erscheint. Wie es sich herausstellt, ist sie Fabrikarbeiterin und war auch bei der Show. Wahrscheinlich sitzt sie hier, weil sie einen der Jungs von der Band abkriegen will. Oder irgendwen. Kaum vorstellbar, dass sie hier übernachtet: Woher soll eine Fabrikarbeiterin das Geld nehmen?

Und bitte, da ist er schon, der niedliche Sänger. Das wird dem Joe leidtun, der mit der blöden Susi aus der Spedition rumgemacht hat. Als wäre er auch nur halb so süß wie dieser Typ, der das Mikrofon so hielt, als sei es …na, du weißt schon. Hi, ich dachte, du kommst nie rüber, nein, ich bin allein …

Es ist die alte Geschichte, und weil sie so oft vorkommt, gibt es darüber nicht so viele Songs, wie es geben müsste. „Lucille“ von Kenny Rogers ist einer der besten. Und dieser hier. Es passiert fast nichts. Es ist alles innerer Monolog: Sitting, drinking,  sinking, drinking … Smoking, moping, maybe just hoping .. Sit up, fed up, low down … Sittig‘, drinking, superficially thinking … Then I said „hi“ like a spider to a fly …

Man weiß ja, dass am Morgen der Selbstekel kommen wird: She was common, flirty, she looked about thirty / I would have run away but I was on my own ..

Dieses „she was comon“ – sie war gewöhnlich, eine ungebildete, blondierte Frau, die irgendwo in der Provinz eine Maschine bedient – ist ebenso verräterisch wie „she looked about thirty“; für den Jungen aus bürgerlichen Verhältnissen, den Lehrersohn Mick Jagger, spricht das Adjektiv „gewöhnlich“ für sich. Später wird er von der „Bar Room Queen in Memphis“ singen, sie habe ihn „auf die Schulter hieven müssen“, um ihn zu einem „Ritt“ oben in ihrem Zimmer zu bewegen. Hier müssen es die Drinks besorgen.

Und für die Jungstars Anfang 20 war eine Frau um die Dreißig schon jenseits von Gut und Böse. Wie sangen die Beatles: „Well, she was just 17, you know what I mean…“ Ja, wir wissen es. Als die Rolling Stones 30 Jahre später eine – übrigens sehr schöne – Aufnahme live im Studio für das Album „Stripped“ einspielten, änderten sie das Alter der Frau an der Bar: „She was shifty, nifty, she looked about fifty …“

Vielleicht aber ist es dieselbe Frau. Nicht mehr am Band, sondern in einem Amazon-Versandhaus tätig, ansonsten aber dicker, gröber im Gesicht, müder, anspruchsloser, zynischer. Dieser nicht ganz echter Blues ist bluesiger, trauriger als mancher mit routiniertem Herzschmerz vorgetragener echter Blues. Ain’t it hard to tell, hard to tell, when all your love’s in vain…

Ach, und das Adverb „superficially“ in einem Rocksong unterbringen: das muss man erst können.

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3 Gedanken zu “Das Jagger-Richards-Songbuch (9): The Spider And The Fly;”

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    … mhm, womöglich ist ‚The Spider And The Fly‘ Satire? ‚… She was common, flirty, she looked about thirty.
    I would have run away …‘

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      Ja, Hans, ich habe Ihren Beitrag zensiert. Und ich werde konsequent alles, was nicht zum Thema gehört, aus Ihren Beiträgen zensieren. Haben wir uns verstanden?

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