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Nur mit „mehr Europa“ lässt sich die Flüchtlingskrise bewältigen

Kaum ein Zeitungskommentar, der nicht besorgte Stimmen wegen der vielen Flüchtlinge zu Wort kommen lässt. Absurd ist deshalb die Behauptung, solche Besorgnisse würden unterdrückt. Komplizierter zu beantworten ist die Frage, was getan werden kann, um ihnen abzuhelfen. Das geht nur mit „mehr Europa“, und mit Unterstützung der Nachbarländer der EU, insbesondere der Türkei, die dafür Gegenleistungen erwarten wird.

Offensichtlich unerfüllbar und mit vielen negativen Nebenwirkungen behaftet ist die besonders lautstark erhobene Forderung nach einem Aufnahmestopp. Deutschland hat eine Außengrenze von über 3.000 km Länge. Auch ein so langer Stacheldraht-Zaun wäre nicht unüberwindbar. Wir würden unsere Freizügigkeit innerhalb Europas aufgeben. Unser Grenzverkehr zu Frankreich, den Niederlanden, Dänemark, Polen, Tschechien, Österreich und der Schweiz würde sich kilometerlang stauen. Die wirtschaftlichen Verluste wären gewaltig. Aber vor allem: allein die Diskussion über einen Aufnahmestopp löst weitere Fluchtbewegungen Richtung Deutschland aus, weil man nicht zu spät kommen will.

Wenn wir also innerhalb Europas unsere Freizügigkeit erhalten wollen, kann die Kontrolle nur an den Außengrenzen der EU bzw. des Schengen-Raums erfolgen. Das ist dann aber nicht allein die Aufgabe des Landes, das eine solche Außengrenze hat, sondern des gesamten Schengen-Raums. Hier geht es das erste Mal um „mehr Europa“: Die polnisch-ukrainische oder die griechisch-türkische Grenze müsste nicht nur von polnischen oder griechischen Polizisten gesichert werden, sondern Polizisten aus allen EU-Ländern müssten sich daran beteiligen. Und Polen und Griechenland müßten ihnen entsprechende Hoheitsrechte auf ihrem Territorium einräumen. Ein solcher Schutz unserer Außengrenzen ginge deutlich über das bisherige Frontex-Konzept hinaus.

Die EU ist von rund 12.000 km Land- und 45.000 km Seegrenzen umgeben. Ohne Mitwirkung der angrenzenden Nachbarländer lassen sich diese Grenzen nicht wirksam kontrollieren. Angesichts der Vertreibungen aus Syrien und der anderen Flüchtlingsbewegungen im Nahen Osten geht es aktuell besonders um die Mitwirkung der Türkei.

Diese ist nicht nur durch den Krieg in ihrem Nachbarland Syrien besonders belastet. Die Türkei hat über 2 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen und beziffert die eigenen Aufwendungen dafür auf inzwischen über 8 Milliarden Euro. Durch eine wirksame Kontrolle ihrer Grenze zu Griechenland würde sie selbst die Zahl der in der Türkei lebenden Flüchtlinge weiter erhöhen, denn immer noch fliehen täglich tausende vor den Fassbomben Assads über die türkisch-syrische Grenze. Und wer wollte der Türkei raten, diese Grenze „dicht zu machen“?

Der kleine Think Tank „European Stability Initiative“ (ESI) hat einen sehr guten Vorschlag gemacht, der davon ausgeht, dass es nicht reichen wird, der Türkei einfach Geld anzubieten und sich so von Flüchtlingen „freizukaufen“. Die EU sollte sich bereit erklären, der Türkei in einem geordneten Verfahren syrische Flüchtlinge abzunehmen. Deutschland sollte davon 500.000 aufnehmen. Als Gegenleistung sollte das erforderliche Asylverfahren in der Türkei durchgeführt werden. Außerdem müsste die Türkei entsprechend dem Rücknahme-Übereinkommen alle Flüchtlinge (wieder) aufnehmen, die es trotzdem über die Ägäis nach Griechenland versucht hätten. Die Türkei würde deshalb als sicherer Herkunftsstaat eingestuft. Die EU würde die Türkei finanziell unterstützen, um alle mit den Flüchtlingen zusammenhängenden Aufgaben besser erfüllen zu können. Außerdem sollte die EU die seit langem laufenden Visa-Verhandlungen mit der Türkei zum Abschluss bringen und 2016 den visafreien Reiseverkehr von Türken in die EU zulassen, wenn die technischen Voraussetzungen erfüllt sind.

Über alle diese Punkte wird inzwischen mit der Türkei verhandelt. Ich halte das Paket für fair. Es würde beiden Seiten – und den Flüchtlingen – erheblich weiter helfen.

Es kann also im Ergebnis auch nicht um eine „Festung Europa“ gehen, die ihre Außengrenzen „dicht machen“ und sich von der globalisierten Außenwelt abschotten könnte. Nur wenn sich Europa verantwortlich verhält und nach den eigenen Möglichkeiten zur Lösung der Probleme in seiner Nachbarschaft und darüber hinaus beiträgt, wird es den Gestaltungseinfluss zurückgewinnen, den es durch Uneinigkeit, nationale Egoismen und Realitätsverweigerung in den letzten Jahren verspielt hat. Auch das würde „mehr Europa“ bedeuten.

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Über Ruprecht Polenz

Ruprecht Polenz (68) gehörte von 1994 bis 2013 dem Deutschen Bundestag an und war 2000 Generalsekretär der CDU. Von 2005 bis 2013 war der Politiker aus Münster Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Er ist Präsident der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) und Dean des Global Diplomacy Lab. Der Jurist ist verheiratet und hat mit seiner Frau vier erwachsene Kinder.

7 Gedanken zu “Nur mit „mehr Europa“ lässt sich die Flüchtlingskrise bewältigen;”

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    Letztlich kann man den Beitrag recht kurz zusammenfassen:

    Weil die Politik in Deutschland unter der unfähigen Führung der Erfinderin des Dosenpfands abgedankt hat und es noch nicht einmal schafft, die staatliche Integrität Deutschlands (ja, dazu gehört auch die Sicherung der Außengrenzen) aufrechtzuerhalten soll man andere Länder dafür bezahlen, daß diese an ihren Grenzen quasi die Drecksarbeit machen.

  2. avatar

    Nun, bei allen ihren Entscheidungen und gesetzten Signalen zum Thema hat Merkel ‚Europa‘ oder die Türkei nicht gefragt. Aus der – abzusehenden – Überforderung bei Errichtung der Auffanglager,der ‚Einzelfallprüfung‘ und der nun eilig gestrickten Gesetzesänderungen besteht daher derzeit keine besonders gute Verhandlungsposition, weder mit ‚Europa‘ noch mit Erdogan. Ich wundere mich.
    Oder erkläre es mir so: Bereits anlässlich ‚Fukushima‘ hat Merkel die Stimmung, die Gunst der Stunde zu wissen genutzt, um eine bestimmte Politik (im krassen Gegensatz zur bisherigen Richtung) durchzusetzen, mit dem Ziel einer bestimmten großindustriellen Klientel die Chance zur Profilierung zu geben (Windenergie) und sich frühzeitig auf dem Weltmarkt zu positionieren. Einen demokratischen Prozess mit allem Hinterfragen wollte sie nicht abwarten.

    Jetzt das gleiche Schema: Es gibt ein ‚gewisses‘ demografisches Problem, will man die tradierten Wirtschaftsstrukturen erhalten. Aufgrund der ‚Willkommensstimmung‘ lässt sich derzeit Masseneinwanderung (bis zu einem gewissen Grade) durchsetzen.

    Es ist klassische machiavellistische Top-Down-Politik. Mit ‚Menschlichkeit‘ hat das nichts zu tun. Ich finde, das sollte man wissen, wenn man weiter Merkel wählt.

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    Die USA haben einen Zaun zu Mexiko. Sie haben ihren Dollar und sie bezahlen nicht die Schulden anderer Staaten. Es geht, wenn man nur will.

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    Die meisten Deutschen, die mir begegnen, wären Ihnen allen sehr verbunden, wenn Sie die Pastorin mit einem Misstrauensvotum aus dem Amt hebeln, um das Land und (bei manchen) die CDU zu retten. Dann sparen Sie mal Geld und machen Sie Ihren pompös-verblödenen Wahlkampf nicht und statt dessen umgehend Neuwahlen, so schnell wie möglich.
    Nebenbei bemerkt würden wir zusammen mit den Oststaaten einen Krieg gegen Österreich und Italien vermutlich gewinnen, also könnte man doch mal Druck ausüben. So geht’s jedenfalls nicht. Und halten Sie uns endlich die Kosovaren und Albaner vom Hals, damit Sie Überblick über die (nicht stehlenden) Syrer bekommen, die bei besseren Verhältnissen ohnehin teilweise zurückgehen würden. Und dann könnte man erst etwas aufbauen, wobei Sie ja wissen, dass Russland das in die Hand nehmen wird, aber vielleicht mit uns, wenn wir die Sanktionen zurückfahren.
    Und verschonen Sie uns bitte mit Ihren Träumereien über noch einen „Soli“. Die MWSt ist hoch genug. Wenn Sie die erhöhen, wird eben weniger gekauft, ganz einfach.
    Die Mineralölsteuer ist ohnehin als Genzes ein Verbrechen, wenn man so gegen die Öl- und Autoindustrie hetzt, wie das oft der Fall ist. Lieber Maut als Mineralölsteuer. Sie wollen die Mineralölsteuer dafür hernehmen, das zu finanzieren, was Sie bestellt haben? Alle Achtung. Wenn ich nächstes Mal essen gehe, frag`‘ ich auch den Wirt, ob er selbst zahlen will. Wir sind hier im kölschen Karneval, Sie wissen doch: „Wer soll das bezahlen, wer hat das bestellt?“
    Die Regierungsparteien könnten das also selbst zahlen, nicht wahr. Das wäre mal was. Danach lösen Sie sie einfach auf, treten einzeln an und werden sich bewusst dabei, wem Sie an sich Rechenschaft schuldig sind: Ihren Wählern, nicht etwa Reisenden auf unsere Kosten.

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    Angeblich lassen sich 3600 km Grenze nicht sichern. Man muss überlegen, wie lange eine Fa. braucht, um ein kleines Grundstück von 400 Quadratmetern, sprich 20×20 m, einzuzäunen: Maximal zwei Tage. 80 m. 40 Firmen bräuchten für 3600 m auch je zwei Tage. 4000 Firmen bräuchten für 3600 km demnach 20 Tage, 400 Firmen 200 Tage.
    Zweitens ist die Zahl zu hoch gegriffen, denn nach Holland oder Dänemark müsste nicht abgezäunt werden. Die Schweiz sichert ihre Grenze selbst. Mit den Oststaaten ließen sich Vereinbarungen treffen. Im Prinzip geht es um die Grenze nach Österreich und die nach Frankreich und vielleicht Belgien. Das sind keine 3600 km. Die Österreicher müssten natürlich genau das auch tun, dies betrifft hauptsächlich Kärnten.
    Das sind alles Ausreden.
    Im Moment haben Sie fertig. Ich meine die CDU. Wenn die Grünen unter fünf Prozent dümpeln, ist der Traum aus mit einem massiven Flurschaden, von dem sich die CDU lange nicht erholen wird. Das Land auch nicht.
    Aber wenn Sie so weiter machen, mündet das ohnehin in einen Militärstaat. Oder ist das heimlich angedacht?
    Ein Schelm.
    Falls nicht, sollten alle nochmal nachdenken. Eine Grenzsicherung kann auch vorrübergehend sein.
    Die nächste Ausrede: Man müsste den Leuten lokal was aufbauen. Wollte man doch immer, fragen Sie die Wirtschaft. Müssen Sie nicht, weil Sie das genau wissen. Die Versicherungen spielen nicht mit, wo Bürgerkrieg und Terror herrschen, also auch nicht die Kreditgeber.
    Also müsste man eine Wirtschaftsschrumpfung größeren Ausmaßes in Kauf nehmen, sprich: Keine Waffenlieferungen an Staaten, die keine Demokratien sind. Ächz, oder. Die A-lo-Zahlen. Aber die werden ohnehin hochgehen.
    Das ist völlig missraten.
    Nochwas: Jeder,den ich kenne, will seinen Staat, sein Bundesland behalten. Keine Opfer für Europa! Drei Großmächte auf Erden sind schon drei zuviel.

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    Inzwischen haben wir eine neue Realität; die Osteuropäer haben Merkels Alleingang als Kriegserklärung begriffen. Viktor Orbán steht für Osteuropa.
    „Mehr Europa“ heißt nationale Selbstabschaffung. Die Gefahr transatlantischer Mächte wird in Osteuropa sehr genau wahrgenommen. Und selbstmordgefährdet sind die Osteuropäer, auch zum Wohle kurzfristiger Wirtschaftsinteressen, noch nicht.
    Die BRD durfte in den letzten Jahrzehnten den Friedenstrojaner spielen, jetzt bekommt sie die Quittung.
    Die Vereinigten Staaten von Europa, ein Traum der CDU? Mit Geld läßt sich nicht alles kaufen. Moralische Erpressung wird auch nicht funktionieren.
    Die CDU denkt in Abhängigkeitsverhältnissen ohne unmittelbare Machtbefugnis, ist somit der neuen Zeit überhaupt nicht gewachsen. Aber wenigstens wird sie die EU begraben.

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