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Aus dem Underground auf den Olymp der Popmusik – Zum neu erschienenen Remix von Ulf Poschardts Klassiker „DJ Culture“

Wer sich schon häufiger mit wissenschaftlichen Monographien beschäftigt hat, merkt bereits nach der Lektüre weniger Seiten, ob der Autor für sein Thema brennt. Die Passioniertheit zeigt sich in der Akribie, in geschliffenen Formulierungen und dem Bestreben, Thesen zu entwickeln, die den Untersuchungsgegenstand in eine neue Perspektive rücken. Einen ganz besonderen Groove bekommen solche Arbeiten dann, wenn der Verfasser sein liebstes Hobby zum Untersuchungsgegenstand macht, dieses gewissermaßen verwissenschaftlicht. Wenn die Haltung des Fans hinzukommt, kann sogar eine Dissertation so funkeln, dass sie auch außerhalb der Wissenschaft Maßstäbe setzt. Ulf Poschardts 1995 erstmalig erschienenes Werk „DJ Culture“ ist so ein Fall.

Ziemlich schnell ist das vor 20 Jahren erstmals erschienene, inzwischen vergriffene Buch zu einem Standardwerk über die Popkultur avanciert. Grund genug für den Autor, heute Vize-Chef der WELT-Gruppe, es erneut aufzulegen. Und wie es sich angesichts des Themas gehört, ist es nicht einfach eine Neuauflage, sondern ein Remix, angereichert um Aktualisierungen eines anderen Autors: Heiko Hoffmann, seines Zeichens Chefredakteur des Musikmagazins „Groove“. Das Schlusswort hat die deutsche DJ-Legende Westbam beigesteuert, der 1997 mit „Sonic Empire“ Techno auf eine neue Ebene gehievt hat und ohne dessen Inspiration es Rainald Goetz‘ Hymnen an das Nachtleben wie die Erzählung „Rave“ (1998) nie gegeben hätte.

„DJ Culture“ ist von einem leidenschaftlichen Geist durchzogen. Poschardt beschreibt sich selbst als „einen Theoretiker, der auf beiden, auf ‚gegnerischen‘ Feldern agiert: der zum einen als Wissenschaftler über den DJ schreibt und zum anderen seit Jahren als House-DJ Platten auflegt und sich ganz dem Dancefloor-Underground verpflichtet fühlt.“

Mit dem Bekenntnis zum Underground ist die zentrale Frage zur DJ-Culture angesprochen, die nichts an ihrer Gültigkeit verloren hat und die sogar noch virulenter geworden ist. Der DJ hat, wie das neue Vorwort betont, inzwischen „eine Art popkulturelle Weltherrschaft“ angetreten, aus der „kulturrevolutionären Avantgarde ist innerhalb der vergangenen 20 Jahre ein gut verdienendes, selbstbewusstes, oft genug verklärtes Establishment geworden“. Für diese Entwicklung steht vor allem der Name David Guetta. Ihm gelang mit dem Smashhit „Love is gone“ (2007), House-Musik in die US-Radio-Stationen zu bringen.

Allerdings handelt es sich dabei um eine spezielle Art von House-Musik, die mit Avantgarde nicht mehr viel zu tun hat, als „Electronic Dance Music“ (EDM) firmiert und mit Namen wie Avicii und Robin Schulz verbunden ist. Eingefleischte House-Kenner lehnen diese Guettaisierung ihres Genres vehement ab und haben, was die Qualität der Musik angeht, damit nicht Unrecht. Denn diese ist ähnlich flach wie das, was, produziert von Combos wie „Snap“ in den 90ern, als „European Dance Music“ durch die Lautsprecher der Großraumdiscos dröhnte und bisweilen als „Eurotrash“ verspottet wurde.

Poschardts Verpflichtung auf den Underground ist musikalisch gesehen deshalb völlig berechtigt. „Wie die Avantgarden in der klassischen Moderne“, so der Autor, „haben die Rebellen das Gesicht der Hoch- und Popkultur verändert und geprägt.“ Es ist dieses Leitmotiv, das die Lektüre von „DJ Culture“ zu einem Gewinn macht. Denn daraus folgt die präzise Schilderung der Meilensteine in der Geschichte der DJ-Musik, verstanden als Oberbegriff für alle Substile, die wie House, Techno, Rap und Hip Hop von DJs entwickelt wurden. Wer „DJ Culture“ gelesen hat, hört diese Musik danach anders, kann vor allem die im Buch selbst vorkommenden Tracks besser einordnen, kennt ihre Entstehungsgeschichte. Besonders empfiehlt sich, die einzelnen Songs parallel zur Lektüre des Buches zu hören. Wer weiß, vielleicht denkt der Verlag vielleicht sogar mal über eine CD zum Buch nach, um das Audio-Erlebnis gleich mitzuliefern.

„DJ Culture“ ist in drei Großkapitel unterteilt: die „Vorgeschichte“, die „Geschichte“ und die „Theorie“. Der letztgenannte Teil liefert die ideengeschichtliche Einordnung mit und hat, da einzelne Stränge aus den beiden ersten Teilen wieder aufgegriffen werden, einen, was hier nicht negativ gemeint ist, repetitiven Aspekt. Nicht negativ deshalb, weil sich so die Namen der genannten DJs und ihr Beitrag zur Popmusik einprägen. Gerade dieser Teil ist aus einer politisch linken Perspektive verfasst. Poschardt, inzwischen bekennender Liberaler und wie viele, die sich vom linken Denken abgewendet haben, ein besonders scharfer Kritiker des Milieus, hat sich entschlossen, das Buch insoweit nicht abzuändern. Eine kluge Entscheidung, denn sonst wäre es keine Aktualisierung, kein Remix, sondern ein aliud geworden.

Das Buch ist in dieser Form nahezu zwingend ein linkes Buch, weil es, wie der Autor selbst formuliert, „eine Geschichtsschreibung und Theoretisierung von Minderheiten- und Underground-Kultur“ ist. Deshalb wird immer wieder betont, wie sehr die Geschichte der DJ-Kultur eine emanzipatorische ist. Man erfährt, wie Musikstile Minderheiten eine Stimme verliehen, wie sie zu eigenen und neuen Standortbestimmungen zuvor diskriminierter Bevölkerungskreise heranreiften. So war „Disco“ eine Entwicklung der schwarzen Homosexuellenszene im New York der frühen 70er, und Rap ein Novum, das Soundtüftler wie Grandmaster Flash zur selben Zeit in den Schwarzen-Ghettos der Stadt entwickelte. Dementsprechend findet sich in der Einleitung von Poschardts „DJ Culture“ auch weiterhin die beim Ersterscheinen maßgebliche Selbstverortung: „Ich bin (…) links.“

Die Stärke von „DJ Culture“ liegt, wie bereits angerissen, vor allem in der Gewichtung, der Hervorhebung der Eckpunkte der Entwicklung des Mannes (Frauen kamen erst später auf den Geschmack) mit den Platten, um die herum zahlreiche Details fein ziseliert angesiedelt sind. So erfährt man, wann der Übergang vom traditionellen Radio-DJ zum „Club-DJ aus dem Underground“ erfolgte, welcher die „Musikgeschichte umschreiben sollte“: nämlich „Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre“ durch die „Disco Music“, der ersten Musikrichtig, die „an den Turntables erfunden“ wurde und deren „Ideal“ eine „Art laszive, gespannte Monotonie“ war, „jede Sekunde gleich und doch komplett verschieden“. „Minderheitenmusik“ aus schwarzen Schwulen-Clubs, die später einen weltweiten Sog entfalten sollte und mit dem Film „Staying Alive“ (1978) endgültig im weißen Mainstream ankam, damit aber auch in die Stagnationsphase eintrat.

Durch „Disco“, wurden DJs zu „Autoren“, und der erste davon war der New Yorker Francis Grosso, dem „das Mischen nicht [genügte]“, weshalb er „Stücke mit Hilfe der Plattenspieles und des Mischpultes [interpretierte]“. All das geschah in Nordamerika. Poschardt weist nach, dass die DJ Culture bis in die 80er Jahre hinein bis auf wenige Ausnahmen US-getrieben war, während in Europa das Mittelmaß dominierte.

Anfang der 70er entstand zudem die Idee des Remixes, ab 1976 technisch festgehalten auf Maxi-Singles, die „ein integraler Bestandteil der DJ Culture“ wurden. Poschardt führt aus, dass bei manchen Tracks sich sogar in erster Linie der Remix im Gedächtnis festbrannte, so dass dieser „für die meisten Hörer“ „zum eigentlichen Original“ wurde. Der Autor schlüpft an dieser wie an vielen anderen Stellen immer wieder auch in die Rolle des Rezipienten, was sein Buch zu mehr als einer bloßen Abhandlung macht und den Leser selbst in diese Rolle hineinzoomt, Erinnerungen an das eigene Hörverhalten und Clubnächte weckt, besonders dann, wenn die sich aufdrängenden Beispiele wie der „DNA remix“ von Suzanne Vegas Song „Tom‘s Diner“ bzw. Marc Kinchens („MK“) Version von „Push the feeling on“ der Nightcrawlers (1995) gleich mitgeliefert werden.

Weithin bekannt ist, dass House als heute dominierende Spielart der Popmusik aus Disco hervorgegangen ist. Ebenso, dass der Name auf dem Chicagoer Club „Warehouse“ beruht und Techno ein Kind und ein Aufbäumen gegen die graue Tristesse Detroits war, die sich mit dem „Motown“-Label schon einmal als Vorreiterin einer neuen Musikrichtung empfohlen hatte. Poschardt gelingt es auch hier, die Entstehungsgeschichte beider Richtungen (House und Techno) minutiös und dennoch nicht dröge nachzuzeichnen und dadurch einen echten Mehrwert zu generieren. Denn wer hat schon Kenntnis davon, dass der Schritt von Disco hin zur House-Bassline vor allem im New Yorker Club „Paradiese Garage“ vollzogen wurde, weshalb vocal- und melodienlastige Tracks bis heute zum Teil als „Garage House“ bezeichnet werden. Überhaupt ist die Paradise Garage ein gutes Beispiel dafür, wie wichtig bestimmte Clubs bei der Herausbildung des DJ-Autors gespielt haben.

Wer Poschardt auf Facebook und Twitter folgt, weiß, dass der affirmative, aus dem Rap bzw. Hip Hop stammende Ausruf „Word!“ zu einer der Lieblingsvokabeln des Autors zählt. Nicht überraschend ist also, dass auch diese Richtung in „DJ Culture“ gebührend behandelt wird. Und zwar nicht nur rein musikalisch, sondern auch mit Blick auf das „Signifying“, also die emanzipatorisch ausgerichtete „schwarze Sprachverdrehung und Sprachschöpfung“, die so prägend für dieses Musikgenre ist. Positiv hervorzuheben ist des Weiteren, wie sehr Poschardt auf Malcolm McLaren eingeht, der Hip Hop als Popintellektueller und „Impressario“ aus dem Ghetto herausgeholt und somit „dekontextualisiert“ hat, was wiederum schwarze Musiker wie Afrika Bambaataa zur Rekontextualisierung bewog.

Diese wechselseitige Befruchtung hat dem Autor zufolge jedwede „Hermeneutik und Orthodoxie“ in der DJ Culture aufgebrochen. In der Tat: genau hierin dürfte die Basis für die fast grenzenlose Kreativität der Soundzauberer liegen. Nicht weniger wichtig war und ist natürlich die Technik, die sich besonders in den letzten 20 Jahren rasant weiterentwickelt hat – eingehend beleuchtet in dem durch Heiko Hoffmann auf den neuesten Stand gebrachten Kapitel „Welcome to the Technodrome“. Dieser Technisierungsschub hat inzwischen die Turntables und schweren Plattenkisten weitgehend durch USB-Sticks ersetzt.

In puncto House hätte man vielleicht bei der Aktualisierung die eine oder andere Erwähnung bahnbrechender Tracks hinzufügen können. So fehlt etwa Faithless’s berühmtes „Insomnia“ (1995), das 2013 vom Branchenmagazin „Mixmag“ zum fünftbesten Dance-Hit aller Zeiten gekürt wurde. Nr. 1 wurde übrigens „One more time“ des französischen Duos „Daft Punk“, welches in Poschardts Buch mit Recht gewürdigt wird, dort vor allem mit dem durch sein Video berühmt gewordenen Track „Da Funk“.

Die Idee, den Remix bzw. die „Extended Version“ von „DJ Culture“ mit einem Nachwort von Westbam enden zu lassen, dem in puncto House und Techno einflussreichsten deutschen DJ, ist ein ebenso guter Einfall wie die Ergänzung des Buchs um einen Exkurs zur Minimal Music, wie Steve Reich und Philipp Glass sie mit ihrer „Versessenheit auf repetitive Strukturen“ geprägt haben. Beide brachten, wie Poschardt zutreffend bemerkt, „Tracks“ hervor, „bevor sie in der elektronischen Tanzmusik vorstellbar waren“, womit in puncto Avantgarde wieder einmal belegt ist, wie artifiziell die Unterscheidung zwischen sogenannter „E“- und „U-Musik“ doch ist.

Westbam wirft zum Schluss einen durchaus kritischen Blick auf die Szene und zeigt die ästhetisch-akustischen Grenzen des Remixens am Beispiel der Verwendung von Rock’n’Roll-Versatzstücken durch Techno-DJs auf. Mit wenigen Ausnahmen wie der Bassline von „Seven Nation Army“ sei das regelmäßig schiefgegangen.

Vor allem aber bringt Westbam das wirklich Einzigartige der DJ Culture in wenigen, gestochen scharfen Worten auf den Punkt: Mit dem DJ und seiner Aktionsfläche, dem Dancefloor, sei die alte „Forderung der Moderne“ nach einem „Niederreißen der Barriere zwischen Künstler und Publikum“ endlich erfüllt worden. Diederich Diederichsen beschreibt das in seinem Buch „Über Pop-Musik“ (2014) ebenso treffend als „zentrierte Beziehung des die gesamte laute, volle, schwere Musik verwaltenden DJs zu den seriellen Tänzern“. Hierin dürfte der Schlüssel für die Sogwirkung liegen, die nicht nur Poschardt und Goetz, sondern auch viele andere Intellektuelle erfasst, die einmal in die faszinierende Clubwelt eingetaucht sind.

Im letzten Satz des Nachworts feiert Westbam die „DJ Culture“ schließlich als ein „Genre, das die B-Seite zur A-Seite werden ließ, aus Underground Pop machte und aus Pop-Underground“ und „die originellste Musik der letzten Jahrzehnte hervorbrachte.“ Wer verstehen möchte, wie das möglich war, dem sei das glänzende Update von Poschardts popkulturellem Klassiker ans Herz gelegt.

Ulf Poschardt: „DJ Culture“. Mit einem Nachwort von Westbam und Aktualisierungen von Heiko Hoffmann, 564 Seiten, Tropen-Verlag, 26,95 Euro

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5 Gedanken zu “Aus dem Underground auf den Olymp der Popmusik – Zum neu erschienenen Remix von Ulf Poschardts Klassiker „DJ Culture“;”

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    Da muss ich Sie enttäuschen, lieber Don Geraldo. Ich werde selbstverständlich weiterhin über Politik schreiben, auch wenn Ihnen das nicht gefällt.

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    Lieber Oliver, vielen Dank für Ihre netten Worte zu diesem Blog! Und besten Dank auch für das Lob meines Textes zu Ulf Poschardts „DJ Culture“ hier. Als Autorin freue ich mich besonders, dass Sie diesen Beitrag anregend finden, obwohl Sie das Thema sonst nicht interessiert. Mehr kann man sich kaum wünschen. 🙂

  3. avatar

    Ich in erst vor ein paar Tagen auf dieses Blog gestoßen – bin ich aber schon jetzt sehr beeindruckt von der Fülle der Beiträge und dem breiten Spektrum, das hier geboten wird.

    Auch dieser Beitrag ist sehr interessant und anregend und das, obwohl ich für gewöhnlich mich nicht für dieses Thema interessiere.

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