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Gegen einen totalitären Laizismus

Vor etwa 2000 Jahren passierte etwas Merkwürdiges mit der Religion. Sie wurde privatisiert. Bis dahin diente der Kultus immer dem Erhalt des Gemeinwesens, genauer: der herrschenden Ordnung.  Herrschenden. Er war staatstragend und wurde vom Staat getragen.

Das Individuum war der Religion gleichgültig; ja in manchen Kulten wurde das Menschenopfer gepflegt. Es ist sicher kein Zufall, wenn das Volk, das zuerst und am deutlichsten das Menschenopfer ablehnte und dessen Propheten fast immer im Gegensatz standen zur Staatsmacht  auch jenen Mann hervorbrachte, der am klarsten den privaten Charakter der Religion betonte: den Rabbi Jesus aus Nazareth.

Seitdem dieser Mann von  Rom – der einem religiös ansonsten sehr toleranten Imperium  – hingerichtet wurde, besteht eine  Spannung zwischen Bekenntnis zur christlichen Religion und Loyalität zum Staat. Und je aufgeklärter und liberaler der Staat ist, desto deutlicher ist diese Spannung. Denn die Religion ist ihrem Wesen nach intolerant: in ihr geht es um letzte Wahrheit; der liberale Staat jedoch basiert auf der impliziten Annahme, dass keine Wahrheit absolut ist: heute regiert diese Partei, morgen jene; und was heute als Wohltat gilt, ist morgen Plage. Einzig der demokratische Prozess selber ist sakrosankt; nicht, weil er auf Wahrheit gründe, oder auf der Weisheit der Wähler,  sondern weil er den Relativismus garantiert. Die personalisierte Religion ist also – so gesehen – der natürliche Feind des Staates.

Daran ändert die Tatsache nichts, dass seit Kaiser Konstantin die Vertreter des Staates immer wieder die Unterstützung der Religion gesucht haben, und dass sich die Vertreter der Religion immer wieder den Herrschenden angedient haben.

Auch der Islam stammt aus der Tradition des Judentums und des Christentums, und es ist infolgedessen nicht richtig zu sagen, dass der Islam die Trennung von Moschee und Staat analog der christlichen Trennung von Kirche und Staat nicht kenne. Mohammed beginnt ja seine Laufbahn als Prophet, indem er sich dem herrschenden Kult und den politisch Herrschenden in Mekka entgegenstellt, ganz wie die alttestamentlichen Propheten. Auch im Islam ist also ein Widerspruch zwischen den Anforderungen der Religion an das Individuum und den Anforderungen des Staats an das Individuum angelegt.

Kemal Atatürk etwa meinte, nur dadurch einen modernen Staat aufbauen zu können, indem er die Religion einerseits unterdrückte, andererseits kooptierte. Mit der Ditib schuf er eine staatliche Religionsbehörde, die staatskonforme Prediger und Moscheen fördert; gleichzeitig verbot er die öffentliche Zurschaustellung privater Religiosität in staatlichen Einrichtungen,  etwa das Kopftuch – ein Verbot, das bis vor wenigen Tagen in der Türke galt. Noch heute finden manche Deutsch-Türken, die in hiesigen Medien oft als „Stimmen eines gemäßigten Islam“ herangezogen werden, um ähnliche Verbote in Deutschland zu rechtfertigen, Atatürks Politik richtig. Dabei hat die Unterdrückung des Islam durch Atatürk und seine vielen Nachahmer in der islamischen Welt erst den Islamismus hervorgebracht. Die Ideologie der Islamisten ist ja nicht originell, sie stellen nur die Behauptung der Modernisierer – Atatürk, Gamel Abdel Nasser, Hafiz al-Assad, Saddam Hussein, Schah Reza Pahlawi usw. – , Islam und Moderne seien unvereinbar, auf den Kopf: umso schlimmer, sagen die Islamisten, für die Moderne.

Wenn wir diesen Konflikt kopfschüttelnd beobachten, sollten wir nicht vergessen, dass wir es keineswegs, wie manche überheblichen und ungebildeten Kommentatoren behaupten, mit einem „mittelalterlichen“ Phänomen zu tun haben. Gerade einmal 140 Jahre ist es her, da das Deutsche Reich unter Otto von Bismarck einen „Kulturkampf“ gegen die katholische Kirche führte, in dessen Verlauf 1800 katholische Geistliche – darunter auch Bischöfe und Erzbischöfe – ins Gefängnis gesteckt, Kirchengüter beschlagnahmt, Klöster aufgelöst, die Tätigkeit der Jesuiten verboten und die Beziehungen zum Vatikan abgebrochen wurden. Dabei ging es um die Vorherrschaft des modernen Staates gegenüber der Religion. Nur standesamtlich geschlossene Ehen sollten gültig sein; den staatlich ausgebildeten, ausgewählten und alimentierten Pfarrern sollte verboten werden, staatskritische Predigten zu halten; der Staat übernahm die Aufsicht über die konfessionellen Schulen. Der Vatikan hingegen erklärte im „Syllabus Errorum“ die meisten Errungenschaften der Moderne, einschließlich der Demokratie, für Teufelszeug.

Aus der Perspektive eines triumphalistischen Laizismus sind Bismarck und Atatürk Helden; doch sind sie auch Vorboten jener Vergötzung des Staates, die in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führte: in den Ersten Weltkrieg mit seinen Abermillionen, die der „Ehre der Nation“ geopfert wurden, und in die kollektivistisch-totalitären Modelle des Faschismus und Kommunismus.

Es mag verwundern, dass ein bekennender Atheist und ausgewiesener Papst-Kritiker wie ich Verständnis für den religiös motivierten Widerstand gegen staatliche Allmacht äußere. Doch Vorsicht! Was ich lobe, ist der Widerstand, nicht das Motiv. Was ich in Frage stelle, ist der staatliche Allmachtsanspruch, nicht den Staat.

Worum es mir geht, ist die Selbstprüfung der Laizisten. Es gibt einen Punkt, an dem die legitime und notwendige Verteidigung des Laizismus umschlägt in die unnötige und gefährliche Unterdrückung der Religion; an dem der Laizismus im Kampf gegen die Religion, die ja immer einen totalitären, also den gesamten Menschen erfassenden Aspekt hat, seinerseits tendenziell totalitär wird. Wenn in den Niederlanden ein Geert Wilders unter Hinweis auf bestimmte Koran-Stellen behauptet, Islam und Demokratie seien unvereinbar, so dass sich Muslime von ihrer Religion distanzieren müssten, um Zweifel an ihrer Staatstreue zu zerstreuen und das Bürgerrecht zu verdienen, so sind die Gedanken nicht mehr frei, sondern Gegenstand staatlicher Kontrolle und Sanktionen. Das ist Totalitarismus im Namen der Demokratie.

Und wenn etwa der von mir durchaus geschätzte Tilman Jens in der Verabschiedung eines Ausnahmegesetzes, das die Beschneidung in Deutschland gestattet, bereits den „Sündenfall der Demokratie“ erblickt, dann hat er nicht verstanden, dass umgekehrt eine Rechtslage, die jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland tendenziell verunmöglicht hätte, unmöglich als liberal und aufgeklärt gelten kann. Ja, manchmal besteht die Liberalität darin, Dinge zu tolerieren, ja zu verteidigen, die man als Liberaler fragwürdig findet. Jens beendet sein Buch netter-oder perfiderweise mit einem Zitat von mir, in dem ich nicht nur die Beschneidung, sondern auch die religiöse Indoktrination von Kleinkindern kritisiere; in beiden Fällen finde ein Eingriff in die personalen Rechte des Kindes statt, das dauerhafte Folgen hat. In der Regel richte die religiöse Unterweisung sogar  erheblich größeren, weil seelischen Schaden an als die Operation an der männlichen Vorhaut. Ich bin also als Liberaler – und Atheist – durchaus kein Freund der frühkindlichen religiösen Indoktrination. Sollte sich aber der Staat anmaßen, Eltern die Weitergabe ihres Glaubens zu verbieten, also Gedanken zu kriminalisieren, wäre ich der erste (hoffe ich), der sich solchem Totalitarismus entgegensetzen würde.

Die Kritik der Religion ist die Grundlage jeder Kritik; sie darf nicht mit windigen Argumenten wie „Rücksicht“ oder „Respekt“ eingeschränkt werden. Es gibt keinen Grund, die Religion zu „respektieren“, ob es sich nun um Judentum oder Christentum, Islam oder Mormonentum, Scientology, Druidentum oder Schamanismus handelt. Ich persönlich finde viele Schönheiten in den Religionen neben vielen Absurditäten; aber ich bringe ihnen keinen besonderen Respekt entgegen, und ich denke nicht, dass sie intellektuelle Schonung verdienen oder Schutz vor Spott brauchen. Im Gegenteil; zumindest in der muslimischen Welt sind es die Spötter, die Schutz brauchen. Noch einmal: die Religionskritik ist die Grundlage jeder Kritik, der Maßstab der Freiheit.

Allerdings ist die Freiheit der Religion die Grundlage jeder Freiheit. Denn diese Freiheit beinhaltet die Freiheit, einen Glauben zu bekennen, der nicht nur dem Atheisten, sondern den Angehörigen aller anderen Konfessionen als ausgemachten Blödsinn – wenn nicht als Gotteslästerung – erscheint. Die Freiheit der Religion – und zwar der Religionsausübung – ist die größte Herausforderung. Deshalb sind die Freiheit der  Religionskritik und die Freiheit der Religionsausübung nicht Gegensätze, sondern bedingen einander.

Manche Islamkritiker wollen uns einreden, der liberale Staat werde durch seine Nachsicht gegenüber dem Islam gefährdet, die Europäer würden vorsorglich vor der Intoleranz des Islam kapitulieren und sich selbst aufgeben. Es mag sein, dass es hier und dort solche Neigungen gibt, die meistens eher einer falsch verstandenen Romantisierung von Minderheiten entspringen als der Kapitulation vor der Intoleranz. Im Europa der Minarett-, Muezzin-, Burka-,  Kopftuch-, Schächt- und Beschneidungsverbote – von der NSU ganz zu schweigen – ist, scheint mir, die übergroße Toleranz gegenüber dem Islam nicht unser Hauptproblem.

Und was die „christlich-jüdische“ Tradition angeht, die angeblich unsere Kultur bestimmt, so mögen Vertreter der Kirchen in allerlei Gremien sitzen und Vertreter der Juden bei allerlei feierlichen Anlässen hofiert werden; jedoch kann von einer wirklichen Präsenz dieser Tradition in unserer Gesellschaft kaum die Rede sein. Die Kirchen gerieren sich zuweilen als moralische Anstalten oder reklamieren für sich einen besonderen Zugang zur Ethik. Auch als Reaktion auf diese Anmaßung darf man die Empörung über den „Protz-Bischof“ – und die Schadenfreude über eine alkoholisiert fahrende evangelische Bischöfin – verstehen. Die Kirchen mögen also als Machtfaktoren und Moralinstitutionen präsent sein, doch damit verraten sie genau jenes Erbe, das an ihrem Anfang steht: die Abkehr vom Staatskultus hin zur privaten Religion. Die Geschichten, die dieses Erbe transportiert hat, von Adam und Eva, Joseph und Moses, David und Salomon, den Propheten und den Makkabäern, von Maria und Jesus, Petrus und Paulus – diese Geschichten sind immer weniger Menschen präsent – selbst bekennenden Christen. Ich bin als Atheist altmodisch genug, das schade zu finden.

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74 Gedanken zu “Gegen einen totalitären Laizismus;”

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    @EJ: Ich habe gestern einen Artikel aus der letzten FAS gelesen, in dem es um einen Vater geht, der seinen Sohn, der als Raubmörder im Gefängnis sitzt, bei einem Freigang besucht. Er hätte seinem Sohn immer gesagt: „Du kannst alles tun was du willst, du darfst dich nur nicht erwischen lassen.“ Der erste Teil dieser Aussage ist nun der Weckruf der Freiheit schlechthin: „Nimm dir, was du willst; die Welt gehört dir; und wenn nicht, dann mach sie dir zueigen!“ Freiheit wie im Wilden Westen. Das Ergebnis dieser libertären Erziehung ist leider das Gegenteil von Freiheit; der Sohn sitzt zurecht im Gefängnis.

    Grundlage dieser Geschichte ist keinerlei Religion. Die hat mit dieser Geschichte nicht das Geringste zu tun. Sehr viel aber mit Freiheit und Staat.

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    Herr Posener, ich durfte schon oft von deutschen Laizisten hören, wie toll der türkische Laizismus wäre und wunderte mich darüber, das gerade der türkische Laizismus genau die Probleme hervorbringt, die sonst bei nicht-muslimischen Minderheiten und Religionen beklagt werden.
    Und die Existenz der Diyanet gehört auch dazu.

    Der türkische (kemalistische) Laizismus ist radikal allerdings nicht radikal im Sinne der völligen Trennung von Staat und Kirche, sondern im Sinne von Laizismus als Staatdoktrin. Da gibt es keine Trennung im Sinne von USA oder Frankreich. Die staatliche Neutralität ist defizitiär.

    Instrumente des kemalistischen Staates werden gerne noch gepflegt obwohl ja gerade die islamisch-konservative AKP regiert. Das ist aber kein Widerspruch. Neben ein paar Reformen bedient man sich deren Instrumente.

    Im Grunde sind Konservative und Kemalisten in ihrem Vergöttern des Staates nicht so weit auseinander. Ersterer sind vielleicht etwas neo-liberaler, aber als Sozialtechnik bedienen sie sich der gleichen Mittel.

    Soviel zu deutschen Laizisten, die keine Ahnung vom Laizismus haben (besonders türkischer Prägung)

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    Ich sehe die Gefahr eines totalitären Laizismus bei der Verabsolutierung von wissenschaftlichen Thesen zu Wahrheiten – bzw. daraus konkret abgeleiteten Verhaltensregeln: Ernährung, Gesundheitsvorsorge (z.B. Rauchverbote, Anschnallpflicht, Vorsorge-Gängelung usw., bis ggf. hin zur Eugenik). Mich wundert, daß Ex-DDRler, wie dbh nicht darauf kommen, darauf hinzuweisen, daß insbesondere der Sozialismus wissenschaftlich begründet wurde (um vom Nationalsozialismus gar nicht erst, bzw. schon wieder zu reden).
    Was „vernünftig“ ist, oder von einer Mehrheit dazu erklärt wird, kann also extreme Formen annehmen.
    Da kann Religion ein Korrektiv sein, z.B. bei den Katholiken ein „ultramontanes“, was heißen würde, daß nicht nur Berlin/Brüssel zählt, sondern auch „Rom“.

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    EJ: Ich würde APO darin zustimmen, dass Religionsfreiheit die Grundlage aller Freiheit ist – in unserer monotheistischen Welt jedenfalls. Aber insofern die Religionen selbst Religionsfreiheit nicht – oder, s.o.: “Anpassungsprozess”, noch nicht – kennen und anerkennen, das scheint mir Ihr berechtigter Einwand zu sein, muss (mit aller Macht!) der neutrale Staat her, um (Religions-)Frieden und (Religions-)Freiheit zu sichern.

    .. . Religionsfreiheit ist die Freiheit zu glauben oder nicht zu glauben; ein Menschenrecht, das niemand streitig machen kann.

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    @ Roland Ziegler: Auch sprechen Sie von einem Anpassungsprozess, den die Religionen durchlaufen müssen.

    Ich würde APO darin zustimmen, dass Religionsfreiheit die Grundlage aller Freiheit ist – in unserer monotheistischen Welt jedenfalls. Aber insofern die Religionen selbst Religionsfreiheit nicht – oder, s.o.: „Anpassungsprozess“, noch nicht – kennen und anerkennen, das scheint mir Ihr berechtigter Einwand zu sein, muss (mit aller Macht!) der neutrale Staat her, um (Religions-)Frieden und (Religions-)Freiheit zu sichern.

    (Binse: Potentiell übergriffig sind beide, Staat und Religion. Und ganz schlimm wird’s, wenn sie im Einverständnis miteinander übergriffig werden: z.B. Beschneidung.)

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    @Alan Posener: Ihre konkreten Antworten finde ich sehr vernünftig. Sie wägen verschiedene Dinge miteinander ab und stellen – auf neutralem Terrain – das Wohlergehen der Kinder in den Vordergrund. Auch sprechen Sie von einem Anpassungsprozess, den die Religionen durchlaufen müssen. Das ist alles richtig. Mir scheint lediglich, dass dieses laizistische Vorgehen sich im Widerspruch zu Ihren allgemeinen Ausführungen zur Freiheit der Religion als Grundlage aller Freiheit befindet, die ich kritisiert hatte. Aber wahrscheinlich ist dieser Punkt Ihres Essays gar nicht so wichtig.

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    Also, ein paar Antworten:
    1. Niqab, Burka: ich war Lehrer in Spandau, als es in Berlin ein Kopftuchverbot in der Schule gab. (Viele Leute wissen nicht, dass es in den 1980er Jahren Zuzugsverbote für Türken in bestimmte Stadtteile und eben ein Kopftuchverbot in den Schulen gab.) Ich habe mich nicht dagegen gewehrt. Beide Maßnahmen hatten aber vor Gericht keinen Bestand.
    Ich glaube, dass die Unterrichtssituation den Gesichtskontakt erfordert. Falls der zwischen Männern und Mädchen nicht erwünscht ist, müssen sich die Eltern um eine Privatschule kümmern, in der meinetwegen nur Frauen unterrichten, so wie es früher ganz üblich war, hierzulande Mädchen auf Nonnenschulen zu schicken, übrigens auch mit Rücksicht auf ihre „Ehre“, „Unschuld“ und dergleichen. Es gibt Ungleichzeitigkeiten bei der Anpassung der Religionen an die Moderne, und die muss man berücksichtigen. Ein Kopftuch im Unterricht stört niemanden.
    2. Schwimmunterricht: Als ich noch Schüler war, also in den 1960er Jahren, war der Sport- und Schwimmunterricht selbstverständlich für Jungen und Mädchen getrennt. Aus vielerlei Gründen, aber auch aus Gründen der Schamhaftigkeit. Ich bin nicht sicher, ob die Aufhebung der Trennung, wie sie jedenfall in den Berliner Grundschulen – also bis zur 6. Klasse – praktiziert wird, wirklich gut für die Mädchen ist.
    Jedenfalls ist der Widerstand streng gläubiger muslimischr Eltern gegen einen gemischten Schwimmunterricht nachvollziehbar. Inzwischen gibt es ein höchstrichterliches Urteil, demzufolge Ganzkörperschwimmkleidung von den Schulen zu erlauben ist, aber unter diesen Bedingungen der Schwimmunterricht zur Pflicht erklärt werden kann. Das finde ich sehr weise.
    3. Kreationismus (und „intelligent design“): Fürchterlicher Unsinn. Das Ansinnen christlicher Fundamentalisten in den USA, das Lehren dieses Unsinns als „alternative Theorie“ zum Darwinismus im naturwissenschaftlichen Unterricht vorzuschreiben, läuft im Kern darauf hinaus, die faktenbasierte Methode auszuhebeln und den Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Glauben zu leugnen. Was übrigens dem Glauben auch nicht gut tut, aber das nur nebenbei. Hier muss man auf Trennung beharren. Bio-Lehrer müssen lehren, was Stand der Wissenschaft ist. Religionslehrer können andere Dinge behaupten.
    So, das waren m.E. die Fragen, die mir gestellt wurden.

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    Was die Hinweise vomblondenhans angeht, so ist es m.E. sehr wichtig zu erkennen, dass es die Religösen selber sind, die sich da gegenseitig fertigmachen. Jeder meint, die Fackel der Weisheit mit sich herumzutragen, die ihm der Andere irgendwie abspenstig macht, weshalb man ihm das Gotteshaus anzünden muss.

    Das sind innerreligiöse Konflikte (die monotheistischen Religionen sind ja gar nicht so weit auseinander), kein Beleg für die Gefahren des Laizismus. Im Gegenteil.

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    Cher Apo,

    „ber Lehrpersonal und SchülerInnen sollen sich so kleiden dürfen, wie es ihnen ihr Gewissen vorschreibt.“

    wuerden sie als ehemaliger Lehrer auch die burqua oder niqab im Unterricht tolerieren???

    Ich habe viele Zweifel…

    Und dann:

    In Rome do as the Romans do

    Fuer mich gibt es Toleranzgrenzen, ich sehe mit Schrecken wie e.j. in den US der creationism zunimmt.

    Sind sie da toleranter??

    Und wo beginnt die Toleranz und wo hoert die Toleranz auf.

    Die Frage habe sie leider nicht beantwortet.

    Das Beispiel von Roland Ziegler mit dem Schwimmunterricht ist doch ganz pragmatisch.

    Wo bleibt da ihre konkrete Antwort.

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    @Alan Posener: Ich kann die Fragen nicht gut alleine beantworten. Ich glaube, dass die Gesellschaft diskutieren muss, weil die Antworten nicht „ex kathedra“ feststehen, sondern in Veränderung begriffen sind. Die Globalisierung erfordert es, dass man zeitgemäße Ansätze, Formulierungen und Antworten findet. Früher – vor 30 Jahren – genügte es, die Religionen in ihrer Individualität einfach zu „schützen“, denn früher kam niemand auf die Idee, einem anderen wegen Diebstahls die Hand abzuhacken bzw. wegzusprengen und Gottes Wille dafür ins Feld zu führen. Man kam aus einer furchtbar autoritären Zeit und musste sich befreien; da war der Ruf nach Freiheit sozusagen absolut sinnvoll. Heute ist es anders; wir leben in einer (recht) freien Gesellschaft, die sich international geöffnet hat und weiter öffnet. Heute müssen wir darüber nachdenken, wie und was wir begrenzen, damit wir nicht vor lauter Freiheitsliebe die Freiheit wieder verlieren (mit der Macht verlieren wir auch die Freiheit).

    Aber eine Frage will ich wenigstens beantworten. Beim Schwimmunterricht meine ich, dass alle daran teilnehmen müssen, egal ob religiöse Gründe dagegen sprechen. Das ist keine sehr freiheitliche Position, fürchte ich, betrachtet aus der religiösen Perspektive. Betrachtet aus der Perspektive der Mädchen, sieht es aber anders aus.

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    Lieber Jean-Luc:
    „Seit 2004 ist es auch untersagt, in Schulen auffällige religiöse Zeichen zu tragen, wie Schleier, Kippa, Kreuze, Turbane (bei Sikhs) oder Ordenstracht.“ Ja, das ist laizistischer Totalitarismus. Ich bin gegen Kruzifixe in staatlichen Schulen oder in Gerichten, aber Lehrpersonal und SchülerInnen sollen sich so kleiden dürfen, wie es ihnen ihr Gewissen vorschreibt.

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    Die Hinweise von dbh sind ja ein Beleg dafür, wie wichtig die religiöse Freiheit ist. Insofern verstehe ich nicht, wieso er sie hier gegen meine These in Ansachlag bringt. Im übrigen sollte man sich mal die Situation der Muslime in Birma anschauen.
    Brunos Argument kann ich nicht nachvollziehen. Die Sechs-Tage-Arbeitswoche ist keine Errungenschaft des Christentums, sondern des Judentums. Inzwischen gilt die Fünftagewoche in den meisten entwickelten Ländern, und sie ist eine Errungenschaft der Gewerkschaften. Als lebenslanges Mitglied nehme ich sie gern mit. Würde aber nie auf den Gedanken verfallen, sie jenen zu missgönnen, die sich nie dafür eingesetzt haben. Was ist das für eine Haltung? Christlich ist sie jedenfalls nicht.

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    Wenn es dem eigenen Vorteil dient, ist man doch gerne total tolerant! Dazu ein Beispiel aus der Mitte der Gesellschaft der Besserwisser:
    im momentanen Verhältnis von Christentum/Religion und Staat fallen die Atheisten durch ihr inkonsequentes Verhalten auf, das man auch als Doppelmoral bezeichnen kann. Wie selbstverständlich pflegen sie die 7-Tage-Woche und meinen dabei, wie Gott am siebten Tag ruhen zu dürfen. Da sie nicht der Sonntagspflicht eines Christen nachkommen und den gebotenen Kirchgang pflegen (nur deshalb ist der Sonntag nämlich bei uns im Prinzip arbeitsfrei), hüten sie vermutlich überlang das Bett und faulenzen grundlos an diesem Tag. Wer Gott aber nicht gleicht, braucht auch keinen Ruhetag! Also für den Atheisten hieße das logischerweise, jeden Tag arbeiten gehen und den Nachwuchs in die Bildungsanstalt stecken, statt kulturell vom Christentum zu schmarotzen, sich den arbeitsfreien Tag bezahlen zu lassen und die Staatskasse durch ihre Nichtarbeit zu schädigen!

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    ..totalitärer Laizismus, der sich da breitmacht, wo wissenschaftliche Thesen zum Glaubensinhalt werden. Machbarkeitswahn, etc..
    Etwas Atheistisches: Wenn sogenannte Erkenntnisse, z.B. neurobiologische über die Willensfreiheit oder ganz einfach bestimmte Annahmen über gesunde Ernährung etc. in den Rang von sogenannte Wahrheiten gelangen – und das passiert ständig – wird abweichendes Verhalten bis zum Totalitären hin stigmatisiert. Aber es gibt auch Wissenschaftler, die teilen diesen Absolutheitsanspruch überhaupt nicht. Es gibt ihn nicht: Den Widerspruch zwischen wissenschaftlicher Weltsicht und Religiösität, also auch überhaupt kein Grund zu irgendeinem areligiösen Totalitarismus. Sehr schön hierzu:
    http://eco.fkp.physik.tu-darms.....nhalt.html
    oder als audio
    http://www.fkp.tu-darmstadt.de.....nfo.de.jsp
    (Das sollte sich Steven Hawking mal anhören..)

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    Die meisten religiösen Gesetze sind überhaupt kein Problem, und niemand (oder fast niemand) würde ihre Freiheit einschränken wollen. Ob man nun am Sonntag in die Kirche geht und betet oder beichtet oder sich in der Moschee niederkniet oder in die Synagoge geht und dort seinen religiösen Dienst verrichtet, ob man am Freitag Fisch oder grundsätzlich nie Schwein isst oder was man auch immer den lieben langen Tag religiös tut, das interessiert doch eigentlich keinen.

    Es geht um sehr spezielle Dinge, die zu diskutieren sind; auch um eine Konkurrenz unter Religionen (Minarettverbot), was sich die Religiösen selber zurechnen müssen. Nicht um eine generelle laizistische Religionsfeindlichkeit.

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    …oder das Problem der Teilnahme am Schwimmunterricht. Dürfen Religiöse ihre Töchter vom gemnischtgechlechtlichen Schwimmunterricht aus religiösen Gründen befreien? Hier befinden wir uns direkt auf der Grenze; die einen zerren in diese, die anderen in jene Richtung.

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    Lieber Roland Ziegler, lesen Sie die Kommentare von Herrn Räbiger und Herrn Würfel, und Sie werden erkennen, dass der Kampf gegen die laizistische Intoleranz vulgo Staatsgläubigkeit keineswegs überflüssig ist.

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    Lieber Herr Räbiger, wie Sie von richtigen Beobachtungen über gewaltbereite Fundamentalisten (bei denen ja nicht der Fundamentalismus, sondern die Gewalt das Problem ist), auf Taufe und Beschneidung kommen, bleibt Ihr Geheimnis.

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    Zu der wichtigsten Passage: In manchen Strömungen des Islam gibt es Forderungen, die aus der Scharia stammen und eindeutig unvereinbar sind mit dem liberalen Staat. Denken Sie an das Handabhacken bei Dieben oder die Todesstrafe (z.B. im Iran praktiziert). Hier gibt es keinen Zweifel; solchen Forderungen muss man entgegentreten, obwohl sie religiöser Natur sind.

    Aber nicht alle Forderungen sind so zweifellos wie diese Beispiele. Bei Beschneidungen oder Bekleidungsregeln gibt es Zweifel, ob man diese religiösen Forderungen akzeptieren muss oder eben nicht. Und das ist eben die Frage: Wo fängt die Religionsfreiheit an und wo hört sie auf? Hier einfach zu sagen: „Hände weg von der Religion! Der Staat hat sie zu beschützen, nicht zu begrenzen“ bedeutet, mit einer simplizistischen Losung das zentrale moderne Problem auszublenden.

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    Lieber Ralph Würfel, was Sie da über die Erfindung der Religion schreiben, ist in etwa das, was ich mit der Privatisierung meine. Da sehe ich keinen Widerspruch. Das ist übrigens ein fortlaufender Prozess. Jede „Reformation“ im Christentum, beginnend lange vor Luther, richtete sich auf eine Re-Privatisierung der Religion gegen die Ansprüche des Staates – und zielte sogleich damit in der Tat auf eine Verstärkung des religiösen Gefühls. Deshalb zum Beispiel sehe ich als Atheist Luther durchaus kritisch; Erasmus mit seiner skeptischen Relativierung der Religion ist mir viel sympathischer und ist auch viel „moderner“.
    Was aber Ihrten Einwand gegen die Religionsfreiheit angeht, so danke ich Ihnen, weil Sie damit genau jene intolerante Haltung vorführen, die ich kritisiere. Sie haben Recht, und das habe ich ja geschrieben: jeder Religion wohnt etwas Totalitäres inne; deshalb ist die Freiheit VON der Religion – die Religionskritik – so wichtig. Aber – und diesen Widerspruch muss der Liberale aushalten, und genau dasrum geht es mir – die Freiheit ist ja immer die Freiheit des Andersdenkenden, also hier des Andersglaubenden, also des Glaubenden. Der Staat, auch der liberalste Staat, hat nicht das Recht, diese Freiheit aufzuheben. Gewiss, sie ist wie jede Freiheit an die Gesetze gebunden; aber diese Gesetze dürfen ihrerseits nicht diskriminierend sein. Leuten eine Kleidervorschrift machen, ob das nun das Tragen eines gleben Sterns oder das Ablegen einer Burka ist: das geht nicht.
    Lieber Herr Montag, ich habe Geert Wilders nicht als Streiter für die Demokratie, im Gegenteil: ich habe ihn als Streiter für den Totalitarismus gekennzeichnet. Man sollte schon genau lesen, bevor man kritisiert.
    @ Alle:
    Vielleicht sollte ich klarstellen, dass ich folgende Passage für die wichtgste in diesem Essay halte:

    „Manche Islamkritiker wollen uns einreden, der liberale Staat werde durch seine Nachsicht gegenüber dem Islam gefährdet, die Europäer würden vorsorglich vor der Intoleranz des Islam kapitulieren und sich selbst aufgeben. Es mag sein, dass es hier und dort solche Neigungen gibt, die meistens eher einer falsch verstandenen Romantisierung von Minderheiten entspringen als der Kapitulation vor der Intoleranz. Im Europa der Minarett-, Muezzin-, Burka-, Kopftuch-, Schächt- und Beschneidungsverbote – von der NSU ganz zu schweigen – ist, scheint mir, die übergroße Toleranz gegenüber dem Islam nicht unser Hauptproblem.“

    Wobei ich da nicht einmal Srebrenica und die Belagerung Sarajewos erwähne …

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    Für mich als toleranten Atheisten, der generell Religion als eine private Angelegenheit sieht, gibt es ein Problem auf persönlicher wie auf gesellschaftlicher Ebene: Wie geht ein säkularer Staat und ein toleranter Atheist mit der Intoleranz der religiösen Fundamentalisten, die ja teilweise bereit sind auch einen Vernichtungskampf gegen alle die nicht bereit sind sich dem jeweiligen Glauben zu unterwerfen, um? Ich weiss das diese Fundamentalisten eine Minderheit sind, die wie wir ja jeden Tag erleben bereit sind sich und andere Menschen in den Tod zu ziehen.
    Beschneidung und Taufe sollten auf der freien Entscheidung eines erwachsenen Menschen geschehen, der sich so der Religion seiner Väter mit einem bewußten Schritt anschließt. Mal sehen wieviele Menschen sich dann noch beschneiden lassen.

  22. avatar

    Um die Tiefe des Ozeans zu beschreiben, reicht es nicht, die Wasseroberfläche zu betrachten. Natürlich hat Religion auch eine Oberfläche. Diese kritisch zu würdigen, ist sicherlich interessant, fördert aber kaum das Verständnis für das Wesen. Warum wird nicht getaucht?

  23. avatar

    Die Antastbarkeit des Staates stellt im Gegensatz zur Antastbarkeit der Religion heute und hierzulande überhaupt kein Problem dar: Jeder meckert nach Belieben über den Staat und hat dabei grundsätzlich auch Recht. Niemand stellt den Staat an die Stelle der Religion; das ist eine Chimäre. Dagegen zu kämpfen wäre ein Kampf gegen Windmühlenflügel 🙂

  24. avatar

    Zwei fragende Anmerkungen:

    – Das Christentum, das mit Isaak, Hiob und Jesus Christus drei zentrale Figuren hat, die sich über die eigene Aufopferung charakterisieren in zentralen Texten behandelt, als dem Menschenopfer völlig konträr darzustellen…

    – und Gert Wilders als Streiter für die Demokratie zu benennen…

    würde ich mit dicken Fragezeichen versehen.

  25. avatar

    Auch irren Sie, was Religionsfreiheit angeht. Es gibt eine Freiheit der Weltanschauung, nicht aber eine Freiheit der Religionen, Anderen vorzuschreiben, wie sie zu leben und zu sein hätten. Also nein, keine Religionsfreiheit. Aber die Freiheit der Meinungsaäußerung und des Bekentnisses zu einer Weltanschuungen. Und Religionen sind eben keine Weltanschauungen, sondern Ideologien. Und zwar totalitäre.

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    Sehr geehrter Herr Posener, Sie irren. Religionen wurden nicht privatisiert. Sie wurden erfunden. Vor etwa 2.500 Jahren. Religionen sind Systeme, die zwar auf einen religiösen Glauben beruhen, aber nicht mit diesem identisch sind. Tatsächlich sind Religionen Ideologien. Jede Religion hat fünf Komponenten: Mythos – Ritual – Kanon – Leges – Klerus (politische Ideologien haben übrigens einen analogen Aufbau). Mythos und Ritual kennen wir aus den archaischen Protoreligionen. Unter Leges verstehe ich sämtliche Vorschriften, Gesetze, Gebote und Verbote, aber auch Wertevorgaben (Moral). Diese werden häufig den vorhandenen mythologischen Schriften entnommen (teils auch erfunden) und vom Klerus in eine verbindliche mythologische Form (Kanon) gegossen. Der Klerus schließlich hat die Deutungshoheit über Mythos, Ritus, Kanon und Leges, wodurch er sich vom Laientum unterscheidet. Der Klerus ist hierarchisch aufgebaut und meist nicht demokratisch legitimiert. Ihm geht es bei der Gründung einer Religion um eine neue Gesellschaftsordnung, um die Umgestaltung des vorgefundenen politischen und ökonomischen Systems nach eigenen Maßgaben und meistens auch zu eigenen Gunsten. Dies macht sie zum Spiegelbild politischer Ideologien. Dies alles verwechseln Sie mit Glauben. Glauben definiere ich als eine persönliche Überzeugung aufgrund einer fehlenden oder nicht genutzten Information. Jeder Mensch glaubt im Alltag mal irgendwas: dass man etwas falsch gemacht habe, dass man krank sei, dass das Schicksal in den Sternen stünde oder dass man etwas nicht schaffe (pünktlich zu sein, eine Aufgabe zu bewältigen). Dies nenne ich „profaner Glauben“. Holt man sich jedoch die fehlenden Informationen, wird aus dem Glauben Wissen. Man fragt nach, erwirbt gesicherte Kenntnisse und handelt entsprechend. Davon zu unterscheiden ist „religiöser Glauben. Religiöser Glauben beruht auf einen religiösen Mythos oder eine Mythologie. Im Kern handelt es sich beim religiösen Glauben also um eine Weltanschauung.

    Vor-religiöse Formen wie Animismus und Schamanismus kennen noch keinen Glauben, sondern nur Mythos und Ritual. Glaube entsteht aus dem Mythos der animistisch-schamanischen Gesellschaften bzw. Gesellschaften mit kultischer Verehrung. Denn in der kultischen Verehrung, im Gottkönigtum und (vollständig ausgeprägt) in den monotheistischen Religionen ist der Mythos nicht mehr Wirklichkeit, er verliert seine Bedeutung und schafft keine Bindung an das Göttliche mehr. Der Mythos verliert nun seine ursprüngliche Bedeutung für die soziale Gruppe. Die Menschen verstehen nicht mehr, was der Mythos bedeuten soll und warum das Ritual ausgeführt werden muss. Deshalb entsteht der Glaube und entstehen Glaubensgemeinschaften. Eine Glaubensgemeinschaft ist die Gemeinschaft derer, die sich um einen religiösen Mythos (oder eine Mythologie) versammeln, von dessen Wahrheit die Menschen dieser Gemeinschaft persönlich überzeugt sind und sich auch zu ihm bekennen. Glaubensgemeinschaften entstehen gewöhnlich in direkter Folge nach dem Tode eines spirituellen Meisters (Buddha), philosophischen Lehrers (Pythagoras) oder vermeintlichen Propheten (Jesus, Mohammed). Gewöhnlicherweise haben diese Menschen selten ein Interesse, ihre Lehren in eine lehrbuchhafte Form zu gießen, sondern – sofern sie überhaupt Schriften hinterlassen, da sie meist Analphabeten waren – es werden aus Überlieferungen oder gefundenen Textfragmenten „heilige Schriften“ zusammengestellt. Diese sind so offen formuliert, dass sie interpretiert und ausgelegt werden müssen. Diese Auslegungen bilden die Grundlage für eine Religion.

  27. avatar

    Ich glaube, dass hier auch keine Nazis oder totalitären Kommunisten diskutieren, die man vom Fluch des totalitären Laizismus überzeugen müsste.
    Sagen wir es mit Ihren eigenen Worten:

    „Es gibt einen Punkt, an dem die legitime und notwendige Verteidigung des Laizismus umschlägt in die unnötige und gefährliche Unterdrückung der Religion“

    Das ist dasselbe, nur aus der anderen Richtung gedacht. Sie behaupten, es gäbe diesen Punkt, sagen aber nicht, wo er ist. Aber eben das ist Gegenstand der verschiedensten Auseinandersetzungen. Es handelt sich um die Grenze zwischen religiös motivierten Handlungen, die man tolerieren muss, und Handlungen (egal wie sie motiviert sind), die man nicht tolerieren darf.

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    @Alan Posener: Es gibt aber Leute, die meinen, (ihre) Religion sei unantastbar. Diese Leute stellen heutzutage ein großes Problem dar (Al Kaida). Mit denen muss man eine grundsätzliche Auseinandersetzung führen. Wo liegen die Grenzen der Religion bzw. sollten sie liegen, das ist eine wichtige Frage. Gibt es überhaupt welche.

    Auch gibt es Leute, die meinen, ihre Freiheit sei ständig & überall gefährdet, und dabei sei die Freiheit doch das einzige, was sie lieben (Liberalismus). Auch die machen es sich zu einfach mit der Freiheit.

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    Der Lynchmob ist augenblicklich sehr frei. Deshalb ist er auch so berauscht. Niemand schreitet ein, er lyncht, wen er will. Er ist zu sehr frei. Die Muslima, die sich nicht so kleiden darf, wie sie will, ist möglicherweise zu wenig frei. (Es gibt aber auch Aspekte, die dagegen sprechen.)

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    Lieber Detlef Gürtler, es geht mir nicht um eine Konkurrenz zwischen Christentum und Buddhismus. Wer au asiatischer Perspektive schreibt, mag den Buddhismus ins Zentrum rücken (und dürfte die Instrumentalisierung jener Religion durch die Politik bis in die heutige Zeit, man denke an Sri Lanka ebenso bedauern und für einen Verrat an dem Wesen des Buddhismus erachten wie ich die Instrumentalisierung der abrahamitischen Religionen).
    Lieber Roland Ziegler, Sie kämpfen einen einsamen Kampf gegen Windmühlen. Beispiele für laizistischen Totalitarismus habe ich gegeben. Der Tolerierung von Witwenverbrennungen oder weiblicher Genitalverstümmelung redet hier wohl niemand das Wort.

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    Man muss sehen, dass es Fälle gibt, bei denen es keinen Zweifel an einem staatlichen Verbot geben darf. Witwenverbrennungen wären ein Beispiel, weibliche Genitalbeschneidung ein anderes.

    Die Beschneidungsdebatte (die wir hier auf dem Blog in aller Ausführlichkeit hinter uns gebracht haben und m.E. nicht wieder aufwärmen sollten) war nur möglich, weil die Gesellschaft den Beschneidungsfall als Grenzfall interpretieren konnte (der Schaden des Kindes scheint minimal, die Liebe der Eltern i.d.R. zweifellos usw.). Es gibt aber Fälle jenseits jeder Grenze, und hier muss die Religion zurückstecken. Worum es nur geht, ist die Grenzziehung: Was ist „noch“ erlaubt, was „schon“ verboten?

    Wer meint, ALLES Religiöse ist bzw. gehört staatlicherseits erlaubt, der Staat habe religiöse Praktiken nie zu beurteilen, der macht nicht nur uns, sondern v.a. sich selber etwas vor und ist, nebenbei, ein Fundamentalist.

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    Nice try, dem Christentum die Privatisierung der Religion in die Schuhe zu schieben. Nicht nur, weil es seither lange Abschnitte und viele Länder gab, in denen das Christentum Staatsreligion war (cuius regio, eius religio) bzw. ist – z.B. in Argentinien (katholisch), Island (evangelisch) oder Griechenland (orthodox); sondern auch, weil die Trennung von Religion und Staat bereits ein halbes Jahrtausend zuvor bei den Buddhisten praktiziert wurde.

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    @Apo: Ihren Punkt habe ich nicht verstanden. Die Freiheit der Muslima in Frankreich mag nicht so ausgeprägt sein, wie sie das gerne hätte, sie ist aber doch, möglicherweise in etwas zu engen Grenzen (weiß ich nicht), vorhanden. Es gibt bei der Freiheit nicht „entweder oder“, sondern auch „ein bisschen“.
    In Pakistan sind es, soweit ich sehe, doch gerade die Gläubigen (Muslime), die die Freiheit der Andersdenkenden (Christen) blockieren? Und der pakistanische Staat macht mit den Gläubigen gemeinsame Sache?

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    Nein, lieber Roland Ziegler, ich übertreibe nicht, und Ihre Beiträge beweisen es. Es ist leicht, allgemein die Religionsfreiheit als Meinungsfreiheit zu verteidigen. Aber was ist mit der Freiheit eines Christenmenschen in Pakistan oder mit der Freiheit einer Muslima in Frankreich? Ihre Freiheit bedeutet mehr als die Freiheit, zu glauben, was sie wollen. Sondern den Glauben zu leben. Und das zuzugestehen fällt anderen Religionen – und dem totalitären Laizismus – schwer.

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    Der (unser liberaldemokratischer) Staat bietet übrigens vergleichweise die größte Freiheit. Er sagt im Prinzip, dass erlaubt ist, was nicht verboten ist, d.h. was nicht seinen Gesetzen nachweislich zuwiderläuft. Die Religionen ergänzen nun dieses Bündel an staatlichen Gesetzen mit weiteren Gesetzen. In aller Regel laufen beide Gesetzesmengen (staaltiche und kirchliche) ohne sich zu berühren parallel aneinander vorbei, durchkreuzen sich also nicht. Der Beschneidungsfall bildet eine seltene Ausnahme.

    Jedenfalls ist der Einzelne in seinem Freiheitsanspruch beim Staat noch am besten aufgehoben; in jeder Religion wird sein Spielraum bei weitem stärker eingeschränkt. Diese Einschränkung nennt man dann verblümt „Orientierung geben“.

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    … seit Christus wissen wir, dass nix, seit Paulus, dass niemand gottlos, O-Ton Paulus: ‚ἄθεος‘, ist.

    Auch Sie nicht werter APo. 😉

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    Ich glaube, Herr Posener, es geht noch tiefer: Das Problem trat auf, als die Menschen anfingen Pflichten aus der Religion abzuleiten, und damit die Religion als Ausdruck der schlicht menschlichen Freude sich den Horizont über die eigene Existenz hin zu erweitern, pervertierten.
    Es gibt unzählige Naturreligionen, die ohne Papier auskommen und in denen Gesetze immer reziprok zum Lebensraum hin formuliert werden und mit diesem „korrespondieren“.
    Um es zu übertragen: Das Judentum kennt Beschneidung und das Schächten als Tribut eines Lebens in Gefilden mit hohem Wüstenanteil. So erklärt sich die Entstehung von mos – ius et ergo fas, noch in der Freude, Mittel für ein besseres Leben in einem bestimmten Lebensraum göttliche Sitte haben werden zu lassen. Das nurmehr theoretische Derivat, das Christentum allen voran hat ein ganz andere Qualität. Es hat sich spätestens mit der Teilung des römischen Reiches in ein Laborprodukt verwandelt, zur fixen Idee. Jesus ist nicht Rabbi de iure dei, sondern consubstantialem patri.

    Und da beginnt das Problem: Ein liberaler Staat steht einer mehr oder minder psychologisch ungesunden Idee ohne Boden gegenüber. Noch der Islam kennt das was halal, koscher ist, und, oder was nicht. Dieser Bezug zum Lebensraum ist den Religionen, die unmittelbar auf Abraham referieren zu eigen, nicht so dem Christentum. Der Orient war weiland ein Ort von Islam und Wissenschaft gleichermaßen. Das Christentum hat diese Dichotomie nie realisiert, geschweige denn erworben und angenommen.

    Das Sonderproblem Christentum liegt wohl darin, daß diese Religion, die eigentlich keine ist, weil Religion von relinquere kommt und das eigentlich nachlassen, vererben bedeutet, wo im Christentum das jüdische Erbe gerade verneint wird, – die Anmaßung besitzt, in Jesus, dem christlichen Verständnis nach „Gott gepachtet zu haben“.

    Und mit so einem psychologischen Faktor muß man sich in der dogmatischen Kraft bei keiner anderen Religion auseinandersetzen. Das Judentum und den Islam kann ich in jedem Hirten des nahen Ostens nachvollziehen, aber den Christen ? Die usurpierten heidnischen Kalender kann ich in ihm wiedererkennen, aber in diesen Gebräuchen nicht das Lehrerbe, daß „den Heiland“ in die Synagoge brachte. Religion sind die heidnischen Tage, krank ist der nicht aus der Phyle erklärbare Überbau.

    Wenn ich die Geschichten des Pentateuch, der Bibel lese, ist dies eine archäologische Reise in einem durchaus spannenden Roman. Wenn ich einen gekreuzigten Jesus in der Kirche sehe ist es eine menschliche Kunstleistung. Den Anspruch, der Mensch sei Gott selbst halte ich für psychologisch hochgradig problematisch.

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    Hallo Herr Posener,

    danke für den interessanten Artikel! Welche Geschichten erzählen Sie als Atheist eigentlich Ihren Kindern? Wo geht Ihre Seele auf? Der Begriff Atheist ist doch erst einmal nur leer, eine Ablehnung dessen, was Sie nicht wollen. Aber was wollen Sie? Woraus besteht Ihr ICH?

    Religion ist aus meiner Sicht eine mehr oder weniger gelungene und tiefe Innensicht der Seele (die Frage nach meiner Herkunft und Zukunft, der ersten Ursache, des Sinns und Unsinns, des Ursprungs der Lebensenergie und der Ordnungssysteme…), die nach außen sich zu entfalten strebt und bei genügender Resonanz in einen Staat mündet, der das ganze mit einer mehr oder weniger haltbaren Außenhülle umgibt. Der liberale Staat besteht aus der Einsicht, der individuellen Innensicht Respekt zu zollen und zu fördern. So totalitär und festgefügt Staaten auch sein mögen, sie sind nur Ausfluss des Einzelnen und beginnen zu zerfallen, wenn die Gedankenkraft der einzelnen Elemente erlahmt. Beispiel aus einem Bündnis für Toleranz und Demokratie: Ich erntete auf meine Frage, ob die Teilnehmer für Demokratie begeistert sind, Kopfschütteln und müdes Lächeln. Das spricht für sich…

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    Der freieste Mensch ist der Diktator. Wenn man Diktatur nicht will, muss man der Freiheit des Einzelnen ihre Grenzen zeigen.

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    äh: „der meine Freiehti auslöst“ -> „den meine Freiheit auslöst“, muss es heißen (ist auch ohne Schlamperei kompliziert genug).

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    M.E. übertreiben Sie, wenn Sie sagen, dass die Freiheit der Religion die Grundlage jeder Freiheit darstellt. Genauer gesagt stellen Sie den Sachverhalt auf den Kopf: die Freiheit der Religion ist eine Freiheit unter anderen Freiheiten; der allgemeine Begriff „Freiheit“ – als Abwesenheit von Zwang (Freiheit „zu“ ist Unsinn) – ist die Grundlage
    jeder einzelnen, also auch der religiösen Freiheit.

    Abwesenheit von Zwang bedeutet aber auch Abwesenheit von Zwang beim jeweils Anderen – nicht nur bei mir. In dem Moment, in dem der Andere einem Zwang unterliegt, der meine freie Handlung auslöst, ist es vorbei mit seiner Freiheit. Nicht mit meiner, da sist klar: im Gegenteil; die wird maximal. Aber mit seiner, mit der Freiheit des anderen.

    Wenn ich also jemanden zwinge, etwas zu tun bzw. zu erleiden, mag meine Freiheit sich also prima entfalten, so dass ich das gut finde und dafür kämpfe, dass es so ist – die des anderen aber wird eingeschränkt. Und eben hier kommt der Staat ins Spiel, der eine solche Ausdehnung der einzelnen Freiheit über die Grenzen hinaus nicht dulden darf.

    Man muss die Grenze der eigenen Freiehit kennen, d.h. den Punkt, an dem der Handlungspielraum eingeschränkt werden muss, damit andere ihren Spielraum erhalten.

    Diese Grenze ist natürlich umstritten. Man kann sich nicht einmal darauf einigen, dass die körperliche Unversehrtheit (von der seelischen ganz zu schweigen) eine solche Grenze darstellt. Die körperliche mag gar nicht die bedeutenste sein, so wie Sie sagen, sind seelische Verletzungen meist schlimmer. Aber sie ist die einfachste, intuitivste und direkteste. Selbst die ist umstritten, wie wir an der Beschneidungsproblematik sehen. Es gibt also noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten.

  42. avatar

    Lieber Herr Posener,

    wenn der “ Staatkultus “ bereits durch McKinsey:

    https://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2002_03_07_3_kirchenreform.html

    http://www.smd.org/nc/akademik.....schaften/?.

    http://www.manager-magazin.de/.....68947.html

    erodiert und wie bereits geschrieben, die nachgelagerten kirchlichen Instutionen bereits von einem Caritas-Geschäftsklima Index sprechen:

    http://www.handelsblatt.com/po.....538-5.html

    Wie wollen Sie als “ altmodischer Atheist “ und als (neo-)Liberaler diesen Erosionsprozess aufhalten.

    Und was die leidige Angelegenheit mit dem Bischof von Limburg betrifft:

    Nicht nur die “ Bischof Pizza “ gehärt zum “ Ökonomisierungsprozess “ der Kirche, sondern letztlich auch die vielen Artikel in der Welt, die doch wieder einmal die Werbeeinnahmen durch die Klicks erhöht haben.

    Es gibt leider nur noch wenige Flecken auf unserer Welt, die nicht von der Ökonomisierungshype erfaßt sind.

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