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Aufklärung und Antisemitismus

Mein Freund und Kollege Hannes Stein hat vor einiger Zeit einen grandiosen Essay über den Antisemitismus einiger Aufklärer und einiger anderer sich als fortschrittlich empfindender Menschen – vom Fabier H.G. Wells über die Bolschewisten und Nationalsozialisten bis hin zum geistreichen und tapferen „Contrarian“ Christopher Hitchens – geschrieben:
Seine Beobachtungen sind leider richtig.
Hannes schreibt zum Schluss:
Solange die Aufklärer, Fortschrittsfreunde und Gottesleugner sich also weigern, ihre eigene judenfeindliche Tradition in Augenschein zu nehmen, solange sie dieses Erbe wie bewusstlos immer weiter tragen, stimmt mit ihnen etwas ganz Grundsätzliches nicht. Sie sind dann zumindest in dieser Hinsicht nicht besser als fundamentalistische Muslime oder die reaktionären Katholiken von der „Piusbruderschaft“.
 
Wer meine Postings hier aufmerksam verfolgt, wird bemerkt haben, dass zwei davon – „Religionskritik und Antijudaismus“ (24. Juli) und „Religionskritik und Menschenrechtsfundamentalismus“ (14. August)  nicht zuletzt Reaktionen auf diese Aufforderung sind, die ich als „Aufklärer, Fortschrittsfreund und Gottesleugner“ auch persönlich nehme.
 
Trotzdem habe ich das Gefühl, dass ich der eigentlichen Frage ausgewichen bin. Gibt es etwas der Aufklärung, der Fortschrittshoffnung und dem Atheismus Immanentes, das deren Vertreter für den Antisemitismus anfällig macht? Und die Antwort ist natürlich: Ja.
 
Da die Religionskritik in Europa und Amerika aus naheliegenden Gründen hauptsächlich Kritik am Christentum und am Islam ist, liegt es nahe, sozusagen radikal zu werden, an die Wurzel zu gehen also und die „Wurzel des Übels“ im Judentum zu suchen. Wobei – und dies ist der erste Fehler – nicht das Judentum gemeint ist, wie es sich spätestens nach der Zerstörung des Tempels – also gleichzeitig mit dem Christentum – herausgebildet hat, sondern das Judentum, wie es uns in einigen Büchern des „Alten“ Testaments entgegentritt, etwa im Deuteronomium. (Das Buch Hiob hingegen wird selten von Kritikern des Judentums zitiert, vielleicht weil es meines Erachtens die vernichtendste Kritik Gottes diesseits des Atheismus enthält. Ach, was sage ich: Atheisten können ja gar nicht Gott kritisieren, weil sie nicht an ihn glauben. Deshalb kritisieren sie allzu oft stattdessen jene, die an Gott glauben, womit wir schon beim Kollektivurteil sind und ein Problem haben.) So kann – zweitens – allerlei dummes Zeug und Vorurteile über die Juden als Rasse in die vermeintliche Religionskritik einfließen. Es ist ein dummes, aber leider unausrottbares Vorurteil, dass sich Antijudaismus und „Rassenantisemitismus“ voneinander trennen ließen. Hitler begründet seinen Antisemitismus immer wieder religiös, und im Antijudaismus der Christen und Muslime schwang immer die Abneigung gegen die Juden als Menschen mit. Man lese nur William Shakespeares großartig-grausiges Stück über den Kampf zwischen christlichen und jüdischen Kaufleuten in Venedig oder schlage den von der Spanischen Inquisition erfundenen Begriff von der „limpieza de sangre“ nach.
Muss aber Religionskritik notwendig zum Antisemitismus führen? Ich glaube nicht. Wenn Richard Dawkins zum Beispiel schreibt, dass der Gott es Alten Testaments „eine der unangenehmsten Gestalten der Weltliteratur“ sei, so mag man das für blasphemisch halten; man kann auch sagen, dass Dawkins ziemlich selektiv gelesen hat und vor allem nicht gemerkt hat, wie sehr die Juden im Verlauf des Alten Testaments Gott zähmen, zivilisieren und vermenschlichen, bis der Rabbi und Zeltmacher Saulus aus Tarsus auf den Gedanken kommt, Gott sei tatsächlich Mensch geworden und habe sich wie ein Opferlamm töten lassen. Man kann also Dawkins vorwerfen, dass er wenig von seinem Gegenstand versteht, aber nicht dass diese Bemerkung an sich antisemitisch wäre. Freilich ist Unkenntnis der Religion ein Haupteinfallstor für Gruppenvorurteile, weshalb ich mich mit Kritik am Judentum und am Islam zurückhalte. Halbwegs auskennen tue ich mich halt nur – trotz Lektüre des Koran, der Buber-Rosenzweig-Übersetzung der Tora und einiger Bücher über jüdische Geschichte – halt nur im Christentum.
Man mag im Rahmen der Religionskritik das Judentum dafür kritisieren, dass es den Gedanken des Monotheismus, des persönlichen Gottes, der Scheidung zwischen Gut und Böse erfunden habe und damit die schöne Skepsis der klassischen Antike mit ihrem nicht sehr transzendenten Götterpantheon durch religiöse Unduldsamkeit, das Sowohl-als-auch durch ein Entweder-oder abgelöst habe. Abgesehen aber davon, dass es mit der Skepsis und Duldsamkeit der Antike nicht sehr weit her war; abgesehen davon, dass die unangenehmeren Züge der christlichen Version des Monotheismus – zum Beispiel der Absolutheitsanspruch und die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Unwahrheit – eher von Platon als vom Judentum herkommen; abgesehen davon, dass, wenn nicht das Christentum, wahrscheinlich irgendein anderer Mysterienkult zur Staatsreligion geworden wäre, weil eben die alten staatstragenden Götter unglaubwürdig geworden waren – abgesehen von alledem ist es logisch unsinnig, die Juden für das Christentum verantwortlich zu machen. Ja, einige unter ihnen haben es erfunden; aber angenommen, ausgebaut, hochgepäppelt, verbreitet, zur Staatsdoktrin erhoben usw. haben es die Gojim. Genauso gut  könnte man das Christentum für den Islam verantwortlich machen. Ja, der Islam beginnt als eine christliche Reformbewegung, aber angenommen usw. usf. haben ihn halt jene, die Muslime wurden, ob sie davor Götzenanbeter, Christen oder Juden waren. Es ist schwer, Ideen zu kritisieren, ohne deren Träger zu kritisieren – so kann jemand antisemitische Ideen verbreiten, ohne selbst Antisemit zu sein –; aber der Mühe muss man sich unterziehen. Man mag die Vorstellung, Gott habe einen Sohn gehabt, für absurd halten, man tut gut daran, denjenigen, der daran glaubt, nicht deshalb für doof zu halten. Er kann doof sein. Ein Atheist aber auch. Als etwa Nikita Chruschtschow sagte, Juri Gagarin habe bei seinem Weltraumflug keinen Gott und keine Engel gesehen, so war das eine doofe Bemerkung.
Aber ich schweife ab. Wenn es also stimmt, dass Aufklärer, Fortschrittsfreunde und Atheisten aufpassen müssen, dass ihre Religionskritik Ideenkritik bleibt und nicht ihrerseits ideenlosen Antisemitismus, Islamhass oder Christophobie transportiert (interessanterweise akzeptiert die automatische Korrektur von Word das Wort „Christophobie“, aber nicht „Islamophobie“) – so gibt es zwischen Aufklärung und Christentum in dieser Beziehung einen Wesensunterschied. Denn der Antisemitismus ist dem Christentum eingeschrieben, vom Matthäus-Evangelium über die Ausfälle des Paulus gegen die Juden  bis hin zur Theologie der Kollektivschuld für den „Gottesmord“, die in der Polemik des Kirchenvaters Tertullian gegen Marcion formuliert, von Martin Luther mit der Aufforderung zur Judenvernichtung verbunden und noch heute von der Pius-Bruderschaft vertreten wird. Es ist ja diese religiöse Überhöhung des Juden zur Inkarnation des Antichrist, die erst die mörderischen Varianten des Antisemitismus ermöglicht. Adolf Hitler schreibt in „Mein Kampf“: „So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“  Hier kommt der zweitausendjährige Antijudaismus der Kirche zu sich, und es ist ein unfassbarer Skandal, dass ausgerechnet der deutsche Papst Benedikt XVI. bei seiner Reise nach Auschwitz kein Wort der Selbstkritik zu diesem christlichen Antijudaismus fand, sondern vielmehr die Schoah als Ergebnis der Abkehr vom Christentum hinstellte, obwohl 99,9 Prozent der am Holocaust Beteiligten als Christen getauft und erzogen worden waren, an erster Stelle der Katholik A.H. selbst.
Unter den Aufklärern selbst gab es üble Antisemiten. Aber die Aufklärung zu nennen, ohne die Freundschaft zwischen Lessing und Mendelsssohn zu nennen, geschweige denn Lessings Stücke „Die Juden“ und „Nathan der Weise“ – das ist denn doch etwas arg. Kants Aufforderung, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ist die entscheidende Waffe gegen das Vorurteil. Es schützt natürlich nicht gegen das Fehlurteil. Aufklärer sein schützte eben nicht vor Rassismus: Hume hielt nicht die Juden, wohl aber die „Neger“ für minderwertig, und glaubte, das auf Beobachtung stützen zu können. Gegen die Sklaverei war er trotzdem. Locke war zwar zunächst für die völlige Emanzipation der Juden, später aber für ihre Konversion zum Christentum und den Export dieser Judenchristen nach Palästina. In den USA,  jenem ureigenen Produkt der europäischen Aufklärung, hatten Juden selbstverständlich die gleichen Bürgerrechte wie andere Weiße, schwarze Sklaven jedoch galten nicht als vollwertige Menschen. Die Liste ließe sich fortsetzen. Doch was auch immer die französische Revolution etwa an Grausamkeiten und Massakern hervorgebracht haben mag, und die Liste ist lang: Pogrome gegen Juden waren nicht darunter. (Auch Voltaire übrigens sagte, die Juden seien zwar „Verrückte, aber dafür soll man sie nicht verbrennen.“)  Im Gegenteil: zu den ersten Handlungen der Revolution gehörte die völlige rechtliche Gleichstellung der Juden, und wo die Revolutionstruppen hinkamen, brachten sie diese zivilisatorische Eigenschaft mit sich, weshalb in der ganzen deutschen Romantik und weit darüber hinaus Franzosenhass und Judenhass Hand in Hand gehen.
Unterdrückung, Ghettoisierung, Enteignung, Beleidigung, Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der Juden, und zwar massenhaft, brutal und  völlig reinen Gewissens: das war bisher das Privileg der Christen. Und wenn man auch schwer unterscheiden kann und schon gar nicht mag zwischen den Schlächtern Stalin und Hitler, so war diese Unterscheidungsfähigkeit für Juden nach 1939 von existenzieller Bedeutung: Im Machtbereich der atheistischen Sowjets überlebten fast alle Juden; im Machtbereich der Leute, die „für das Werk des Herrn“ kämpften, überlebte fast kein Jude. Und ja, Stalin starb mitten in einer von ihm höchstpersönlich entfesselten antisemitischen Kampagne, als deren Ergebnis die Juden – wie vor ihnen die Tschetschenen, die Russlanddeutschen und andere „unzuverlässige“ Völker – deportiert werden sollten, und daran soll nichts beschönigt werden: Aber das fällt ja auch in die Zeit nach dem „Großen Vaterländischen Krieg“, als der Chauvinismus und Rassismus, die im ehedem zaristischen und christlichen Russland virulent waren und im heutigen putinesken und christlichen Russland immer noch virulent sind, als Mittel der Politik wieder entdeckt werden.
Es gehört heute zum rhetorischen Repertoire der Reaktion, mithilfe der – falsch verstandenen – „Dialektik der Aufklärung“ Adornos und des Taschenspielertricks der Leugnung der christlichen Wurzeln des Nationalsozialismus (über die Friedrich Heer längst das Notwendige gesagt hat), den Nationalsozialismus umzumünzen aus einer anti-aufklärerischen, reaktionären Bewegung in das eigentliche Endprodukt der Aufklärung. (Hannes Stein, das muss ich nicht extra betonen, hat mit der Konstruktion dieses Geschichtsmythos nichts zu tun.) Dagegen gilt es, ohne die Augen vor den Gefahren und Versuchungen der Aufklärung und eines dogmatischen und intoleranten „Aufklärungsfundamentalismus“ zu verschließen, ihre Würde und fortdauernde Aktualität zu verteidigen.
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107 Gedanken zu “Aufklärung und Antisemitismus;”

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    Natürlich terminiert die Aufklärung nicht zwangsläufig im Rassenantisemitismus und Nationalsozialismus. Dass A. Posener sich aber bemüßigt fühlt, den Nationalsozialismus zu einem quasi christlichen Projekt hinzubiegen, um die Aufklärung zu retten – weil gemäß seinem leidenschaftlichen Atheismus, dem alle Religionen als gleich aufklärungsfeindlich gelten, Aufklärung mit Religion nichts zu tun haben darf und sich immer nur in schroffer Opposition zu ihr definiert und also die Nazis als die konsequentesten Feinde der Aufklärung ihren antiaufklärerischen Impetus qua christlicher Prägung erhalten haben müssen -, zeugt schon von gewissen interessierten Missverständnissen.

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    Hier die skandalöse Exkulpierung von mohammedanischen Antisemitismus durch die grüne „Integrationsbeauftragte“. Schuld am Antisemitismus sind demnach die klassischen deutschen Antisemiten und die Juden selber. Absurder geht es nicht. Hier ein Rundbrief der freien Wähler Frankfurt.

    Antisemitismus ist böse, Judenhass verständlich – Ein skandalöser Bericht des Frankfurter Magistrats

    Vor einigen Monaten hat der Stadtverordnete Bernhard E. Ochs, ein sozialdemokratisches Urgestein aus dem Stadtteil Bornheim, zur allgemeinen Überraschung die SPD-Fraktion im Römer verlassen. Seitdem mischt Ochs fraktionslos im politischen Betrieb mit und stellt munter Anträge wie auch Anfragen. Eine dieser Anfragen, sie stammt von Ende Mai 2012, hat es besonders in sich: Denn diese wollte Ochs offenbar noch als SPD-Fraktionsmitglied stellen, erntete aber in den eigenen Reihen solch negative Reaktionen, dass er sich nicht zuletzt deshalb zum Verlassen der Fraktion entschloss.

    Ochs war Zeuge eines judenfeindlichen Vorfalls an der Mauer des alten jüdischen Friedhofs am Börneplatz. Dort wurde er nach eigener Darstellung von „Jugendlichen bzw. jungen Männern mit offensichtlich nordafrikanischen Migrationshintergrund“ angepöbelt. „Auf die Frage, ob sie nicht Respekt vor den Toten haben, lautete eine der harmloseren Antworten: ‚Vor den Sch…-Juden haben wir keinen Respekt‘.“ Dem Stadtverordneten zufolge bekannten sich die Jugendlichen „in einem lautstarken Wortwechsel voller Stolz als Muslime und nahmen eine aggressive Haltung ein“.

    Ochs fragt deshalb: „Liegen dem Magistrat, der Schulbehörde oder kommunalen/freien Jugendeinrichtungen Erkenntnisse über antisemitische Äußerungen bzw. Agitationen von Schülern und Jugendlichen, insbesondere mit Migrationshintergrund und muslimischer Religionszugehörigkeit, vor?“ Mit aufschlussreicher Verspätung, nämlich dem Datum vom 17. August 2012, hat der Frankfurter Magistrat, federführend durch das Dezernat für Integration der grünen Stadträtin Eskandari-Grünberg, diese Anfrage in dem Bericht B 365 beantwortet.

    Betrachten wir diese Antwort genauer: Der Magistrat verweist auf einen Bericht eines „unabhängigen Expertengremiums Antisemitismus“, der im Auftrag des Bundestages erstellt wurde. Dort wird von den „Experten und Expertinnen“ festgestellt, dass „das rechtsextremistische Lager … nach wie vor den bedeutendsten politischen Träger des Antisemitismus in Deutschland“ darstelle. „Mehr als 90 % aller erfassten antisemitischen Straftaten“ seien „politisch motiviert und dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen“.

    Hingegen: „Antisemitische Übergriffe, die von Menschen mit Migrationshintergrund ausgehen, sind unter Bezugnahme auf die Kriminalitätsstatistik vergleichsweise marginal.“ Wir lernen daraus: Rechtsextreme begehen antisemitische Straftaten; Menschen mit Migrationshintergrund, die schon deshalb nicht rechtsextrem sein können, begehen nur antisemitische Übergriffe, allerdings sowieso nur marginal.

    In Frankfurt, so schreibt der Magistrat, „liegen keine fundierten Daten für antisemitische Vorfälle in Frankfurter Schulen vor.“ Immerhin komme es „nach Aussagen von Praktikern aus dem Schul- und Freizeitbereich … vereinzelt zu antisemitischen Äußerungen bei Jugendlichen in Frankfurt“. Diese beträfen „sowohl rechtsradikale Jugendliche mit antisemitischen Vorurteilsstrukturen als auch Jugendliche aus muslimischen Familien.“ Warum es ausgerechnet in der Stadt mit einer der größten jüdischen Gemeinden und wachsendem Anteil von Muslimen keine „fundierten Daten für antisemitische Vorfälle“ gibt, sagt der Magistrat nicht, sieht er aber wohl auch nicht als dringende Aufgabe an.

    Stattdessen verweist er in dem Bericht auf die Lehrpläne in den Schulen, die Nationalsozialismus und Shoa behandelten. Treuherzig heißt es: „Antisemitische Äußerungen werden vom Lehrpersonal und pädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im schulischen und außerschulischen Bereich sehr ernst genommen und sowohl im Kontext der Shoa als auch in Verbindung mit den persönlich geprägten Haltungen junger Menschen aufgegriffen und bearbeitet.“

    Danach kommt in dem Bericht des Magistrats die aufschlussreichste Stelle, denn nun wird darüber nachgedacht, warum muslimische Jugendliche, denen zum Beispiel der Stadtverordnete Ochs auf so unschöne Weise begegnet ist, „antisemitische Einstellungen“ haben könnten. Wobei im gesamten Text kein Unterschied zwischen dem traditionellen Antisemitismus deutscher Prägung und dem Juden- und Israelhass muslimischer Herkunft unterschieden wird. Das wäre schon deshalb begrifflich dringend geboten, weil nicht wenige der muslimischen Juden- und Israelhasser selbst Semiten sind.

    Diese notwendige Differenzierung passt allerdings in keiner Weise in den einseitig auf deutschen Antisemitismus gerichteten Tunnelblick der Autoren des Magistratsberichtes. Doch wäre er nur einseitig! Er ist vielmehr äußerst verständnisvoll, wenn es darum geht, zu erklären, warum es zu solchen Vorfällen wie den oben geschilderten kommt. Um das zu veranschaulichen, muss die folgende Passage in dem Bericht vollständig zitiert werden (Hervorhebungen vom Verfasser dieses Artikels):

    „Das Phänomen der antisemitischen Einstellung muslimischer Jugendlicher kann nicht isoliert betrachtet werden. Es steht nicht nur im Kontext des Nahostkonflikts, sondern hängt auch zusammen mit

    – Mangelndem Wissen um historische Fakten (Nationalsozialismus, Shoa, Entstehungsgeschichte des Staates Israel)

    – Diskriminierungserfahrungen muslimischer Jugendlicher und dem Wunsch nach Anerkennung / dem Bedürfnis nach Provokation

    – Wachsende Islam- und Muslimfeindlichkeit in Deutschland

    Eine Bearbeitung von antisemitischen Einstellungen bei Muslimen muss die o.g. Punkte im Blick haben und aktiv angehen.“

    Fassen wir zusammen: Wenn der Stadtverordnete Ochs, der Bürger XYZ oder ein Frankfurter Jude demnächst mal wieder mit judenfeindlichen Pöbeleien oder gar Gewaltandrohungen jugendlicher Muslime konfrontiert ist, dann sollte er sich weniger darüber aufregen, dafür aber mehr Verständnis entwickeln. Denn diese Jugendlichen sehen Israel als Fremdkörper an in dem Kulturkreis, dem sie entstammen; sie wissen infolge mangelnder schulischer Aufklärung zu wenig über die Nazis, Judenvernichtung und Zionismus; sie werden in der deutschen Mehrheitsgesellschaft diskriminiert und wollen von dieser anerkannt werden, in dem sie Juden beleidigen und diskriminieren; sie sind selbst Opfer, nämlich der ausufernden deutschen Islamfeindlichkeit.

    Kurzum: Nicht so sehr die muslimischen Jugendlichen und/oder ihre Eltern sind verantwortlich für den Juden- und Israelhass neuer Prägung, sondern die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die zudem noch vom traditionellen Antisemitismus gezeichnet ist. Und der Hinweis auf den Nahost-Konflikt deutet auch eine gewisse Mitverantwortlichkeit der proisraelischen Juden an dem Verhalten der muslimischen Jugendlichen an. Der Magistrat entlastet in seinem Bericht folglich nicht nur diejenigen, die den Stadtverordneten angepöbelt und auch vor den ermordeten Juden keinerlei Respekt gezeigt haben – er legt auch zweierlei Maß an: der traditionelle (deutsche) Antisemitismus ist böse und muss unerbittlich verfolgt und bestraft werden, der neue „Antisemitismus“ (muslimischer Juden- und Israelhass) hingegen ist irgendwie verständlich, zumindest aber wegen der unterstellten Diskriminierungserfahrungen muslimischer Jugendlicher zu verstehen.

    Ein Magistrat, der einen solch skandalösen Bericht verabschiedet hat, ist weder ein Freund der Deutschen wie der jüdischen Deutschen in Frankfurt. Ein Magistrat, der diesen Bericht zu verantworten hat, öffnet dem muslimischen Juden- und Israelhass Tür und Tor. Schlimmer noch: Über den neuen „Antisemitismus“, der so verständnisvoll geduldet wird, kann sich ganz schnell auch wieder der traditionelle Antisemitismus regenerieren und stärken.

    Längst schon ist an Frankfurter Schulen und Jugendeinrichtungen „Du Jude!“ eine gängige Beschimpfung, die auch von nichtmuslimischen Jugendlichen gebraucht wird. Frankfurts schwarz-grün dominierter Magistrat weiß offiziell davon nichts, weil er es nicht wissen will. Denn er liebt die „Vielfalt“, aber nicht ihre hässlichsten Seiten. Ungeachtet dessen werden die Damen und Herren von CDU, Grünen und SPD auch weiterhin bei jeder Gelegenheit die Schrecken der Nazi-Terrorherrschaft warnend heraufbeschwören und vor Antisemitismus warnen. Doch vor den neuen Gefahren, dem neuen Judenhass schließen sie die Augen, weil diese Tatsachen nicht in ihr „politisch korrektes“ Weltbild passen. Der Magistratsbericht B 365 vom 17. August 2012 dokumentiert das.

    Wolfgang Hübner, 28. August 2012

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    @ Lyoner
    Konvertit. Erstaunlich. Konvertiten sind manchmal wie Miezekatzen, die zum Hundetum konvertieren. Um den anderen Hunden zu beweisen, dass sie wirklich Hunde sind, bellen sie öfter und lauter.
    Da, wo Sie sich verorten, kann man möglicherweise sporadisch auch Voltaire einordnen, allgemeine Religionskritik.
    Nur ist das heute so: Dieselben, die nicht kritisiert werden wollen, können heftig austreten, mal nach Christen, mal nach Muslimen, und, wenn es gerade passt, nach Aufklärern oder gar nach Atheisten wie Hitchens, die sie offenbar nur oberflächlich verehren.
    Wie Sie sagen: Das Bedürfnis nach einer neuen Religion zeichnet sich ab, einer mit einem 6M Jesus. Andere Gruppen versuchen deutlich, das zu kopieren und plustern ihre Opfer auf. Dies kann man Broder aber, den Sie im gleichen posting nennen, absolut nicht unterstellen. Wie das alles schon bei Jesus war: Der Meister und die Jünger sind zwei verschiedene Dinge. Der Meister bleibt die meiste Zeit auf dem Teppich. Wenn er z.B. erreicht, dass KJ aus einem Jugendsender verschwindet, ist das eine gute Tat. Man darf Jugendlichen nicht mit Konspirationstheorien den Kopf zumüllen. Broder macht Politik. Die gefällt Ihnen nicht so. Aber er macht sie gradlinig und schnörkellos. Und in der Beschneidungsdebatte war er zurückhaltend und verlinkt beide Standpunkte und die dazwischen. Er ist eine andere Klasse. An die kommt man nicht ‚ran mit Konversion, sondern eher, indem man möglichst authentisch ist. Daher ist ihm auch ein ehrlicher Antisemit lieber.

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    Ich weiß nicht, wie repräsentativ ein Hannes Stein unter den Juden ist, seine „Aufklärung der Aufklärung“ dürfte jedoch ziemlich gut die Einstellung der Zeitgenossen widerspiegeln, die ich mal, ich glaube, treffend die Einzigwahren Freunde Israels genannt habe; in Erwägung gezogen muss auch, dass Hannes Stein wie noch jeder Konvertit mehr als 100 Pro ist. Hier zeigt sich eine Tendenz, nach der alles und alle in der Weltgeschichte primär darauf abgeklopft werden müssen, wie sie sich zu den Juden geäußert haben; dies ist das vorrangige Beurteilungskriterium, hier werden die Guten ins Töpfchen, die Bösen ins Kröpfchen (oder umgekehrt) sortiert. Kritik an Juden (bzw. Jüdischem, Judaismus), aus dem Kontext gerissen, ist dann, folgen wir Hannes Stein und den Seinen, antisemitisch, mithin die Aufklärung grundsätzlich judenfeindlich. Der Zweck scheint mir eine Immunisierung gegen Kritik zu sein, die m.E. den Juden nicht gut tut. Wir landen dann bei der von Broder mehrfach vorgestellten Faustformel, das alle Vorurteilen, Phobien auf dieser Welt sich auf einen realen Kern beziehen außer dem Antisemitismus, der sich auf Phantasmen beziehe, die mit den Juden nicht das geringste zu tun hätten.

    Alan Posener, wie immer auf der Seite der Aufklärung und auf der „Seite der Engel“, scheint nun zu postulieren, dass es ein Immanentes in der Aufklärung gibt, die anfällig für Antisemitismus mache, und zwar eine Religionskritik, die eine falsche Vorstellung vom Judentum habe und sich nicht auf das „zivilisierte“ nachexilische Judentum beziehe. Wenn ich mich nicht täusche, scheint in dieser Perspektive das Judentum bereits „aufgeklärt“ zu sein, einer Aufklärung nicht mehr zu bedürfen, ganz im Gegensatz zum Christentum, hier hauptsächlich die Catholica, mit den Dämonen eines synkretistischen, magischen Denkens und einem ab principio eingeschriebenen „Antisemitismus“. Wenn ich mich nicht täusche, sieht Posner in seinem Kampf gegen die Catholica und den deutschen Papst die Lösung offenbar darin, „die Religion von diesen Elementen zu reinigen und zur ursprünglichen, einfachen und vermeintlich wahren und eindeutigen Botschaft zurückzukehren“, z.B. in der Transformation des Christentums in eine judaisierende Gemeinde, die sich um einen dissidenten Rebbe aus Nazareth versammelt, Nazarener, sowas ähnliches wie die Lubawitscher (wenn ich mich hier täusche, bitte ich das darzulegen). Damit wäre die Aufklärung, die Posener leisten will, an ihrem glücklichen Ende angelangt.

    Es ist nicht so, dass ich mich nicht zuweilen gefragt hätte, ob ich ein Antisemit wäre; wir wissen, das ist eine Sache der Definition, nach Broder & Co. bin ich das; was ich nicht abstreiten will, ist, dass ich entschiedener Antijudaist bin. Die Wurzel des Übels sehe ich nicht wie Posener im Christentum allein, sondern in der Ko-Evolution der jüdischen Sekten Christentum mit ihrem Antijudaismus und Judentum mit ihrem Antichristianismus, darin, dass ihr Antagonsimus nicht im Rahmen eines Regionalkonflikts im Gelobten bzw. Heiligen Land geblieben ist, sondern zu einem Weltkrieg wurde, wir Goyim mental kolonisiert wurden. Nach meiner Auffassung kommt man mit der Aufklärung dadurch weiter, dass man das Or HaOlam, das Licht der Welt, das angeblich aus dieser vorderasiatischen Provinz kommt, als eher trübe und verfinsternde Lichter aufklärt – und wenn man sich dort über sich selbst aufklärt.

    Interessant zu beobachten wird sein, wie sich ursprunglich religiöse Memkomplexe säkularisieren; man glaubt zwar nicht mehr an Gott, aber an seine Verheißungen (siehe auch in der Beschneidungsdebatte). Peter Sloterdijk notiert in seinem Denktagebuch (S. 30f):

    „Tony Judt gießt Öl ins Feuer, wenn er die israelische Politik seit 1967 als Ausdruck einer Adoleszenz-Neurose beschreibt: bewaffnet mit Bibel und Landkarte, schwärmt das Land von seiner uniqueness; niemand versteht es; stets geht es davon aus, dass alle gegen Israel sind; es ist leicht beleidigt, führt ständig Gegenbeleidigungen im Munde und glaubt fest daran, es könne ohne Sanktionen tun, was es will – denn da es unsterblich ist, steht es über Kritik und Gesetz.“

    Ist Tony Judt ein selbsthassender Jude, Sloterdijk ein verklemmter Antisemit?

    Alan Posener kann ich Sloterdijk als anregende Lektüre und Stolperstein sehr empfehlen. Ein Appetithappen: über den deutschen Papst schreibt er:

    „Wie Benedikt XVI. es mit der Moderne hält, geht aus seinen Zitaten hervor. Zwar wagt er noch nicht, sich offen auf de Maistre oder Berdjajew zu berufen, doch der Pfarrer von Ars ist offensichtlich ein Mann nach seinem Geschmack. Er zitiert ihn mit dem Satz: „Lasse eine Pfarrei 20 Jahre ohne Priester, und man wird dort die Bestie verehren.“ Soeben ließ er das balsamierte Herz des Pfarrers, der seinen Schäfchen die Kommunion verweigerte, wenn sie tanzen gingen, nach Rom bringen, um den Schatz an magischen Pfändern des Antimodernismus zu vergrößern.“ (S. 223)

    @ derblondehans

    „Und das ist keine Frage des Hochmutes, sondern der Erkenntnis. Oder wie 1 + 1= 2 sind.“
    Ihr Gott hat es Ihnen sehr leicht gemacht. Wären Sie noch so sattelfest, wenn Gott Sie statt mit einer einfachen Addition mit einer Binomial-Gleichung oder eine Infinitesimalrechnung geprüft hätte?

    @ KJN

    die Gänsefüßchen bei „anglikanischer Agnostiker“ habe ich deswegen gemacht, weil ich das für ein Zitat hielt. Ich habe das nochmals überprüft. In der Tat, Posener hat sich als „anglikanischen Atheisten“ vorgestellt. Sorry.

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    Obwohl die Zeit knapp ist, will ich kurz meine Gedanken aufschreiben, dies ist mit der Familie im Rücken doch schwieriger. Allerdings versuche ich regelmäßig mitzulesen. Was mir an Hannes Stein Artikel missfällt, ist der letzte Abschnitt. Vermutlich gibt es bei einigen Beschneidungsgegnern auch Antisemitismus, doch denke ich, nicht grundsätzlich. In einem älteren thread hatte ich geschrieben: Hier wurde Religionskritik mit der Justiz gemacht.

    @Lyoner: Bei einer früheren Diskussion hatte ich mich ja schon einmal, zugegeben kurz, zum Thema „Auserwähltes Volk“ geäußert. Irgendwann hatte ich darüber gelesen und wollte wissen, wie dies zu verstehen war, also habe ich im Internet recherchiert. Zunächst hatte ich mir Zitatensammlungen angesehen. Später las ich das Buch von Leo Prijs „Die jüdische Religion“, er sagt, dass die Auserwählung die Verpflichtung zum Einhalten der Sinaigesetze bedeutet. So habe ich einen Zeitzeugen reden lassen und nicht nur alte Bücher. Das Verfahren kenne ich also auch.

    Über Goethe und sein Verhältnis zu Juden las ich auch einiges, ebenfalls über Thomas und Heinrich Mann. Heute sehe ich vieles im Kontext mit der jeweiligen Zeit und den Lebensumständen. Ich finde es falsch, von Einzelbemerkungen auf den ganzen Menschen bzw. von einzelen Menschen auf eine ganze Gruppe zu schließen. Zur Aufklärung gehört auch über Antisemitismus und seine Folgen zu reden. Religionskritik muss für mich trotzdem möglich sein.

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    @ KJN
    Habe HSt – diese Aufwallung – überhaupt nicht verstanden. Ich meine, dieses Thema ist eins, das gerade in seinem neuen Land oft diskutiert wird, von Juden wie Nichtjuden. Und ausgerechnet in Kalifornien ist die Beschneidung sehr zurückgegangen. In den USA scheint mir eine solche Diskussion keine so große Affäre zu sein, zumal man ja ähnlich ist. Aber es kommt noch etwas hinzu: In den USA ist man zuerst Amerikaner, dann erst Jude, Christ oder Atheist.
    Und die von ihm so einseitig kritisierte Aufklärung, die ja vor allem auch Meinungsfreiheit bedeutet oder damit einhergeht, ist dort viel ausgeprägter vorhanden und toleriert. Man denke mal an die Dauerdemonstranten zu Bush‘ Zeiten vor dem Weißen Haus. Allerdings habe ich den Eindruck, dass sie unter Obama abnimmt.

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