Als ich im Sommersemester 1968 an der Universität Tübingen mit dem Studium der Germanistik begann, besuchte ich die Vorlesung des hochgerühmten Hölderlinspezialisten Friedrich Beißner. Da das Sommersemester von schweren Turbulenzen der Studentenbewegung geprägt war (Auslöser war das Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968), konnte es nicht ausbleiben, dass Aktivisten vom Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) in die Vorlesung stürmten, um über die Hintergründe des Attentats – die Hetze der Springer-Presse – zu diskutieren. Der Professor, damals schon hochbetagt, verlangte eine Abstimmung des vollbesetzten Auditoriums. Da die SDS-Studenten ahnten, dass sie keine Mehrheit bekommen würden (Tübingen war eben nicht Berlin), lehnten sie die Abstimmung ab, drängten den Professor vom Vorlesungspult und begannen ihre spontanen Reden. Als die Studenten „ab-stim-men! ab-stim-men!“ skandierten, führte ein „Genosse“ aus, eine Abstimmung sei „nur formaldemokratisch“, während sie eine „inhaltliche Demokratie“ verträten. Als Neuling im akademischen Betrieb und mit der linken Sprachregelung noch nicht vertraut war mir der Unterschied zwischen „Inhalt“ und „Form“ bei demokratischen Abstimmungen noch nicht geläufig. Weiterlesen
Andrej Holm
Versöhnung mit den Tätern?
Es gibt Zeitungsartikel, bei denen man schon nach der Lektüre weniger Zeilen das Gefühl hat, dass an der Argumentation des Autors etwas nicht stimmt. So ging es mir mit einem Artikel des SPIEGEL-Redakteurs Jochen-Martin Gutsch, der sich mit dem – wie er fand – unbarmherzigen Umgang der Öffentlichkeit mit dem ehemaligen Stasi-Offizier Andrej Holm auseinandersetzt. Die moralische Schieflage der Argumentation erkannte ich, als ich ein kleines sprachliches Experiment durchführte. Ich datierte den Artikel in das Jahr 1966 zurück (ich machte damals gerade das Abitur) und ersetzte die Begriffe DDR durch „Drittes Reich“, SED durch NSDAP und Stasi durch Gestapo. Der Text, der dadurch entsteht, ist schaurig. Hier eine Kostprobe:
„Das Erstaunliche aber ist, dass die alten Frontverläufe noch immer da sind.“
„Es gab in den vergangen fünf Wochen von allem zu wenig: zu wenig historische Kenntnis, zu wenig Bereitschaft zuzuhören, zu wenig Versöhnung.“
„Noch ist schwer zu sagen, wer den Staffelstab im Aufarbeitungsbusiness übernehmen könnte.“
„Und man kann nur beten, dass jetzt niemand ernsthaft die Frage stellt, ob man über die Gestapo lachen darf. Also, historisch und aufarbeitungspolitisch gesehen.“ Weiterlesen