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Der umsorgte Patient

Die SPD wird zur Zeit behandelt wie ein Kranker  kurz vor dem Exitus. Alle möglichen Rezepte zur Gesundung werden ihr angedient. Nicht alle kann man als hilfreich bezeichnen. Manche führten, würden sie praktiziert, zum endgültigen Kollaps des Patienten. Den meisten Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie der SPD raten, einen radikalen Linksschwenk zu vollziehen, also den (vermeintlich aussichtslosen) Kampf um die bürgerliche Mitte aufzugeben. Einen theoretisch ausgefeilten Artikel, der in einem solchen Ratschlag kulminiert,  hat Nils Heisterhagen in der F.A.Z. veröffentlicht (20. 11. 2017). Der Autor ist Grundsatzreferent der SPD in Rheinland-Pfalz. Die Essenz seines Vorschlags: „Es gilt, mehr Lafontaine zu wagen. Es ist Zeit für mehr Corbyn und mehr Sanders.“ Dann folgen die üblichen Forderungen des linken Flügels der SPD: Schluss mit der Schwarzen Null im Bundeshaushalt und mehr steuerliche Umverteilung. Was ist von solchen Vorschlägen zu halten?

Lohnend ist ein Blick auf die Kompetenzzuweisungen, die die Bürger vor der letzten Bundestagswahl  der SPD zugeschrieben haben (in Klammern die Zuweisung für die CDU/CSU). Bei der sozialen Gerechtigkeit liegt die SPD mit 29,9 Prozent vorne (24,3 Prozent). Bei der Wirtschaftskompetenz liegt sie hingegen  mit 14 Prozent  weit abgeschlagen  hinter der CDU/CSU (44,7%). Diese Zahlen zeigen, dass die Bürger  ein gutes Gespür dafür haben, dass eine funktionierende Wirtschaft die beste Gewähr dafür bietet, dass das Sozialsystem auf soliden Beinen steht. Eine noch radikalere Umverteilung durch Steuern oder neue  teure Leistungsgesetze im Sozialbereich  würden diese Balance, die das Erfolgsrezepts des aktuellen deutschen Wirtschaftswunders darstellt, beschädigen.

Dass die SPD bereit ist, sich dem vorgeschlagenen Krawall-Sozialismus anzuschließen (Andrea Nahles: “Ab morgen kriegen sie in die Fresse.“), zeigt ein Auftritt von Martin Schulz vor aufgebrachten Siemensarbeitern, die um ihre Arbeitsstellen in zwei von Schließung bedrohten Turbinenwerken fürchten müssen. Er nannte das Verhalten des Siemens-Vorstands „asozial“. Entweder versteht Schulz die ökonomischen Zusammenhänge des Strukturwandels im Energiebereich nicht oder er hat Spaß gefunden an der Rolle „mehr Lafontaine“ wagen. Es war die rot-grüne Bundesregierung unter Schröder / Fischer / Trittin, die mit dem „Erneuerbare-Energien-Gesetz“ den Strukturwandel  eingeläutet hat. Alle Bundesregierungen danach (die SPD war zweimal daran beteiligt) hielten am Vorrang der erneuerbaren Energien vor den fossilen Energieträgern fest. Das ist der Grund, weshalb Siemens und andere Produzenten von Turbinen zur Stromgewinnung in diesem Sektor keine Zukunft mehr sehen. Sollen sie Turbinen auf Halde produzieren? Auf der Homepage der famosen Umweltministerin Barbara Hendricks wird die Abschaltung der Kohlekraftwerke gefordert, was die Nachfrage nach Turbinen noch weiter reduzieren würde. Auch Zehntausende Arbeitsplätze von Kohlekumpel  wären bedroht.  Weiß Martin Schulz nicht, dass die Politik seiner SPD dazu beigetragen hat, die Turbinensparte von Siemens gegen die Wand zu fahren? Oder weiß in der SPD die eine Hand nicht mehr, was die andere tut?

Bei der Inneren Sicherheit kommt Heisterhagen immerhin zu einer richtigen Schlussfolgerung, wenn er betont, „die SPD sollte hier eine härtere Gangart fahren“, weil soziale und innere Sicherheit zusammengehörten. Dann folgt jedoch der übliche sozialdemokratische Reflex, das Problem mit mehr Geld zu lösen. Bei der Inneren Sicherheit ist der Kompetenzrückstand der SPD gewaltig: 13,9 Prozent gegenüber 45,2 Prozent bei der CDU/CSU. Natürlich ist mehr Personal bei der Polizei immer begrüßenswert. Es sei aber daran erinnert, dass die SPD sich in der letzten Großen Koalition stets dagegen gesträubt hat, die Sicherheitsgesetze der realen Bedrohungslage anzupassen. Stets führte sie die Grundrechte der Bürger  ins Feld, als gehe es in erster Linie darum, die Bürger vor einem bedrohlichen Staat zu schützen. Meinungsumfragen unter den Bürgern ergeben ein anderes Bild: Die Menschen wollen von einem starken Staat gegen die ansteigende Kriminalität geschützt werden. In Berlin weigert sich der SPD-geführte Senat, Video-Überwachung im öffentlichen Raum zuzulassen, obwohl 75 Prozent der Bevölkerung dies wünschen. Das Recht auf  „informationelle Selbstbestimmung“ potentieller Straftäter wiegt für die SPD-Funktionäre schwerer als der Schutz der Bürger.  Einer härteren Gangart bei der Inneren Sicherheit steht bei der SPD offensichtlich ein Haltungsproblem entgegen: Man misstraut noch immer dem Staat mehr als dass man ihn so wehrhaft ausstattet, dass er seine Bürger wirkungsvoll schützen kann.

Bei der Flüchtlingsfrage plädiert Heisterhagen für einen „realistischen“ Kurs, ohne zu konkretisieren, was das für die  reale Politik bedeutet. Ihm ist immerhin nicht verborgen geblieben, dass die SPD  bei den letzten Wahlen  bei den Arbeitnehmern viele Stimmen an die AfD verloren hat. Bei der Bundestagswahl haben sogar  15 Prozent aller Gewerkschaftsmitglieder (im Osten sogar 22 Prozent) für die AfD gestimmt. Wahlforscher sprechen deshalb schon von einem ins Kulturelle verschobenen Klassenkonflikt. Es ist verwunderlich, dass der SPD dieser Umstand  so lange verborgen geblieben ist. Dabei liegt es doch auf der Hand, dass Arbeitnehmer, vor allem die Ungelernten,  Flüchtlinge vor allem als Konkurrenten wahrnehmen: auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt, aber auch bei der sozialen Absicherung. Sie stellen sich die Frage, was man mit den 100 Milliarden Euro, die bisher in die Integration der Flüchtlinge geflossen ist, alles hätte bezahlen können. Die SPD hat immer versucht, solche Fragen unter der Decke  zu  halten, weil sie das ausländerfeindliche Potential in der Arbeiterschicht nicht freisetzen wollte. Deshalb lautete die stereotype Ansage der SPD im Wahlkampf: Keinem Arbeitnehmer wird wegen der Flüchtlinge etwas weggenommen, alles wird aus Steuermitteln bezahlt. Die Wähler durchschauten natürlich diese finanzielle Küchenlogik und wählten  „alternativ“.

Was wäre der richtige Ratschlag für die waidwunde SPD? Man muss sie daran erinnern, dass  sie ihre beste Zeit hatte, als sie wirtschaftliche Kompetenz mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden wusste. Das waren die Zeiten von Helmut Schmidt und Gerhard Schröder.  Deshalb darf sie ihren Platz als Volkspartei der linken Mitte nicht aufgeben und muss  allen Gelüsten, die linksradikale Sau herauszulassen, entschieden widerstehen. Das würde sie nur in einen Überbietungswettbewerb mit der Linken führen, den sie nicht gewinnen kann, weil die Linke als ewige Oppositionspartei für jede Art von Radikalität zu haben ist. Es führt kein Weg daran vorbei, dass die SPD die Kompetenzlücken auf den wichtigen Feldern Wirtschaft, Innere Sicherheit und Migration schließen muss. Das geht nur, wenn sie intelligentere und sozialere Problemlösungen anbietet als die politische Konkurrenz. Dazu gehört auch, dass sie ihre grünen Anwandlungen korrigiert, weil  diese sie immer wieder in Konflikt mit Arbeitnehmerinteressen führen muss.

Die SPD gilt seit ihrer Gründung als Partei des Fortschritts. In der Hymne, die die SPD-Mitglieder auf Parteitagen voller Inbrunst singen, gibt es die Zeile: „Mit uns zieht die neue Zeit“. In der praktischen Politik hat man eher den Eindruck, die SPD sehnte sich nach der alten Zeit. In der Sozialpolitik geht ihr Blick immer wehmütig zurück in die seligen Zeiten vor der Wiedervereinigung, als es noch keine flexiblen Arbeitszeiten und keine Hartz-IV-Reformen gab. Deshalb hadert die SPD auch ständig mit den Arbeitsmarktreformen, die Gerhard Schröder in staatlicher  Verantwortung durchgesetzt hat. Dieser Blick zurück hindert die SPD daran, die Komplexität moderner Beschäftigungsverhältnisse zu begreifen und Lösungen für prekäre Bedingungen anzubieten. Das neu entstandene Subproletariat der Paketboten, die für Hungerlöhne durch den Innenstadtverkehr kurven, findet in der SPD keinen Fürsprecher, weil sie immer noch den Facharbeiter in einem Normal-Arbeitsverhältnis im Blick hat.

Entscheidend für die Gesundung der SPD ist  natürlich, dass sie endlich einen Politiker an die Spitze stellt, der das Vertrauen der Wähler gewinnen kann. Nach dem Spieler Gabriel und dem Gefühlssozialisten Schulz kann das nur ein Stratege sein, der Weitblick mit Pragmatismus verbindet. Der Hamburger Bürgermeister Olaf Schulz hätte diesen Zuschnitt. Er ist einer der wenigen Spitzengenossen, die Wahlen gewinnen können, und zwar mit Ergebnissen, die weit über dem Bundesdurchschnitt seiner Partei liegen. Leider ist er nur bei den Wählern beliebt, nicht aber  bei den Funktionären der SPD, die hinter einem pragmatischen Politikansatz stets Verrat am Programm der Partei  wittern. Man muss befürchten, dass auch Scholz an diesem Dilemma scheitern wird. Die SPD hat noch jeden Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten kleingekriegt.

Für die endgültige Gesundung der SPD kann man keine seriöse Diagnose abgeben.

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2 Gedanken zu “Der umsorgte Patient;”

  1. avatar

    R.W.: ‚Die SPD wird zur Zeit behandelt wie ein Kranker kurz vor dem Exitus.‘

    … meinetwegen, geben wir den Genossen die letzte Ölung: Durch diese heilige Salbung und allein durch weise Barmherzigkeit, verzeiht dir, du SPD, mein Hamster was du gesündigst durch dein Geschwätz und deine Taten der Menschheit in 150 Jahren angetan hast. Auf nimmer wiedersehen!

  2. avatar

    Wozu bedarf es eigentlich noch einer SPD ?

    All das, was Heisterhagen für einen „neuen“ Kurs propagiert, wird von anderen Parteien schon angeboten:
    Die Linke kann glaubwürdiger Umverteilung und soziale Sicherheit.
    Die FDP und die CDU können besser Wirtschaft.
    Und die AfD hat die von der Wählerschaft gewünschten Antworten in den Bereichen Innere Sicherheit und Flüchtlinge.

    Wozu also noch SPD ?

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