Als Jugoslawien nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktatur implodierte und sich Serben, Kroaten, Albaner, Christen und Muslime an die Gurgel gingen, war die Lösung relativ schnell gefunden: Der künstliche Staat wurde in seine Bestandteile zerlegt, jedes Völkchen bekam seinen Mini-Staat. Lediglich Bosnien wurde als multi-ethnisches, multi-religiöses Feigenblatt beibehalten. Heute sind all diese ethnisch weitgehend homogenisierten Zwergstaaten halbwegs funktionierende Demokratien oder doch wenigstens keine failed states.
Slowenien und Kroatien sind bereits Mitglieder der Europäischen Union, die anderen werden früher oder später folgen. Lediglich das multiethnische Bosnien funktioniert bis heute nicht als Staat und wird faktisch vom Hohen Repräsentanten der EU als Protektorat regiert.
Dabei war Jugoslawien im Vergleich zu Syrien ein ganz gut funktionierendes föderales Gebilde. Syrien hingegen ist ein von den britischen und französischen Regierungen aus der Konkursmasse des Osmanischen Reichs zusammengeschustertes Gebilde, das nie als Nation – geschweige denn als Demokratie – funktioniert hat. Im Wesentlichen besteht es aus drei großen Bevölkerungsblöcken: den arabischen Sunniten; den – ebenfalls sunnitischen – Kurden; und den – ebenfalls arabischen – Alawiten.
Ob diese Gruppen anders als durch eine Diktatur zusammenzuhalten gewesen wären, ob eine aufgeklärt-laizistische Föderation jemals eine realistische Option gewesen wäre, ist nun eine hypothetische Frage. Die Baath-Partei und die Assads regierten dank der Unterstützung Moskaus Syrien mit eiserner Hand, so wie Saddam Hussein den Irak regierte. Nun implodiert das Land, so wie der Irak zu implodieren drohte, als die USA Saddam stürzten.
Die Tatsache, dass sich alle drei Bevölkerungsgruppen in Syrien hassen, obwohl es die beschriebenen ethnischen und religiösen Überschneidungen gibt, von Sprache und Kultur ganz zu schweigen, sollte niemanden verwundern, der sich an die Dynamik der Jugoslawien-Kriege erinnert. Es kann sein, dass der gegenwärtige Bürgerkrieg als Bürgerrechtsbewegung der unterdrückten sunnitischen Mehrheit begann und dass es – wenn Assad nicht vom Iran, von Russland und von China unterstützt worden wäre – in Syrien zu einer Entwicklung wie im Irak hätte kommen können, wo seit der gewaltsamen Pazifierung des Landes durch US-Truppen unter General David Petraeus arabische Schiiten und Sunniten und kurdische Sunniten in einer unruhigen und konfliktreichen, halbwegs demokratischen Föderation zusammen leben.
Doch ist auch im Irak das letzte Wort nicht gesprochen: Der Iran versucht, mit Hilfe der schiitischen Mehrheit den Irak faktisch in einen Satellitenstaat zu verwandeln; die Kurden haben den Traum eines eigenen Staates nicht aufgegeben, den sie bestimmt zu verwirklichen suchen würden, wenn der schiitisch-iranische Druck zu groß werden sollte; und bis heute versuchen radikale sunnitische Gruppen und Berufs-Dschihadisten aus aller Welt, einen Bürgerkrieg zu entfachen.
Und in Syrien ist der Zug für eine föderale Lösung längst abgefahren. Was als Protestbewegung begann und vor allem durch die Brutalität des Assad-Regimes zu einem blutigen Bürgerkrieg gemacht wurde, ist inzwischen zum Kampf um die Bildung eines arabisch-sunnitschen, eines kurdischen und eines alawitischen Staates ausgeartet. Man mag das bedauern, aber man sollte nicht versuchen, diese Entwicklung aufzuhalten. Das wäre nur möglich durch eine massive Intervention und Besatzung nach dem Modell des Irak. Das aber wäre weder durch die UN zu legitimieren, weil Russland und China einen entsprechenden Vorstoß im Sicherheitsrat mit ihrem Veto blockieren würden; noch hat die Administration Barack Obamas die Absicht, amerikanische Leben – und Milliarden Dollar – zu opfern, um Syrien zusammenzuhalten. Zynisch könnte man sagen: Syrien hat ja auch kein Öl. (Und Amerika produziert inzwischen so viel aus dem Fracking eigener Ölschiefervorkommen, dass es bald das Zeug exportieren kann und weder die Ölfelder des Irak noch jene des Iran braucht.)
Offensichtlich hat sich die US-Regierung insgeheim bereits mit der Teilung Syriens abgefunden. Auf einer Pressekonferenz am 18. Juli sagte Obamas Sprecher Jay Carney: „The fact is Bashar al-Assad will never again rule Syria in the way that he did before“. Sicher. Aber er könnte zum Beispiel einen alawitischen Teilstaat im Westen regieren, von Latakia im Norden bis Damaskus im Süden. Den Sunniten bliebe der mittlere Teil entlang dem Euphrat, von Aleppo bis zur irakischen Grenze. Und die Kurden regieren jetzt schon de facto den Nordosten entlang der türkischen Grenze.
Angeblich hat Assad bereits den israelischen Außenminister Avigdor Liebermann kontaktiert, um dessen Unterstützung für die Errichtung eines alawitischen Staates zu gewinnen; insbesondere will Assad Land auf den von Israel besetzten Golanhöhen bekommen, um die aus dem Rest des Landes vertriebenen Alawiten anzusiedeln.
Aber auch die Sunniten machen Israel Angebote. Würde Israel die „Unterstützung Assads einstellen“, so ein Vertreter der Rebellengruppe „Free Syrian Army“ im Interview mit der Web-Zeitung „Israel Hayom“ schon im März 2012, würde nicht nur Assad fallen und der jüdische Staat seinen Feinden Hisbollah und Iran einen Schlag versetzen: „Das syrische Volk würde das nie vergessen“ und Frieden mit Israel schließen.
Nun ja. Auf Dankbarkeit sollten Staaten ohnehin nicht setzen, der jüdische Staat schon gar nicht. Weder für den Rückzug aus dem Südlibanon noch für den Rückzug aus Gaza hat Israel je etwas anderes geerntet als Raketenangriffe von Hamas und Hisbollah. Und niemand kann den Israelis garantieren, dass Syrien nach Assad nicht von radikal-islamischen Gruppen beherrscht würde, die mit einer Frontstellung gegen Israel von ihren eigenen Problemen abzulenken versuchen könnten. Andererseits bliebe auch Assad, wenn er Herrscher eines Mini-Staats in Westsyrien würde, weiterhin – ja erst recht – vom Iran und von der Hisbollah abhängig.
Ein kurdischer Staat im Nordosten Syriens wiederum könnte versucht sein, sich als Kern eines künftigen Groß-Kurdistan zu verstehen und die Türkei und den Irak destabilisieren.
Und doch scheint die Teilung des Landes die einzige Möglichkeit zu sein, den Bürgerkrieg zu beenden, dem jetzt schon weit über 100.000 Menschen zum Opfer gefallen sind. Es ist kaum einzusehen, weshalb die Weltgemeinschaft die Teilung des Sudan begrüßt, mit dem der dortige Bürgerkrieg beendet wurde, aber Syrien unbedingt intakt halten will, obwohl ein Sieg der Sunniten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit einem Pogrom gegen die Alawiten (und die Christen) und möglicherweise mit einem Krieg gegen die kurdischen Autonomiegebiete einhergehen würde.
Die Zerstückelung von Ländern entlang ethnisch-religiöser Bruchlinien, einst das Mittel der Wahl zur Bereinigung solcher Konflikte – man denke an den „Bevölkerungstransfer“ zwischen der Türkei und Griechenland oder zwischen Indien und Pakistan, oder an die Vertreibung der Deutschen aus den künftig polnischen und tschechoslowakischen Gebieten nach 1945 – ist eine unangenehme Angelegenheit und widerspricht unseren heutigen multikulturellen Vorstellungen. Aber multiethnische und multikulturelle Gebilde funktionieren in der Regel nur im Rahmen liberaler Imperien, wie es die Imperien Großbritanniens, der Osmanen oder der Habsburger waren; oder wie es die EU heute ist, wo die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten in Nordirland, Flamen und Wallonen in Belgien, Deutschstämmigen und Italienern in Südtirol – und bald auch Serben und Albanern im Norden Kosovos – zunehmend irrelevant erscheinen. Im ganzen Nahen Osten gibt es nur eine bedeutende Minderheit, die nicht um Leib und Leben, Recht und Eigentum fürchten muss, und das sind die israelischen Araber, die zur Minderheit im israelischen Staat wurden, nachdem sie den Teilungsplan der UN ablehnten, der ihnen nicht nur die Westbank, sondern auch das heutige Galiläa gegeben hätte. Das ist ein Grund, weshalb mehr und mehr Bewohner des projektierten Staates Palästina sich fragen, ob nicht ein binationaler Staat Israel-Palästina für sie besser wäre. Freilich denken nur wenige Israelis, dass es ihnen in einem solchen Staat lange gut gehen würde. Und sie können auf das Schicksal aller Minderheiten in allen anderen Staaten der Region verweise, zuletzt der zehn Millionen Kopten in Ägypten.
Nein, der Trend im Nahen Osten geht, ob man das mag oder nicht, in Richtung Revidierung der von den Kolonialmächten 1918ff gezogenen Grenzen und der Etablierung von ethnisch-kulturell homogenen Nationalstaaten.
Mag sein, dass in einer ferneren Vergangenheit irgendein quasi-imperiales Gebilde – eine mit der EU assoziierte, von der Türkei geführte „Mittelmeerunion“ etwa – der Region einen ähnlichen Frieden bringt, wie ihn die EU dem Balkan gebracht hat. Aber das ist Zukunftsmusik. Und die gegenwärtigen Aufgaben beginnen mit der Teilung Syriens: immerhin ein Projekt, auf das sich angesichts des Patts im Bürgerkrieg alle interessierten Player – vom Iran über Russland und der Türkei bis hin zu den USA, Israel und der EU – einigen könnten. Je schneller dieser Vorschlag auf den Tisch kommt, desto besser. Mauern zwischen Menschen sind nicht schön. Aber, wie John F. Kennedy am 13. August 1961 sagte: „A wall is better than a war“.
@ Lyoner
Keine Chance. Ich bin uncool. Ich schau‘ mir den Streifen, den man offensichtlich gesehen haben sollte, nicht an. Außerdem bin ich altmodisch: Es gehört sich nicht, wenn Deutsche Israel kritisieren. Dass Sie das als Hobby haben, ist Ihr Ding.
Mein Beitrag zu bewussten Kaufentscheidungen: Ich tu mir die Doku nicht an. Geht auch. Danke für’s Suchen.