Stehen zwei kognitive Elemente zueinander im Widerspruch, eines drückt das Gegenteil des anderen aus, entsteht daraus Dissonanz. Dieser Zustand des Widerspruchs, der entstandenen Spannung verlangt nach einer Lösung, die allerdings nur erreicht werden kann, wenn man den Widerspruch zu Gunsten einer Seite auflöst. Das ist mit Schmerz verbunden, vor allem dann, wenn der Schmerz die Grundfesten der ideologischen DNA zu erschüttern vermag. Allerlei Linke in der Bundesrepublik der 70er und 80er Jahre waren in dieser Dissonanz gefangen und suchten nach Ersatzhandlungen, um die Dissonanz zu überwinden – so wie Linke und Grüne heute auch.
Als Regiestudent im zweiten Studienjahr an der HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg wählte das Rektorat mich aus, eine Delegation der Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), der Jugendorganisation der DKP in der Bundesrepublik, auf ihrer „Entdeckertour der realsozialistischen DDR“ zu begleiten. Mir wurde diese Ehre deshalb zuteil, weil ich der einzige Regiestudent war, der vor seinem Studium eine Handwerkerlehre abgeschlossen und einige Zeit als Flugzeugmechaniker gearbeitet hatte. Ich war sozusagen Arbeiterklasse, aber man meinte wohl im Zentralrat der FDJ, dass einer wie ich: Nicht-FDJ-Mitglied und Jude, ein gutes Aushängeschild dafür wäre, den Westlern zu zeigen, dass es sich bei der DDR um ein demokratisches, freies System handelte. Schließlich, ich war der lebende Beweis, durfte selbst jemand wie ich eine kreatives Studium absolvieren. Reklame für das System. Die Delegation bestand aus sechs Jugendlichen aus NRW.
Basis und Überbau
Wir besichtigten das KWO (Kabelwerk Oberspree), wo ich, ob meines immer noch beherrschten Slangs der Arbeiterklasse, keine Mühe hatte, mit den Arbeitern ins Gespräch zu kommen und die Unterhaltungen zwischen den Jugendlichen und den Arbeitern zu moderieren. Unser Weg führte uns auch in den Zentralrat, wo die Gruppe und ich bei Plätzchen und Kaffee, der wie verbranntes Fleisch schmeckte, eine Politschulung erhielten. Außerdem gingen wir im Palast der Republik bowlen und in die „Disko.“ Der einzige Pizza-Laden in Osterberlin, in den man eigentlich nie reinkam ohne monatelang vorher zu reservieren und wo die Pizza auf den Namen „Krusta“ hörte, das sowjetische Ehrenmal in Treptow und die KZ-Gedenkstätte in Oranienburg standen auf dem Programm. Ein kurzer Ausflug in einen Braunkohlen-Tagebau, das Bodemuseum, die „Karl-Marx-Buchhandlung“ in der Karl-Marx-Allee, wo die West-Genossen und Genossinnen ihren Zwangsumtausch in Bücher umsetzen konnten, und ein Besuch des „Berliner Ensembles“ waren, wie es später im Auswertungsgespräch hieß, „wirkliche Höhepunkte“ des Besuchs.
Nachdem sich der Stasiaufpasser am zweiten Tag gegen Abend abgeseilt hatte, lud ich die Gruppe in meine kleine Wohnung ein. Das war eigentlich streng verboten, aber es war mir egal. Ich vermutete damals schon, dass die Genossen des Sicherheitsorgans sicherlich einen oder eine aus der Gruppe unter Vertrag hatten, was sich später bestätigen sollte. Bei Bier, Erdnusslocken und Hansa-Kekse ging’s ans Eingemachte. Ja, alle waren irgendwie verstört, denn das Arbeiter- und Bauernparadies war so ganz und gar nicht das, was man sich vorgestellt hatte und entsprach so ganz und gar nicht dem Bild, das man in der SDAJ von der DDR vermittelte. Die Basis sei ja noch kleinbürgerlicher als in Westdeutschland, meinte jemand, und der Überbau sei ja ohne „jede Schärfe.“ Genau das war die Formulierung. Auf meine Frage, was man damit meine, antwortete Sina, den einzigen Namen, den ich mir gemerkt habe, sinngemäß, dass das ja hier gar kein richtiger Sozialismus sein würde: Kampf und Einheit der Widersprüche, dialektische Weltanschauungen hätte sie weder bei den Arbeitern im KWO noch im Theater erleben dürfen. Die kognitive Dissonanz der Gruppe brach sich mit zunehmendem Bierkonsum immer mehr Bahn. Das Erleben eines dysfonktionalen real-existierenden Sozialismus, der ja sozusagen die nächst höhere Stufe des gesellschaftlichen Fortschritts bedeuten sollte, der nächste Schritt ins Paradies, schaffte eine kognitive Dissonanz. Wir alle waren zu jung und zu unwissend, um nicht deprimiert zu sein. Dass die DDR einmal an der paranoiden, kognitiven Dissonanz der Gerontokratie des Politbüros – neben den ökonomischen Problemen – sich quasi im Nichts auflösen würde, konnte keiner von uns auch nur im Ansatz denken.
Rechts = Rechtsextrem
Wenn eine ranghohe SPD-Politikerin nach dem Anschlag von Solingen behauptet, man könne aus diesem Anschlag nichts für den Alltag in Deutschland lernen und diese Politikerin nach Aschaffenburg fordert, „nicht zu viel über Migration zu sprechen,“ wenn reflexhaft nach jeder dieser Ungeheurlichkeiten eine „Demo gegen Rechts“ folgt, dann muss jetzt wieder von kognitiver Dissonanz gesprochen werden. Heute allerdings wird mit ebendiesen Demos eine Ersatzhandlung, ein Ausweg zelebriert, den man getrost als „Moralkitsch“ bezeichnen kann.
Achmad Mansour findet dafür sehr deutliche Worte: „Wir haben in Deutschland seit der Zeit von Angela Merkel einen Politikstil, bei dem unangenehme Probleme einfach beiseite geschoben und Ersatzhandlungen gesucht werden. Diese sich permanent wiederholenden Floskeln glauben die Bürger einfach nicht mehr. Wir erlebten im vergangenen Jahr in Mannheim, Solingen und Bad Oeyenhausen schlimmste Verbrechen. Doch trotz all der schlimmen Ereignisse wird die kritische Auseinandersetzung mit der fehlgeschlagenen Migrationspolitik noch immer als rassistisch oder rechtsextrem gebrandmarkt.“
Dazu kommt, so möchte man ergänzen, dass auf diesen Demos mit einem unangemessenen Zynismus den Opfern der Terrortaten gegenüber agiert wird, wenn jetzt Bilder freudevoll lachender Politiker auf der letzten Demo am Brandenburger Tor durch das Internet stürmen. Die Rechtfertigung dafür wird auch moralisch verklärt. Der Vorsitzende der Grünen, Banaszak, verteidigte in einer bockigen Attitüde im Tagesspiegel diese Entgleisung: „Auf diesen Demonstrationen in Berlin, Köln und anderswo zeigt sich die freundliche, die aufrechte Seite dieses Landes, viele tausend Menschen haben sich dem Rechtsruck entgegengestellt. Die Demokratie verteidigt man nicht mit einem griesgrämigen Gesicht, sondern mit Zuversicht und gemeinsam.“ Ein „Laschet-Moment,“ wie man ihn eigentlich nicht mehr erleben wollte, einer Demokratie, eines Demokraten unwürdig. Trauer und Ernsthaftigkeit zu „Griesgrämigkeit“ umzudeuten, schlägt den Opfern über das Grab hinweg ins Gesicht. Die Signalwörter – „freundliche, aufrechte Seite des Landes“ / „Rechtsruck“ / „Zuversicht“ – könnten aus dem Script einer ideologischen Soap Opera entlehnt sein, nichts sagend, unecht, platt.
Umdeutung = Umwertung
Könnte es sein, dass sich jede Art von Linken (DIE LINKE, SPD, MLPD, Grüne) mit einer Korrektur der Migrationspolitik so schwer tun, weil der marxistische Kern ihrer Ideologie nach einer Opfergruppe verlangt, um eben diese Ideologie aufrecht zu erhalten? Die Ideologie eines antifreiheitlichen, homogenisierten Konstrukts mit vergesellschafteten Individuen, die in jedem totalitären System alles bestimmt?
Marx und Engels fokussierten sich auf das sogenannte „Lumpenproletariat,“ Lenin und Trotzki auf das „unterdrückte Proletariat im Kapitalismus“. Das war das Opfer der „Ausbeutung des Menschen durch den Menschen“ (Marx). Das Elend des doppelt freien Lohnarbeiters, aus dem sich die Arbeiterklasse als soziale Klasse entwickelt hatte, war die Rechtfertigung, Anlass und Grund der Ideologie des historischen und dialektischen Materialismus. Marx und Engels instrumentalisierten das Proletariat, so wie Linke und Grüne heute Migranten, Flüchtlinge und Muslime zur Selbstbestätigung instrumentalisieren, ohne Rücksicht auf Verluste. Kritik oder sachlicher Diskurs über Fehler und Versäumnisse werden tabuisiert. Jede Diskussion wird zu „Populismus“ umgedeutet und damit zu „rechts“ oder gar „rechtsextrem“ umgewertet. Im allerschlimmsten Fall ist man ein „Nazi,“ sobald man einen Diskurs anstößt oder Kritik übt, wobei die Grenzen fließend sind. Diese Umwertung stigmatisiert die demokratische Debattenkultur in Gänze und ist somit eigentlich schon demokratiefeindlich.
„Wer heutzutage in einer politischen Debatte den Begriff ‚Nazi‘ gegen wen auch immer ins Feld führt, ist aus ethischer Sicht ein Lump, aus historischer Sicht ein Verharmloser und intellektueller Sicht eine Null.“ (Michael Klonovsky, deutscher Journalist und Schriftsteller)
Aber wir werden die sozialen Probleme, die Probleme der inneren Sicherheit, die Probleme, die der zunehmende Einfluss des politischen Islam verursacht, die Dissonanz, nicht mit „Demos gegen Rechts“ lösen. Wir werden diese Probleme auch nicht damit lösen, dass Kritiker und überhaupt jeder gesunde Menschenverstand moralisch diskreditiert werden. Auch nicht mit einem Blockwartsystem von Meldestellen, nicht mit Faktencheckern und NGOs, nicht mit Ersatzhandlungen wie dem Selbstbestimmungsgesetz und der Brandmauer. Dies alles sind wie Placebos – wirkungslos, und sie nützen nur denen, die sie vertreiben, um ihre Deutungs- und Wertungsmacht und damit ihre politische Macht zu sichern.
Aber auch die AfD wird durch diese Placebos nicht geschwächt, wie man es sich erträumen mag, ganz im Gegenteil. Man treibt ihr nur noch mehr Menschen zu. Linke überlassen das Thema – Probleme der Migration – der AfD, wie man der AfD bereits die Themen „Heimat“ und „Identität“ überlassen hat. Anstatt sie positiv und progressiv zu besetzen, sind „Heimat“ und „Identität“ zu „rechten Kampfbegriffen“ erklärt worden. Die nächste vertane Chance. Sehr viele Menschen begreifen inzwischen, dass diese Demos, dieses Framing, das Ausweichen durch Diskreditierungen tatsächliche Ersatzhandlungen sind, um sich den Problemen nicht stellen zu müssen. Bis zum nächsten Attentat, bis zum nächsten ideologischen Reflex. Könnte die fragile Demokratie der Bundesrepublik an dieser Dissonanz nachhaltig Schaden nehmen?
Daniel Anderson: Berufsausbildung zum Flugzeugmechaniker. Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron), Schriftsteller und Musiker. Studium Vergleichende Religionswissenschaften in Bonn. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.
Mit 18 war ich Liedgitarrist in unserem FDJ-Singeklub an der Berufsschule
Und Sonntags fungierte derselbe als Kirchenband.
Gemeinsam mit unserem Bassgitaristen und „Bandleader“ war ich auch mal abdelegiert zu einem Treffen mit „jungen Genossen“ aus Nordrhein-Westfalen.
Die meisten waren aber gar keine Genossen, sondern junge, sicher linke Menschen, die eine extrem billige DKP-Reise in die DDR mitnahmen.
„Wie hälst Du es hier nur aus?“
Fragte mich einer der „Genossen“ in dieser Dresdner Betriebskantine nach dem dritten Bier.
Nein, ich hatte nicht gejammert als Antwort. Ich hatte die DDR schöngeredet. Das Land, aus dem ich 10 Monate später einfach nur noch rauswollte.
Dissonanzen ? Schizophrenie?
Nein, eher was mit Würde. Etwas, was den Menschen dazu treibt, stolz sein zu wollen auf das bedeutungslos Leben, das er lebt.
Vielen Dank für Ihren Kommentar, Bodo Walther. Alles Gute für Sie.