Der Wählerschaft scheinen die Perspektiven für eine Welt von morgen auszugehen. Stattdessen hat sich eine zunehmende Mehrzahl entschlossen, auf die glorreiche Vergangenheit zurückzugreifen. Das Morgen soll also dem Gestern, oder sogar dem Vorgestern entsprechen. Mit Stimmen für erzkonservative, rückschrittliche oder gar rechtslastig-populistische Parteien erhofft sich das Wahlvolk, das zurückzubekommen, was es schon irgendwann früher gab. Der Politik einer zukunftsorientierten Mitte fehlen die Angebote.
Internationaler Trend
2024 war ein globales Superwahljahr, in dem viele Wahlberechtigte in den Staaten der Welt ihre Stimme abgegeben haben. Viele Parteien erhielten bei diesen Wahlen überraschende oder nicht überraschende Quittungen für ihre politischen Angebote, die sie entweder in die politische Opposition brachten oder die ihnen einen Zustand großer parlamentarischer Kompromisse bescherten.
Was hat zu dieser Veränderung geführt. Die Begründungen scheinen in ihrer Einfachheit auf den ersten Blick durchaus plausibel:
»Eure Vorstellungen von der Zukunft gefallen uns nicht«
oder
»Was wir in der Vergangenheit hatten, wollen wir wieder zurückbekommen«
oder
»Make our nation great again, und zwar schnell. Ohne Fremde. Ohne Migranten. Nur wir!«
Mit diesen drei Kernsätzen sahen viele Wähler bei ihrer Stimmabgabe nur eine Zeitreise in die Vergangenheit als die einzige Chance. Auch das Jahr 2025, speziell mit der richtungsentscheidenden Wahl zum deutschen Bundestag, wird möglicherweise dem Trend der einfachen Antworten auf schwierige Fragen folgen.
Wenn sich die Prognosen bewahrheiten, werden nach dem 23. Februar 2025 neue Lotsen versuchen, das Schiff in schwerer See auf Kurs zu halten. Verbunden damit ist ein angekündigter Kurswechsel. Allerdings bleibt die See sehr unruhig. Und ein Rückwärtskurs ist nur ein vermeintlicher neuer Kurs, denn das verheißende Morgen mit aufgehender, strahlender Sonne könnte sich als ein dunkles Gestern entpuppen.
Vom Hass auf die Eliten
Die Wählerwanderungen haben die Kluften in der Gesellschaft verstärkt. Auf einer Seite steht die als gebildet geltende, urbane Klasse, die dazu neigt, allem Konservativem und vor allen Dingen den Nostalgiefetischisten mit Verachtung zu begegnen.
Auf den sozialen Medien und im politischen Kabarett lässt sich gut beobachten, wie sich diese Gruppe speziell über die rechtslastigen Wähler lustig macht. Gleichzeitig fühlen sie sich auch moralisch immer im Recht, da Zeitreisen in die Vergangenheit fast immer mit Fremdenhass und der Diskriminierung von Frauen oder bestimmter Queer-Gruppen einhergehen. Diese Klasse besteht unter anderem auf gendergerechte Sprache in Wort und Schrift oder (intellektuell scheinbar überlegen) auf ihre Deutungshoheit der Lösungen zu allen großen Krisen der Welt
Die politische Nostalgie nach den mehr oder weniger guten, alten Zeiten schafft Misstöne. Aber geben diese per se der zukunftsaffinen Bildungsschicht das Recht, sich über die „anderen“ zu stellen? Oder wird sie dadurch abgehalten, gegenüber den vergangenheitsaffinen Teilen der Gesellschaft genau das zu sein, was sie von diesen verlangt: offen und neugierig auf andere Meinungen?
Eine offene und neugierige Kernfrage würde nach dem »Warum« fragen, um so herauszufinden, weshalb vielen Menschen die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, abhandengekommen ist.
Sollten die Zukunftsaffinen nicht über denkbare Kompromisslinien nachdenken? Dabei müsste jegliche Betonung auf das alleinige Deutungsrecht bei Migration und Zuwanderung oder bei der Gleichberechtigung unerwähnt bleiben. Nur so könnte den nostalgiegetriebenen Wählern zumindest wieder eine Basis geboten werden, auf der Menschen nicht in ihren jeweiligen Gräben verharren, sondern wieder miteinander sprechen.
Veränderungen sind fordernd, aber möglich
Einer der Hauptreiber für die weitverbreitete Affinität zur Vergangenheit ist die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenz in einer Zeit großer Transformationen. Das absolute Credo der westlichen, von Demokratien geprägten Welt, langfristig Wohlstand für alle zu sichern, hat sich als Trugschluss erwiesen. Lediglich eine lange Phase niedrigster Zinsen und billige Energiekosten konnten öffentliche und private Haushalte mit Mühen durch die unsicheren Zeiten tragen.
Das änderte sich drastisch im Jahr 2022. Russland hatte durch den Angriffskrieg auf die Ukraine die bisherige Weltordnung ins Wanken gebracht. Schon in den Pandemiejahren 2020 und 2021 sowie durch den Druck aus China als neue Weltmacht mit Dominanzanspruch hatte die »alte Welt« große Schäden erlitten. Putin hat seit Februar 2022 die latente Bettlägerigkeit der westlichen Marktwirtschaft sichtbar gemacht, indem er die Infusion billiger Energie als Zuckerlösung aus den Venen der westlichen Wirtschaft gezogen hat. Dies hat zu einer rasant steigenden Inflation geführt. Die Zentralbanken mussten die Niedrigzinsmedikation absetzen. Die infusionslosen Menschen sahen komatöse Zustände auf sich zurollen. Die Vergangenheitsaffinität nahm ihren Lauf.
Das Paradoxon der gefühlten Armut
Steigende Energiepreise, hohe Inflation und ein hohes Zinsniveau haben tatsächlich dazu geführt, dass es für viele Menschen von Jahr zu Jahr schwieriger wurde, sich mit einem Durchschnittseinkommen adäquaten Wohnraum zu leisten oder ihre bisherige Lebensweise unverändert fortzusetzen. Allerding bedeutet »viele Menschen« nicht »alle Menschen« wie das deutsche Paradoxon zeigt: erstaunlicherweise nimmt die Geldmenge in unserem Land insgesamt nicht ab, sondern zu.
Das aktuelle Geldvermögen der Deutschen betrug nach einer Studie der DZ-Bank zum Ende des Jahres 2024 ca. 9,2 Billionen Euro. Es lag damit um 6% höher als Ende 2023. In 2025 wird es nur noch um 4% wachsen und dann bei 9,6 Billionen Euro liegen.
Da wir alle mit so vielen Nullen nichts anfangen können müssen wir den Wert umlegen. In Deutschland waren Ende 2023 46,1 Millionen Menschen angemeldet erwerbstätig. Somit würden auf jeden Erwerbstätigen genau 199.658€ als Vermögen entfallen. Es geht um Geldvermögen, also OHNE Grundbesitz. Auf jede Person bei 83 Millionen Menschen in unserem Land sind das immer noch 110.000€ pro Kopf. Nun darf jede und jeder selbst nachrechnen, wie ihr/sein persönliches Geldvermögen in Relation dazu steht.
Die öffentlichen Leistungen erodieren
Als zweiter Treiber für die große Sehnsucht nach der guten, alten Zeit gilt die allmähliche Erosion öffentlicher Leistungen. Unser Land mit seinen Vorteilen der sozialen Marktwirtschaft versprach bisher nicht nur Rahmenbedingungen für kontinuierlichen, individuellen wirtschaftlichen Aufstieg, sondern auch verlässliche Sozialstrukturen. Als Kernpfeiler dafür galten der Bildungs- und Betreuungsbereichen von Kindern, das gesamte Gesundheitswesen, sowie die Pflege nach dem Eintritt einer ambulanten oder stationären Pflegebedürftigkeit.
All drei Bereiche leiden unter schon lang andauernden, schmerzhaften finanziellen Engpässen. Der akute, staatliche Geldmangel, also fehlende Finanzmittel zur Bewahrung beziehungsweise zur Stärkung dieser Bereiche haben den Zorn auf das gesamte Staatssystem verstärkt. Diese Beispiele beinhalten nicht die Mängellage im investiven Bereich oder fehlendes Geld für innere und äußere Sicherheit.
Unserem Staat mit seiner parlamentarischen, föderalen Demokratie scheint die finanzielle Luft ausgegangen zu sein.
Also: zurück zur guten, alten Zeit, welche auch immer damit gemeint ist.
Von der verlorenen Übersicht
Neben den ökonomischen und sozialpolitischen Fakten geht es noch um eine dritte Ebene, die auf den ersten Blick trivial erscheint. Diese Ebene ist komplett immateriell und zentriert sich die komplett verlorene Übersichtlichkeit. Die vergangenen fünf Krisenjahre mit Corona, Klimafolgen, Krieg und Inflation, haben bei vielen Menschen die Last des Zumutbaren entweder drastisch erhöht – oder sogar schon gesprengt. Wir sind in einem »mentalen Overload«. Unser Gehirn kann zum einen die unzählige Flut an digitalen Informationen insgesamt nicht mehr aufnehmen, geschweige denn den Umgang mit von globalen oder nationalen Krisensituationen.
Von Lösungsansätzen
Die Vergangenheitsaffinen predigen, dass nur eine Rückkehr zu national geprägter Vergangenheit mit Zugeständnissen an autokratische Despoten wie Vladimir Putin wieder für Ruhe sorgen könne. Sie wollen getreu ihrem eigenen Glauben die Zeit und die Gegebenheiten in Deutschland zurückdrehen.
Diese sehr eindimensionale, naive, Mischung aus erzkonservativen, rückschrittliche oder gar rechtslastig-populistische Theorien findet offensichtlich verstärkt Zuspruch.
Wie aber sieht das Gegenmodell der Zukunftsaffinen aus? Wichtig sind vor allen Dingen spürbar erkennbare Empathiemuster für die Sorgen und Nöten der Menschen, seien sie nun real oder nur „gefühlt“. Dafür muss die bei den gesellschaftlichen Transformationen betonte Devise »friss oder stirb« aufgegeben werden. Stattdessen muss die Skizze eines gemeinsamen Weges entstehen, die auch die Vergangenheitsaffinen nachvollziehen- und in ihr Wertesystem einordnen können. Der Fokus soll auf der gesamten Gesellschaft liegen.
Es geht um »UNS ALLE« und nicht nur um »WIR VON DER …… (Parteien nach Belieben einsetzen) KENNEN DIE ANTWORTEN. UND ZWAR NUR WIR«.
Von Objektivität mit anderen Positionen
Es wird nichts helfen, die Vergangenheitsaffinen verbal permanent zu diskreditieren. Es wird auch nichts helfen, rechtspopulistische Aussagen zu kopieren, um sein Mandat zu sichern.
Genau jetzt ist für die zukunftsaffine Parteien die Zeit gekommen, die genannten Treiber für die zunehmende politische Nostalgie in den Blick zu nehmen, also die Fragezeichen bei der individuellen Existenzsicherung, der Verlässlichkeit öffentlicher Leistungen und bei der Hilfe zur Schaffung von Übersichtlichkeit in Zeiten großer Veränderungen.
Wenn wir das nicht schaffen, droht die Prägung von auf Positivität und die Zukunft ausgerichtete Parteien durch künftige Wahlergebnisse auf eine Größe heruntergestutzt zu werden, mit der sie bei der Bewältigung dieser Aufgaben nicht einmal mehr mitreden kann.
Geben wir die Hoffnung auf die Zukunft nicht auf. Die Vergangenheit kennen wir. Sie auf die Zukunft zu übertragen ist unmöglich. Rückschritte sind keine Fortschritte.
Ralf Roschlau, Lauffen, 2. Januar 2024
Ralf Roschlau beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Fragen und möglichen Antworten zum Klimawandel. Der zweifache Buchautor schreibt regelmäßige Beiträge zu Klima und Nachhaltigkeit für www.daswetter.com und die Stuttgarter Straßenzeitung Trott-War. Er ist Gastdozent an der Uni Konstanz und Referent bei der VHS Unterland und freien bzw. kommunalen Institutionen. Seine internationalen journalistischen Verbindungen bestehen unter anderem zum deutschen Netzwerk Klimajournalismus, zu Carbon Brief sowie zu Covering Climate Now.
Vielen Dank für diesen Text.
Die Fragen, die unbeantwortet bleiben und deren Antwort eine gesellschaftliche Diskussion bedingen: Was oder Wer bestimmt, Was oder Wer Zukunft ist? Meiner Meinung nach greifen die Kategorisierungen „zukunftsaffin“ oder „vergangenheitsaffin“ zu kurz. Der Graben, da haben Sie meine volle Zustimmung, ist tief und wird galoppierend tiefer, wenn nicht neue Diskussionsansätze gestaltet werden.
Alles Gute für Sie im neuen Jahr.
Danke für Ihren Kommentar. Die guten Wünsche für 2025 gebe ich gerne zurück. Ich verstehe, dass zwei Kategorisierungen der gesamten Thematik nicht gerecht werden. Mir ging es bei dem Artikel tatsächlich nur um den nostalgischen Aspekt, der mir in Gesprächen derzeit sehr oft begegnet. Die Fragen, die Sie stellen, sind einen weiteren Blogbeitrag wert, damit wir uns von verschiedenen Enden dem Gesamtkomplex nähern. Herzliche Grüße Ihr Ralf Roschlau