Zum 60. Bühnenjubiläum der Rolling Stones ist ein ganz schönes Tribute-Album erschienen, „Stoned Cold Country“. Wie der Titel andeutet, sind die Interpreten sämtlich Country-Musiker. Mir fiel auf, wie originalgetreu sie die Stücke gecovert haben, die – außer „Honky Tonk Women“ und „Dead Flowers“, zwei Stücke übrigens, die auch ich mit meiner Band singe – nicht zum eigentlichen Country-Repertoire der Stones gehören. Das ist durchaus ansehnlich, man denke etwa an „High And Dry“, „Dear Doctor“, „Prodigal Son“ und überhaupt viele Stücke des Albums „Beggars Banquet“, an „Sweet Virginia“ und „All Down The Line“, an ihr Cover von Waylon Jennings‘ „Bob Wills Is Still The King“, und natürlich an dieses wunderschöne Stück: „Far Away Eyes“.
Jedoch haben fast alle Songs der Stones ein Country-Gefühl. Es hat viel mit den Melodien zu tun; man merkt, dass Keith Richards, bei aller Liebe zum Blues, mit den Everly Brothers und Buddy Holly musikalisch großgeworden ist, und wer mir nicht glaubt, soll sich Richards‘ Versionen von „Love Hurts“ (mit Norah Jones) oder „Crying, Waiting, Hoping“ anhören. Oder hören, was er und Jagger aus Robert Johnsons „Love In Vain“ machen. In Bill Wymans Autobiographie kann man lesen, dass die frühen Stones ein Angebot bekamen, als Country-Band eine Tournee durch amerikanische Kasernen und Luftwaffenstützpunkte in Europa zu machen; das wäre wahrscheinlich so geworden wie der Auftritt der Blues Brothers in der Western-Kneipe; aber bei aller zur Schau getragenen Verachtung für die Country-Musik lieben selbst die Blues Brothers „Rawhide“, „Ghost Riders In The Sky“ und „Stand By Your Man“. Zu Recht.
Übrigens haben auch die Beatles eine große Affinität zur Countrymusik, wie insbesondere das Album „Beatles For Sale“ belegt, wo Lieder wie „I’ll Cry Instead“ und „I’m A Loser“ musikalisch und textlich eigentlich Countrysongs sind. Auf „Help“ haben die Beatles dann „Act Naturally“ von Buck Owens gecovert, was viele als den eigentlichen Beginn der gegenseitigen Befruchtung von Rock und Country ansehen, die Leute wie Gram Parsons – nicht zufällig ein Kumpel von Keith Richards –, Waylon Jennings und Emmylou Harris auf der Country-Seite, die Byrds, Neil Young und Bob Dylan – man denke an sein Album „Nashville Skyline“ – auf der Rock-Seite weitergetrieben haben. Buck Owens gilt als Erfinder des „Bakersfield Sound“, einer gitarrenlastigen, rockigen Form der Countrymusik; zur Vollendung gebracht wird sie von Dwight Yoakum.
Bakersfield jedenfalls ist nicht zufällig der Ort, an dem der unwahrscheinliche Held dieser Country-Parodie eines Sonntagmorgens unterwegs ist, um ein Mädchen zu treffen, mit dem er eigentlich schon am Abend zuvor an einem Truck Stop verabredet war. Ihm ist etwas dazwischengekommen, vermutlich ein paar Flaschen Bier und Bourbon mit den Kumpels, und sie hat es mit den Truckern nicht leicht gehabt. Etwas übernächtigt und ziemlich mitgenommen sieht sie aus, aber sie ist noch da, sitzt geduldig oder resigniert oder angefixt in einer Ecke: das Mädchen mit den abwesenden Augen. Vielleicht ein Junkie. Vielleicht nur eine Träumerin. Und er? Ein Redneck, wie er im Buche steht, naiv-gläubig, und auf seine Weise echt verliebt; er schickt zehn Dollar an die Rundfunkstation der Kirche zum Heiligen Blutenden Herzen Jesu in Los Angeles und bekommt dafür ein Gebet für sich und das Mädchen. Und wenn sie nicht an Alkohol oder Heroin gestorben sind, treiben sie sich immer noch in Bakersfield herum: „She’s a good-hearted woman in love with a good-timin‘ man“, sang Waylon Jennings (singe ich auch gern mit der Band oder zu zweit mit Peter Gentsch), „through teardrops and laughter they’ll walk through this life hand in hand“, und vielleicht hat Waylon die beiden gemeint.
„Far Away Eyes“ ist natürlich eine Parodie. Das geht eigentlich nicht anders, wenn eingeborene Engländer wie die Stones einen Country-Song machen. Natürlich ist jeder Rock-Song und erst recht jeder Blues, den eine Gruppe weißer Jungs aus Europa singt, so etwas wie eine Parodie: Man bekommt weder, um beim oberflächlichsten anzufangen, den Akzent hin, noch können die Nachfahren von Sklavenhändlern glaubhaft so tun, als empfänden sie dasselbe wie die Nachfahren von Sklaven. Den Song „Brown Sugar“, der die sexuelle Ausbeutung von Schwarzen durch weiße Sklavenhändler und -halter thematisiert und in gewisser Weise feiert, haben die Stones zu Recht aus ihrem Konzertrepertoire gestrichen. Die kulturelle Appropriation ist ein weites Feld, und auch „Obla-Di, Obla-Da“, eine Ska-Parodie der Beatles, wäre heute vermutlich nicht mehr akzeptabel.
Country-Parodien sind da was Anderes, da Weiße andere Weiße liebevoll auf die Schippe nehmen. Da gibt es von den Beatles die Ballade des Showdowns zwischen Rocky Racoon und dem leider besseren Schützen Dan in einem heruntergekommenen Hotel in Dakota; und von den Stones das hintersinnigere „Dear Doctor“, bei dem es um eine Shotgun Wedding geht, eine erzwungene Hochzeit, die im letzten Augenblick von der Braut abgeblasen wird. Die Beatles – McCartney – distanziert-erzählend in der dritten Person, Jagger mit-leidend in der ersten. Wie in diesem Song, der in den im Sprechgesang mit übertriebenem Südstaaten-Akzent vorgetragenen Versen Parodie, in den Refrains mit ihren wunderbaren Harmonien schlicht Feier der Schönheit der Countrymusik ist.
Die Parodie kann aber leicht überheblich wirken. Ja, Überheblichkeit ist überhaupt eine Gefahr, wenn Mittelschicht-Kinder versuchen, mit der Stimme von Angehörigen der Unterschicht zu reden, selbst wenn das in der besten Absicht geschieht. So sind mir etwa Bruce Springsteens Arbeiter, die den Zuhörer mit „Mister“ anreden und von dem schwierigen Leben im „Rust Belt“, in den sterbenden Industriestädten Pennsylvanias und New Jerseys erzählen, oft peinlich. Man sieht förmlich die Hand an der Mütze, an der Stirnlocke. In Springsteens unheimlich-schönen Song „The River“ (den singt bei uns in der Band Scheune sehr schön) sagt der Ich-Erzähler etwa: „I got a job working construction /For the Jonestown Company / But lately there ain’t been much work / On account of the economy.“ Dabei zieht sich immer in mir etwas zusammen. Der Mittelklasse-Zuhörer lächelt überlegen über diese hilflose Erklärung – „on account of the economy“; da verwendet ein Opfer der Verhältnisse ein Fremdwort, um seine Lage zu beschreiben, als ob das irgendetwas ihm oder uns klar machen würde. Ich denke, die Arbeiter in Jonestown wissen ziemlich genau, wohin die Jobs gehen und warum.
Unser Asphalt-Cowboy jedoch, der mit einem Kater und dennoch entspannt durch die sonntäglich leeren Straßen von Bakersfield rast – zwanzigmal fährt er bei Rot über die Kreuzung, um den Herrn zu ehren – parodiert sich selbst. Steht wie die Figur in einem Brecht’schen Stück zugleich verfremdet neben sich. Das rettet den Song. „I was so pleased to be informed of this“ (dass man den Herrn immer auf seiner Seite hat); „I was kind of late“ (Stunden nämlich); „You know what kind of eyes she got“ (zwing mich nicht, die Zeile noch mal zu sagen, wir wissen beide, dass es jetzt auf den Refrain zugeht, und darauf freust du dich doch auch, hey, wir sind in einem Country-Song).
Übrigens übertreibt er nicht, wenn der den „farbigen“ Prediger mit den Worten zitiert, dass man mit einem Gebet alle seine Träume erfüllt bekommen kann. Ich weiß noch, wie wir bei unserer ersten Amerikareise – das erste selbstverdiente Geld als Referendar habe ich dafür ausgegeben – irgendwo zwischen Nashville und Memphis – natürlich ging es nach New York an die Wiege der Countrymusik und des Blues – in einem Diner bei Pancakes mit Sirup und Kaffee einen afroamerikanischen Prediger im Fernsehen sahen, der uns über die Macht des Gebets informierte: „Man sagt euch, dass ihr beim Gebet um Weisheit oder um Mitgefühl beten sollt, um Frieden für alle und ein Ende der Armut. Könnt ihr machen. Das ist sogar gut. Aber ich sage euch: Wenn’s ein Cadillac ist, was dein Herz begehrt, dann bitte den Herrn um einen Cadillac. Und wenn dein Glaube stark genug ist, dann wird eines Tages ein Cadillac vor deiner Tür stehen. Aber, damit ihr keine Enttäuschung erlebt: Vergiss nicht, dem Herrn zu sagen, welche Farbe dein Auto haben soll.“
Amen.
I was driving home early Sunday morning through Bakersfield
Listening to gospel music on the colored radio station
And the preacher said, you know you always have the Lord by your side
And I was so pleased to be informed of this that I ran
Twenty red lights in his honor
Thank you Jesus, thank you Lord
I had an arrangement to meet a girl, and I was kind of late
And I thought by the time I got there she’d be off
She’d be off with the nearest truck driver she could find
Much to my surprise, there she was sittin‘ in the corner
A little bleary, worse for wear and tear
Was a girl with far away eyes
So if you’re down on your luck
And you can’t harmonize
Find a girl with far away eyes
And if you’re downright disgusted
And life ain’t worth a dime
Get a girl with far away eyes
Well the preacher kept right on saying that all I had to do was send
Ten dollars to the Church of the Sacred Bleeding Heart Of Jesus
Located somewhere in Los Angeles, California
And next week they’d say my prayer on the radio
And all my dreams would come true
So I did, and the next week, I got a prayer for a girl
Well, you know what kind of eyes she got.
So if you’re down on your luck
I know you all sympathize
Find a girl with far away eyes
And if you’re downright disgusted
And life ain’t worth a dime
Get a girl with far away eyes
So if you’re down on your luck
I know you all sympathize
Get a girl with far away eyes
APo, ‚… natürlich ging es nach New York an die Wiege der Countrymusik und des Blues.‘
… also, New York als Wiege der Countrymusik und des Blues – geht gar nicht. Ich meine Blues ist eine eigenständige Form schwarzer US-amerikanischer Folklore. Entstanden in den Südstaaten der USA. Schreibt sogar Wiki. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Sie das nicht wüssten.
Tja, und die ‚Weißen‘ in den US und sonst wo sind auch nicht doof (von wegen ‚parodieren‘). Die Country-Musik ist aus traditionellen Elementen der Volksmusik der europäischen Zuwanderer-Völker im Südwesten der US hervor gegangen. Schönes Beispiel, u.a., die Cajun-Musik im Film The Big Easy 1986.
Da steht, dass wir „irgendwo zwischen Nashville und Memphis“ waren, denn es ging „NACH New York“ (wo wir ankamen) „an die Wiege der Countrymusik und des Blues“, nämlich nach Nashville und Memphis. Immer schön sinnentnehmend lesen, Hans. Und: niemand sagt, dass die Weißen doof wären. Die Ostfriesen sind auch nicht doof und werden trotzdem parodiert. Hier geht es aber um das Parodieren eines Musikstils. Immer schön sinnentnehmend lesen, dann regen Sie sich nicht so unnötig auf.
… wollte ja nur die ‚Schläfer‘ wecken. 😉