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Etwas ist faul

Das Feuer im Londoner Wohnblock Grenfell Tower kostete 72 Menschen das Leben. Der Turm, in dem viele arme Menschen lebten, ist im Besitz des Bezirks Kensington und Chelsea, der es unterließ, die längst als feuergefährlich erkannte Außenverkleidung des Wohnblocks zu ersetzen. Als die Feuerwehr eintraf, gab sie in Unkenntnis dieser Gefahr den Bewohnern der oberen Stockwerke den falschen Rat, in ihren Wohnungen zu bleiben, wo viele Opfer der Flammen wurden.

Eine vermeidbare Tragödie, die den Klassencharakter der britischen Gesellschaft ebenso offenbart wie den Schlendrian in der öffentlichen Verwaltung. In Deutschland sind Fassaden aus brennbarem Material seit Jahrzehnten verboten. (So viel übrigens einerseits zu linken Forderungen nach mehr staatlichem Wohnungsbau und andererseits zu rechten Klagen über zu viele Verbote.) 

Doch für den führenden Konservativen Jacob Rees-Mogg sind die Opfer schuld. Es widerspreche dem gesunden Menschenverstand, in der Wohnung zu bleiben, auch wenn die Feuerwehr entsprechende Anweisungen gebe, sagte er im Radio. Als es wegen dieser Herablassung einen Aufschrei gab, eilte der Abgeordnete Anthony Bridgen ihm zur Hilfe: Rees-Mogg sei halt im Gegensatz zu den autoritätshörigen Bewohnern von Grenfell Tower selbst eine „Autoritätsfigur“ und „sehr clever“; genau solche Menschen sollten das Land führen.

Szenenwechsel. Steve Hedley, stellvertretender Chef der Eisenbahngewerkschaft und enger Vertrauter des Labour-Führers Jeremy Corbyn, beschimpft bei einer Palästina-Solidaritätsveranstaltung den jüdischen Verteidiger Israels Richard Millett als „Nazi“. Als ihn Millett nach der Tirade fragt, ob er sich jetzt besser fühle, antwortet Hedley: „Du gehörst ja zum auserwählten Volk, also empfindest du dich ohnehin als etwas Besseres, oder?“ Millett wurde übrigens vor einigen Jahren auch von Corbyn beleidigt, der ihm unterstellte, als „Zionist“ habe er „kein Verständnis für die englische Ironie“.

Alle Beteiligten (außer Corbyn) haben sich inzwischen mehr oder weniger deutlich entschuldigt. Aber ihre Ausrutscher und Ausbrüche offenbaren die durch das „Cool Britannia“-Image nur mühsam kaschierte dreckige Unterseite der britischen Mentalität: Klassendünkel und Antisemitismus sind nie verschwunden, und die Brexit-Krise spült sie zusammen mit Rassismus, Insularität, Neid und Missgunst  wieder nach oben. Etwas ist faul im Staate Großbritannien, und es stinkt gewaltig.

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105 Gedanken zu “Etwas ist faul;”

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    https://en.wikipedia.org/wiki/Wicker_man

    A wicker man was a large wicker statue reportedly used by the ancient Druids (priests of Celtic paganism) for sacrifice by burning it in effigy.

    The main evidence for this practice is one sentence in Julius Caesar’s Commentary on the Gallic war,[1] which modern scholarship has linked to an earlier writer, Poseidonius.[2]

    Modern archaeological research has not yielded much evidence of human sacrifice among the Celts, and the ancient Greco-Roman sources are now regarded somewhat skeptically, especially considering the likelihood that Greeks and Romans „were eager to transmit any bizarre and negative information“ about the Celts at a time when the latter were feared and disdained.[3][4]

    Caesar writes that though the Druids generally used those found guilty of crimes deserving death, as they pleased the gods more, they sometimes used slaves and thralls when no delinquents could be found.

    >>>> HUMAN SACRIFICE OF PEASANTS IN ANCIENT TIMES BY ELITE <<<<<

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        Hallo Herr Posener,
        Unsere beiden Favoriten sind Opfer ihres mangelhaften taktischen Geschicks geworden und eines antiquierten, nationalistische Parteien bevorzugenden, Wahlsystems.

        Ich weiß nicht, ob ich das schon in der Nacht geschrieben habe, die Mehrheit der Briten hat Parteien gewählt, die die Entscheidung über Brexit mit Deal oder Remain den Menschen noch einmal zur Abstimmung vorlegen wollte, das man sich da nicht vor der Wahl einig geworden ist, müssen sich alle Verlierer vorhalten lassen.

        Boris Johnson hat die Wahl gewonnen, es aber nicht geschafft, die Mehrheit der Briten hinter seinen Brexit-Kurs zu versammeln. Selbst wenn man die Stimmen von DUP und Brexit-Party und wenn man großzügig ist auch noch von Sinn Feinn hinzu rechnet, bleibt er unter 50 Prozent.

        Ich glaube auch nicht, dass das Programm den Leuten zu links war. Wer jetzt wieder nach New Labour ruft, hat entweder keine Ahnung oder er betreibt das Geschäft der Gegenseite.

        Wenn man das Verhältnis der gewonnenen Sitze pro gewonnener Wählerstimme anschaut, begünstigt das System in extremster Weise nationalistische Parteien. Würde man das Stimmen-Abgeordneten-Verhältnis von Sinn Feinn auf die Anzahl der Stimmen anwenden, die ihre LibDems errungen haben, säßen diese jetzt mit 216 Abgeordneten im House of Commons. Würde man das Verhältnis, mit dem die LibDems leben müssen, auf die Anzahl der Stimmen von Boris Johnson anwenden, käme er auf „satte“ 41 Parlamentssitze. Das Ergebnis von Jo Swinson ist im Vergleich zu dem von Nigel Garage (den Schreibfehler produziert meine RSP immer) blendend und das von Corbyn, wenn man die Umstände bedenkt im Vergleich zu Gordon Brown und Es Miiliband gar nicht so schlecht.

        Und natürlich bekomme ich sofort von meinen „Wahrheitsmedium“ WDR die harten Fakten mitgeteilt:

        Jeremy Corbyn habe so wenig Stimmen bei einer Unterhauswahl bekommen wie Labour seit den 30er Jahren nicht mehr.

        Fakten oder Fake?

        Wahrheit oder Lüge?

        Lüge oder Dummheit?

        Ich mag den Ausdruck Lügenpresse nicht, weil er nur einen Teil des Problems beschreibt. Es mag sein, dass der eine Kollege oder andere die andere Kollegin bewusst lügt, der überwiegende Teil der Kollege n, die solchen Unsinn verzapfen, sind eher nützliche Idioten, um es Mal auf den Punkt zu bringen, die wahrscheinlich Journalist geworden sind, weil sie in Mathe mit Wohlwollen eine 5 bekommen haben und Journalist sein irgendwie schick finden.

        Bin gespannt, wie es weiter geht!

        Ihr 68er

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    Michael Dowden hat inzwischen selbst gesagt, dass er die Vorgehensweise der Feuerwehr im Brandfall Grenfell Tower falsch eingeschaetzt hat (dazu gab es einen Artikel im GUARDIAN, glaube ich). Was viele Leser in Deutschland nur schwer glauben werden, ist der allgemeine Bauzustand der einfachen Quartiere in UK. Es mag Bruchbuden in Deutschland geben, aber flaechendeckende Verwahrlosung in diesem Ausmass habe ich vorher nur in der Bogside von Derry oder in Calcutta gesehen.
    Der Grenfell Tower steht an der Districtgrenze zu Notting Hill. In Sichtweite kosten Haeuser etwa so viel Geld wie Staaten der Dritten Welt im Jahr fuer Bildung ausgeben und keine zwei Meilen weiter gibt es eine Tiefgarage, in der haben die Wachleute Waffen, weil man ab der -2 Ebene zwischen alten Autos aus den 20er und 30er Jahren steht. Elend und Luxus liegen nur Gehminuten auseinander.
    Ja, dieser Zustand begruendet sich auf dem Denken einer Klassengesellschaft, und ja, daran wird Labour, auch wenn Jeremy in Deutschland als die senile Version von Sarah Wagenknecht gehandelt und verehrt wird, nichts aendern, nichts aendern wollen, da sich die Armen, Mutlosen und die Geknechteten in seiner Welt noch nicht genug gegen das System aufgelehnt haben. Der tickt so, weil die ihn nicht waehlen wollen. Wozu auch, New Labour ist Blair+Brown und nicht Hardie+Henderson. Es gibt keine politische Vertretung der Armen in UK, und wenn, scheitert diese Partei am Wahlsystem (first-past-the-post).

  3. avatar

    Neben den von 68er angeführten Punkten für Corbyn, möchte ich noch einen ergänzen. Die angebliche 32Stunden Woche ist konkretisiert worden. Dabei geht es nicht um buchstäbliche 32 Stunden Wochen für alle Angestellten, sondern es wird der durchschnitt der Werktätigen genommen und es werden Effizienzsteigerungen durch Automatisierung mit hinzugerechnet und das soll alles im Laufe der nächsten 10 Jahre geschehen. Also klassisches politisch/populistisches Blabla, im Umkehrschluss aber eben auch keine revolutionären Experimente.
    Ein revolutionäres Experiment befindet sich zurzeit auf der Rechten. Angefangen von den imaginären Handelsverträgen, der nun schon eingestanden Nichtbeachtung von Verträgen mit der EU (die berühmte Tonbandaufnahme in Nordirland), dem Singapur an der Themse und der fabulierten Entfesselung von Kräften durch weitere Deregulierung. Es ist ein revolutionärer Akt, im besten Fall die zweite Stufe der Thatcher-Revolution, aber eher die Zeit der Jakobiner und Auswüchse. Und der einzige, der dies verhindern kann, ist ein PM Corbyn. Wer nicht ein Bolsonaro-UK haben will, wenn UK dann noch united sein sollte, wird Corbyn wählen müssen. Ach ja, Corbyn hat tatsächlich die bessere Schottland-Strategie als die Torys, die ehrlich gesagt, nicht mal eine unionistische Strategie haben. Sie haben die Union für die Revolution aufgegeben.

    1. avatar

      Klingt zunächst überzeugend, Stevanovic, aber nur zunächst: Corbyn ist ein erklärter Feind des Westens, ein Mann, der noch jeden Diktator umarmte, wenn er nur gegen Washington war; der die schon durch Trump einerseits, die Deutschen und Türken andererseits beschädigte Nato am liebsten abschaffen würde zusammen mit der britischen Atombombe; ein Israelhasser, der gegen Antisemiten in der eigenen Partei nichts unternehmen will oder kann; ein Feind der EU, der neben Boris Johnson die Hauptschuld am verlorenen Referendum von 2016 trägt.
      Mag sein, dass ihm die kleinen Leute mehr am Herzen liegen als Johnson, obwohl ich das kaum glaube, er entstammt der gleichen Riege von Public School Boys, aber die Ergebnisse seiner Politik werden für die armen Leute noch fataler sein als es die von Ihnen an die Wand gemalte „zweite Revolution“, die nicht stattfinden wird, egal was sich ein Rees-Mogg erhofft. Johnson ist ein „One Nation Conservative“, seine Impulse sind paternalistisch und populistisch. Sein Programm wird vermutlich genau so teuer wie Labours Wolkenkuckucksheim-Pläne, aber das Problem ist ja nicht, dass „Johnson den staatlichen Gesundheitsdienst privatisieren und an die Amerikaner verkaufen“ will, wie Corbyn behauptet, sondern dass er an diesem sozialistischen Monster festhält und ihm wie schon Blair und Brown Milliarden in den unersättlichen Rachen kippen will.

      1. avatar

        Da haben Sie ja durchaus in vielen Punkten recht. Meine Abwägung ist eher, wie viel Schaden Corbyn relativ zu Johnson anrichten kann. Zum Beispiel in Sachen Israel ist das Gewicht UKs (bei aller Liebe) weder groß noch entscheidend. Ob eine Regierung Corbyn nun Israel kritisiert oder nicht, kann Israel zum Glück egal sein. Nichts hängt dort von UK ab, weder positiv noch negativ. Außer Hyperventilation wird in der Außenpolitik nicht viel stattfinden, da Corbyn-Labour ja betont isolationistisch ist. Appelle und Denkschriften, Ermahnungen. Weltpolitik wird nicht von UK gemacht, weil es das allein gar nicht kann. Im Ergebnis wird der brilliant second eine Legislaturperiode aussetzen. Davon fällt nirgends ein relevanter Sack Reis um. Ob Corbyn den Westen nun hasst oder nicht, spielt auch keine Rolle – die EU, auf die er angewiesen ist und auch setzt, ist der Westen. Mit Nicaragua fair-trade Kaffee lässt sich kein Staat machen. Und was strukturelle Reformen des NHS angeht, ja nun, außer dem Verkauf des NHS, den die US schon deutlich angesprochen haben, steht kein Konzept im Raum. Im schlimmsten Fall versenkt UK Geld bei ein paar Verstaatlichungen, am Ende könnte es aber das Breitband geben, das der private Sektor nun schon seit Jahren nicht hinbekommt.
        Wir reden von der Wahl des kleineren Übels, ich akzeptiere de Kritik, mir einiges schön zu reden.

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        Zunächst einmal gibt es Jo Swinson, lieber Stevanovic. Wäre ich in meiner Heimat wahlberechtigt, ich würde sie wählen.
        Aber was das kleinere Übel betrifft: Sie unterschätzen Großbritanniens Gewicht in der Weltpolitik. Es hat Atomwaffen, einen Sitz im Weltsicherheitsrat, das Commonwealth, den besten diplomatischen Dienst der Welt, den zweit-oder drittbesten Spionagedienst, ist Mitglied im „Five Eyes“-Bündnis, der deutlichsten Manifestation der Anglosphäre, besitzt mit BAE Systems den drittgrößten Rüstungskonzern der Welt u.v.a.m.
        All diese Dinge sind durch Corbyn gefährdet oder kompromittiert, das wird durch ein bisschen Breitband in der Provinz nicht wettgemacht. Johnson hat nun auch angekündigt, die Steuern für Niedrigverdiener zu senken und für Firmen auf relativ hohem Niveau zu halten, ganz im sinne des „One Nation Conservatism“. Das ist sicher sinnvoller als Verstaatlichungen und Ressentimentpolitik.
        Wenn Swinson nicht den EU-Austritt blockieren kann, dann ist Johnsons Deal mit der EU, obwohl schlechter als der von Corbyn anvisierte, immer noch annehmbar; die EU hat ihn ja auch angenommen. Dann ist Johnson, und ich hasse es, das zu sagen, das kleinere Übel.
        Sie merken: Von Israel habe ich die ganze Zeit nicht geredet.

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        Von Israel habe ich selbst gesprochen, weil die Corbynistas ein grundlegend gestörtes Verhältnis zu Israel haben. Wer, wie ich (wenn auch als nicht wahlberechtigtes Gedankenspiel), einen Corbyn unter den gegebenen Umständen für wählbar hält, sollte ein paar Gedankenexperimente durchführen. Um die Rüstungsindustrie, den Geheimdienst und den Sicherheitsrat mache ich mir weniger Gedanken, das haben andere Weltmächte schon im Griff (und damit meine ich nicht nur die USA). UKs Gewicht ist ungleich größer als das Rumäniens, aber eben nicht die Champions Leage. In keinem Feld, der Spielraum für Experimente ist begrenzt. Die USA werden auch Trump verdauen… Sollten aber im Nahen Osten Befreiungsbewegungen von UK solidarisch unterstützt werden, kann das für ein kleines Land wie Israel ein game changer sein. Deswegen kann Corbyn natürlich zu einer Bedrohung für Israel werden, nur sehe ich eben keine Anzeichen, dass es so kommt. Und ob Corbyn solidarisch schmollt, ist nicht wichtig.

      4. avatar

        Jo Swinson wird nicht Premierministerin. The winner takes it all und die Auswahl steht fest.

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      Ich habe mir gerade die erste Hälfte der ITV Debatte zwischen Corbyn und Johnson angeschaut. Und mein Eindruck ist, dass beide relativ riskant spielen. Corbyn versucht, sich in der Brexit-Frage nicht festzulegen. Wohl um niemanden in seiner gespaltenen Wählerschaft zu vergraulen. Und Johnson hat ein massives Glaubwürdigkeitsproblem. Wie oft er vom Publikum ausgelacht würde, sollte seinen Beratern zu Denken geben. Auf der Sachebene ist Corbyn eindeutig fitter. Johnson muss aufpassen, dass sein Parotting, dass er ja schon von T. May übernommen hat, von wegen „Let’s get Brexit done!“, den Leuten irgendwann zum Halse heraus hängt.

      Meine Hoffnung ist, dass die Leute ein Gespür dafür haben, wer von den Beiden wirklich das meint, was er sagt und später auch zu seinen Versprechen steht. Wenn Labour es schafft, Corbyn als den Verlässlicheren zu präsentieren, kann sich das Meinungsbild ganz schnell ändern.

      Die Leute sind nämlich gar nicht so dumm, wie viele meinen. Bei aller berechtigten Kritik am NHS, die Briten haben lieber den lebendigen Spatz in der Hand, als die tote Taube auf dem Dach.

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        Hallo Herr Posener,

        vielen Dank für den Hinweis auf die Studie, die meine These ja weitgehend bestätigt. Der NHS ist relativ effektiv und sehr sozial. Gerade die potentiellen Labour-Wähler würden bei einer Umstrukturierung nach US-amerikanischen Vorbild die Leitzragenden sein. Was bestätigt die Studie noch? Die neoliberalen Vorgänger Corbyns im Amt als Premiereminister des Vereinigten Königreichs haben mit ihrer Austeritätspolitik versucht, dieses soziale Vorzeigesystem gezielt in den Abgrund zu fahren.

        Der NHS ist daher einer der zentralen Punkte, über den Corbyn die Wahl gewinnen kann. Die wutentbrannten Reaktionen in Patienten, Medizinern und Angehörigen, die Johnson bei seinen schlecht organisierten PR-Aktionen erleben durfte, sprechen eine klare Sprache. Der einfache Wähler sieht, dass das System mehr schlecht als Recht funktioniert und dass die Mitarbeiter vor Ort ihr Bestes geben, aber an allen Ecken und Enden fehlt es an Geld und Personal. Johnson und Corbyn versprechen, das zu verbessern, aber alle, die nicht mehr an die Zweifel an der Geschichte mit der Unbefleckten Empfängnis haben, könnten auch in dieser Frage letztlich zu dem Ergebnis kommen, das Corbyn in dieser Frage eher zu vertrauen ist.

        Allen ein sonniges Wochenende!

        Ihr 68er

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        Lieber 68er, man kann natürlich in den Bericht hineinlesen, dass der NHS „relativ effektiv“ ist; aber „relativ effektiv“ bedeutet konkret: „Its main weakness is health care outcomes. The UK appears to perform less well than similar countries on the overall rate at which people die when successful medical care could have saved their lives.The mortality rate in the UK among people treated for some of the biggest causes of death, including cancer, heart attacks and stroke, is higher than average among comparable countries. The UK also has high rates of child mortality around birth.“
        Wenn Kindersterblichkeit eine akzeptable Folge sozialisierter Medizin ist, bin ich raus. Ditto bei älteren Patienten, wenn es um Krebs, Herzinfarkte und Schlaganfälle geht.
        Ich weiß auch nicht, wie Sie behaupten können, so etwas sei „sehr sozial“. Reiche Leute leisten sich seit jeher eine private Zusatzversicherung und besuchen private Ärzte. All die aufgezählten Mängel betreffen die mittleren und kleinen Einkommen.

        Dass der NHS ein „soziales Vorzeigesystem“ gewesen sei, bevor ihn „neoliberale“ Premierminister mit „Austeritätspolitik“ den NHS „gezielt in den Abgrund“ gefahren hätten, ist also eine gewagte Behauptung. Schon 1979 stellte eine „Royal Commission“ fest, dass es auch im Rahmen des NHS große Unterschiede in der Qualität der angebotenen Leistungen gebe, und zwar nach Region und Klasse. Von einem „Vorzeigesystem“ wollte man schon damals nicht reden.

      3. avatar

        Hallo Herr Posener,

        ich bin es ja gewohnt, dass Sie mich missverstehen wollen. Aber irgendwann wird es langweilig. Es gibt Studien, die sind schon Jahrzehnte alt, die haben herausgefunden, dass es relativ wenig ausmacht, welches Gesundheitssystem man nutzt, im Endeffekt sind die Ergebnisse „im Mittel“ gleich. Es gibt natürlich Ausnahmen, wie das klassische US-System, das teuer und ineffektiv ist, aber wenn man z. B. das dänische mit dem deutschen, dem schweizerischen, dem britischen und irgend einem anderen vergleicht, das hauptsächlich auf private Krankenversicherungen setzt, kommt im Verhältnis zu dem was man hineinsteckt Vergleichbares heraus, allerdings auch nur „im Mittel“.

        Da man derzeit zu wenig Geld ins NHS steckt, habe nicht ich mich mit höheren Sterblichkeiten bei Herz- Kreislauferkrankungen, Krebs und Kindersterblichkeiten abgefunden, die für ein eigentlich zivilisiertes Land unakzeptabel sind, sondern Ihre Freunde unter Blair, Brown, Cameron, May und Johnson. Das NHS würde mit mehr Geld vorbildlich funktionieren. Es ist, wie man der Studie entnehmen kann, ist das System im Vergleich sehr effizient:

        „While data is limited, the NHS seems to be relatively efficient, with low administrative costs and high use of cheaper generic medicines.“

        Das ärgert natürlich die Pharmaindustrie und die Krankenversicherungswirtschaft. Mit gleichen falschen und haarsträubenden Argumenten hat man bei uns ja auch das eigentlich vorbildliche System der solidarischen staatlichen Rentenversicherung torpediert. Die Leute merken aber, dass sie damals, wie heute von Versicherungslobbyisten, gekauften Politikern belogen und betrogen werden. Ich bin nicht schadenfroh, aber ich weiss noch genau, welche Kollegen mir vor ein paar Jahren geraten haben, lieber mit Lebensversicherungen für mein Alter vorzusorgen als in mein berufsständisches Versorgungswerk einzutreten und besser zu einer privaten Krankenkasse zu wechseln. Ich wäre gerne in der allgemeinen Rentenversicherung geblieben, das wäre aber für meine Familie im Zweifel ungünstiger gewesen. In der gesetzlichen Krankenkasse fühle ich mich sehr wohl und würde mich freuen, wenn diese für jeden funktionieren würde. Und meine persönlichen Erfahrungen mit dem NHS Anfang der 90iger waren sehr gut, obwohl ich auch schon damals gesehen habe, dass der Sparzwang von Thatcher und Major gerade im klinischen Bereich zu erheblichen Missständen geführt hatte. Dass es der NHS trotz des neoliberale Würgegriffs bis ins neue Jahrtausend geschafft hat, läßt die eiserne Maggie wohl weiterhin im Grab rotieren, wenn es gut läuft, wird gerade wegen des NHS Corbyn u.a die nächste Wahl gewinnen.

        Beste Grüße

        Ihr 68er

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        Nein, lieber 68er, ich will Sie nicht missverstehen. Ich stimme Ihnen auch zu, dass die Gesundheitssysteme in allen entwickelten Ländern relativ gut funktionieren, zugleich relativ kostspielig sind, und dass man daran vermutlich wenig ändern kann.
        Nur, ich wiederhole es: Die Studie findet den NHS relativ kosteneffizient. Aber entscheidend für ein Gesundheitssystem ist für mich das, was in der Studie „health care outcomes“ genannt wird. Und dafür zahle ich gern ggf. ein bisschen mehr. Wenn in Großbritannien die „health care outcomes“ schlechter sind als in vergleichbaren Ländern (und das ist der Fall), dann fragt man sich warum.
        Es gibt zwei Möglichkeiten:
        Neoliberale Politiker haben das System kaputtgespart (Ihre These).
        Das System ist, was „Outcomes“ betrifft, wie jedes sozialistische System, ineffizient (meine These).
        Zum Glück sind wir hier nicht auf Spekulation angewiesen. Sie finden hier eine Grafik mit den Ausgaben als Prozent des BNP von 1950 bis 2018:
        https://www.nuffieldtrust.org.uk/chart/nhs-spending-as-a-percentage-of-gdp-1950-2020
        Der größte Anstieg der Ausgaben findet unter Tony Blair statt, den die meisten Corbyn-Anhänger wie Sie auch (zu Recht übrigens) als „neoliberal“ einstufen würden. Aber der Anstieg beginnt unter Blairs Konservativen Vorgänger John Major, der von 1990 bis 1997 Premierminister war. Und auch wenn man unter Cameron und May den Versuch der Kostensenkung erkennt, kann von einem „gezielten“ Versuch „meiner Freunde Blair, Brown, Cameron, May und Johnson“, das System in den Abgrund zu fahren“ wahrlich nicht die Rede sein.
        Somit ist Ihre These im Popper’schen Sinne falsifiziert.

        Was nun meine These angeht: Hier haben Sie eine Tabelle mit den Gesundheitsausgaben, nach Ländern geordnet:
        https://data.oecd.org/healthres/health-spending.htm

        Sie sehen: Wir in Deutschland geben erheblich mehr pro Kopf aus als die Briten, und – so mein Gefühl – entsprechend besser sind die Resultate. Am ineffizientesten, da sind wir uns einig, sind die USA.
        Gründe für unsere höheren Kosten sind in der Tat, wie Sie sagen, auch die höheren Ausgaben für Pharmazeutika:
        https://data.oecd.org/healthres/pharmaceutical-spending.htm#indicator-chart

        Allerdings finde ich den Unterschied nicht so gravierend. Aber hier ist sicher noch Luft nach unten.
        Viel wichtiger aber ist die Ärztedichte. Schauen Sie sich das mal an:
        https://data.oecd.org/healthres/doctors.htm#indicator-chart

        Mir scheint, der NHS verwaltet eher den Mangel. Unter den Bedingungen mag die Effizienz sogar „relativ hoch“ sein. Aber was heißt das schon, wenn die Wartezeiten lang und die „Outcomes“ unzureichend sind?
        Ich gebe zu, dass meine Maximalthese – „Der Sozialismus versagt gerade in dem Punkt, wo er überlegen sein soll, nämlich in besserer Leistung für den Kunden“ – nicht zu beweisen ist. Aber wer den NHS zum Hauptwahlkampfthema erklärt, muss eine bessere Erklärung für die mangelnden „Outcomes“ finden als: „Die Neoliberalen haben ein funktionierendes System kaputtgespart.“
        Können wir uns darauf einigen, oder bleiben Sie dabei, dass ich Sie nicht verstehen will? Ich denke, ich gebe mir einige Mühe, sie zu verstehen (und zu widerlegen).

    3. avatar

      Die erste Etappe ist geschafft! Die SPD hat es geschafft zu ihren Wurzeln zurück zu finden.

      Hoffentlich schaut Boris am 12. Dezember genauso aus der Wäsche wie Olaf Scholz.

      Vorwärts und nicht vergessen, worin unsre Stärke besteht! Beim Hungern und beim Essen, vorwärts und nie vergessen: Die Solidarität!

      https://youtu.be/ZuN_vQR3Ohw

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        Lieber 68er, weder glaube ich, dass die Vielen immer Recht, noch dass die Wenigen immer Unrecht haben. Manchmal kann es richtiger sein, einem Menschen 1000 Euro zu geben, als 1000 Leuten je einen Euro. Richtiger auch im Sinne jener 999, die also zunächst leer ausgehen. Ich finde, Parolen, die so krude sind, können schwerlich richtig sein.

      2. avatar

        Hallo Herr Posener,

        deswegen habe ich ja auch das Video beigefügt. Die Kampagne von Labour ist ziemlich gut, finde ich und zeigt recht deutlich, was das britische Labour-Movement möchte.

        Soll ich noch mehr posten aus der Reihe?

        Ihr 68er

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        Lieber Herr Posener,
        grundsätzlich haben Sie natürlich Recht, keine Frage. In diesem Fall aber, würde ich das Beispiel umdrehen.
        Die britische Staatsverschuldung ist seit 2010, der Machtübernahme der Torys um über 600.000.000.000 (bitte um Korrektur, sollte ich ein paar Nullen vergessen haben) Pfund gestiegen.
        https://de.statista.com/statistik/daten/studie/167311/umfrage/staatsverschuldung-von-grossbritannien/
        Was wiederrum im Umkehrschluss bedeutet, dass irgendjemand auf diesem Planeten, ich tippe auf einige Personen in UK, um 600.000.000.000 Pfund reicher geworden ist. Da in dieser Zeit die sogenannte Austeritätspolitik herrschte, d.h. an öffentlichen Ausgaben gespart wurde, befindet sich das Geld wohl wie in ihrem Beispiel bei dem einen und die 999 anderen warten, dass sie etwas davon haben.
        Und so komme ich zu meinem eigentlichem und im Grunde für mich gewichtigstem Argument, warum ich Corbyn einem Johnson bei dieser Wahl vorziehen würde. Ich glaube nicht, dass Corbyns Politik besonders erfolgreich sein wird, im Gegenteil, viele Projekte halte ich für Totgeburten.
        Aber was soll den schon schief gehen? Eine verantwortungslose Bande von Tunichtguten nimmt den Staat als Geisel? Das hatten wir doch gerade. Öffentliche Gelder werden verschleudert. Spielt das noch eine Rolle? Sie haben es in einem Welt-Kommentar ja geschrieben, den Schaden durch den Brexit werden die Bürger mit mehr Arbeit abbezahlen müssen, danke liebe Elite. Die Staatsschulden ohnehin. Der One-Nation Conservatism wird teichen und dann werden Fragen gestellt, warum UK eben nicht das Singapur an der Themse ist und warum eigentlich UK sein Potential nicht nutzt. Warum sollten sich die Nutznießer der großen Bonanza gerade nach einer Wahl mäßigen und nicht weiter radikalisieren? Von den meisten Kabinettsmitgliedern gibt es wunderbar unterhaltsame Zitate, was sie von ihren Mitbürgern eigentlich so halten…erinnert an ein kommunistisches Politbüro, das das Vertrauen in die Bevölkerung verloren hat.
        Sollte Corbyn der König des Sommers werden, könnte es wenigstens ein paar gute Jahre für die kleinen Leute geben, Breitband und Freibier. Danach ist ohnehin Zahltag, unweigerlich. Ansonsten wurden nicht nur über 600.000.000.000 umverteilt, die Protagonisten werden durch das nächste Projekt Brexit auch noch belohnt. Warum sollten diese einen One Nation Conservatism ernst nehmen, wenn dieser gar nicht notwendig ist? Geht doch alles auch so.
        Wie könnte man die Elite denn besser disziplinieren, als einen König der Narren zu wählen, der die Dukaten unter das verachtete Volk wirft?
        Den Boris-Deal gibt es nicht. UK wird ohne Deal aus der EU ausscheiden, weil die Verhandlungen nächstes Jahr mit einer Tory-Mehrheit im Parlament scheitern werden. Nord-Irland wird dadurch keinen Sonderstatus haben, Irland wird eine Grenze implementieren müssen und UK hat saubere Hände, weil es in Singapur an der Themse keine Zollgrenze braucht, den Schotten wird ein Neues Referendum schlicht verweigert. Make the Bonanza great again.
        Ich glaube nicht, dass wir es hier mit Thatcher-Liberalen zu tun haben, von wegen Leistung muss sich lohnen. Es ist ein elitärerer Zirkel, der einfach genug von dem sozialen, demokratischen Blödsinn des 20sten Jahrhunderts hat. Und der einzige, der ihnen weh tun kann und wird, ist Corbyn. Meine Stimme hätte er und das sicherer, als er mich durch sein lächerliches manifesto überzeugen könnte.

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        Lieber Stevanovic, die Statistik „zeigt die Staatsverschuldung von Großbritannien von 2008 bis 2018. Die Angaben beziehen sich auf den Gesamtstaat und beinhalten die Schulden des Zentralstaats, der Länder, der Gemeinden und Kommunen sowie der Sozialversicherungen.“ Es handelt sich also mitnichten nur um Schulden, die von der Regierung in London gemacht wurden. Ohne Genaueres zu wissen, würde ich darauf tippen, dass bei einer alternden Bevölkerung die Ausgaben der staatlichen Versicherung gestiegen sind. Aber Sie können das gern näher recherchieren und mir beweisen, dass in Wirklichkeit May und BoJo Schulden gemacht haben, um das Geld Milliardären zu geben.

        Was nun Corbyn angeht, so ist im aktuellen „Economist“ ein sehr interessanter Artikel über die politischen Pläne von Labour, die das Zentralorgan des kapitalistischen Liberalismus für viel gefährlicher hält als die ökonomischen Vorhaben. ich empfehle die Lektüre. Im Kern geht es darum, dass Labour eine Art Rätesystem neben den bisherigen Organen der Demokratie, der Verwaltung und der betrieblichen Führung einführen will; der alte Traum von „Basisdemokratie“. Überzeugend schreibt der „Economist“ (überzeugend für mich, weil ich das 1968ff erlebt habe), dass solche Organe der Basisdemokratie es einer kleinen Funktionärskaste mit Sitzfleisch, Organisationstalent und Skrupellosigkeit ermöglichen, die Macht de facto zu übernehmen, und dass die Corbybnistas in Gestalt der „Momentum“-Gruppe bereits über eine solche Partei-in-der-Partei verfügen, und über die Erfahrung, wie man Organisationen kapert. Die Corbynistas wollen ihre Revolution „unumkehrbar“ machen, und das könnte ihnen gelingen.

      5. avatar

        Hallo Herr Posener,
        höre ich da Pfeifen im Walde:

        „…und es könnte ihnen gelingen.“

        Warum nur mögen die Briten diesen ungelenken älteren Mann, der seine Reden im Parlament vom Blatt liest, obwohl große Teile des Labour-Establishment und fast die gesamte Medienwelt gegen ihn kämpft?

        Was haben die Torys bloß falsch gemacht?

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        Lieber 68er, ob „die Briten“ den „Jeremy“ mögen, steht dahin. Er ist Umfragen zufolge der unbeliebteste Oppositionsführer aller Zeiten, und noch hat BoJo einen sehr bequemen Vorsprung. Aber drei Wochen vor der Wahl 2017 hatte May einen noch größeren Vorsprung und hätte beinahe verloren.
        Wenn Sie mich fragen, was die Tories falsch gemacht haben, so ist das nicht gerade schwer zu beantworten. Die Austeritätspolitik hat ihnen geschadet – die ist in einem Land, wo der Gesundheitsdienst und die Rentenanstalt staatlich sind, sofort zu spüren. Da ich, wie Sie wissen, kein Anhänger der Schwarzen Null bin, werde ich die Sparpolitik nicht verteidigen. Über den NHS haben wir uns schon unterhalten.
        Ich merke allerdings, dass Sie schon bei aller zur Schau getragenen Zuversicht eine Rückzugsargumentation eingebaut haben für den Fall, dass Corbyn trotz seiner Versprechen verliert: Weil „große Teile des Labour-Establishment und fast die gesamte Medienwelt gegen ihn kämpft“. Die Briten lieben ihn „eigentlich“, aber uneigentlich lesen sie die „Sun“.
        So bleibt Ihr Weltbild intakt.
        Ich aber denke, dass die Briten, wie schon George Orwell schrieb, eine instinktive Abneigung gegen Radikale und Ideologen haben. Bei BoJo sehen sie den Opportunisten, bei „Jeremy“ den Jakobiner. Wäre ich wahlberechtigt, ich würde weder den Clown noch den Ideologen wählen, sondern Jo Swinson.

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        Der Guardian ist die deutscheste Zeitung Englands.
        Das heißt, Märchen und linke Spinnerei, aber keine Infos.
        Wer das mag, der liebt seine Feldenkirchens und Stokowskis und die kleinen Fluchten aus der Wirklichkeit. Dazu noch einen Joint und alles ist schön bunt, wie 1968 in Wandlitz.

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      Wenn ich es richtig gelesen habe, sind noch ca 14 Prozent der Frauen im UK noch unentschlossen, wen sie am 12. wählen sollen.

      Gerade macht Corbyn eine enorme Ochsentour mit den meisten Auftritten. Und das kann er mit Abstand am besten:

      https://youtu.be/2vdzoe3QJoo

      Entscheidend kann auch noch das letzte Fernsehduell werden.

      Das wird noch spannend.

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      Hallo Herr Posener,

      nach der aktuellen Umfrage von ICM liegen Labour und die Conservatives nur noch 6 Prozent auseinander. Da die Libdems und diese UKIP-Nachfolgepartei nur noch verhältnismäßig wenige Stimmen verlieren können, wird es letztendlich darauf ankommen, ob und wie viele Stimmen Cornyn in den letzen beiden Tagen BoJo abluchsen kann. Ausgehend von der ICM-Umfrage sind es nur 3 Prozentpunkte, um mit Johnson gleich zu ziehen. Ein Hung Parliament ist also eine sehr reale Prognose und auch ein Wahlsieg von Labour liegt keinesfalls ausserhalb aller Vorstellungskraft.

      Ich habe weiterhin große Zweifel, dass es klappen wird, wollte das aber hier nur kurz erwähnen, damit ich wenigstens hier bei SM nach der Wahl nicht lesen muss, dass der Sieg von Labour völlig überraschend sei. Genauso wie bei der letzen US-Wahl kann man bei der jetzigen UK-Wahl beobachten, dass das allgemeine mediale Narrativ mit den Bildern und Videos von der Bevölkerungsbasis, die man sehen kann, wenn man will nur wenig übereinstimmt. Das gleiche gilt für die Wahl von Saskia Ecken und Norbert Walter-Borjans. Wenn man sich die Ergebnisse der ersten Stichwahl angeschaut und vielleicht ein oder zwei typische Ortsvereine besucht hätte, wäre man als Journalist sicherlich nicht überrascht gewesen, dass die Wahl so ausgegangen ist.

      Das traurige an der ganzen Sache ist nur, dass wenn es ein Hung Parliament gibt, Ihre Favoritin Swindon alles dafür tun wird, dass Jeremy Corbyn kein PM wird.

      Beste Grüße

      68er

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        Lieber 68er, Sie sind es, nicht ich, der vorsorglich behauptet hat, Corbyn habe keine Chance, weil die Medien alle gegen ihn hetzen. Jetzt wollen Sie vorsorglich hier festhalten, dass Labour doch gewinnen könnte, was ich immer als eine Möglichkeit gesehen habe, sonst hätte ich mir nicht die Mühe gemacht, mich in den rechten Mainstream einzuklinken und ihn zu kritisieren. Die Ironie erkennen Sie hoffentlich: Lesen Sie bitte die Beiträge von Klaus J. Nick, Oleander und Thorsten Haupts zu „Dem Volke dienen“. DIE meinen, die hiesigen Medien seien alle (ich übertreibe etwas) links-grün versifft. Wat denn nu? Beteiligen Sie sich doch an der Auseinandersetzung. Retten Sie meine Ehre. Beweisen Sie den Herren, dass „die Medien“ alle rechts sind.

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        Lieber Herr Posener,
        die Behauptung, die Medien in unseren westlichen Staaten seien unabhängig ist der angestrebe Idealzustand, sie können es ja gar nicht „lupenrein“ sein, weil sie sich weitgehend von Werbung „ernährt“ und als Wirtschaftsunternehmen selbstverständlich eigene Interessen im politischen, gesellschaftlichen und medienpolitischen Dialog schwer ausser Acht lassen kann. Die Behauptung, unsere Medien seien unabhängig ist daher doch sehr steil, wenn man es mit dem Vokabular der „Mainstream-Medien“ ausdrücken wollte, müsste man wohl den vernebelnden Begriff „Verschwörungstheorie“ benutzen.

        Das alles ist ja auch unter ernsthaften Medientheoretikern seit Jahrzehnten kein Geheimnis mehr, von rechts bis links, von Walter Lippmann über Marshal McLuhan bis zu Noam Chomsky.

        Ich habe daher keine Lust und Zeit mich vor Weihnachten bei dieser Scheindebatte weiter zu beteiligen.

        Wenn ich Zeit hätte, würde ich vielleicht noch soziologische oder psychologische Studien dazu finden, wieso Menschen – und zu denen zähle ich auch die Journalisten (Ironie!) – dazu tendieren sich anderen Meinungen ohne selber nachzudenken oder zu verstehen anschließen und heute glühende Verfechter neoliberaler Thesen sind und wenn die Wortführer plötzlich wieder Keynes toll finden natürlich auch eine Abwrackprämie toll finden. Das hat natürlich nichts damit zu tun, dass das Gehalt, dass sie erhalten zu einem guten Teil aus Werbegroschen der Autoindustrie stammt. Und das ist ja nicht nur bei den Medien so. Was habe ich mich gewundert, als ich hörte, dass Herr Mützenich dagegen war, die GroKo zu verlassen. Inhaltlich glaube ich wäre er, wenn er könnte, schon lange da ausgestiegen, aber er ist derzeit ja vor allem Fraktionsvorsitzender und damit auch für seine Kollegen und deren Mitarbeiter verantwortlich.

        Ich glaube, dass der Einfluss des Geldes auf die Medien hier in der BRD erheblich geringer ist, als z. B. im UK oder den USA. Hier halte ich vor allem die Nähe der Medien zur Politik problematisch, wenn Herr Laschet allen Ernstes Herrn Holthoff-Pörtner (Mr. WAZ) in seine Regierung holt und zum Medienminister machen will.

        Ich bin mit unserer Medienlandschaft leidlich zufrieden und möchte sie weder gegen die der USA, die Britische, Russische oder Chinesische tauschen. Gleichwohl gibt es noch sehr sehr viel Luft nach oben.

        Als ich den erhellenden Film über Dick Cheney sah, fand ich es z. B. nachdenkeswert, ob man zumindest bei unseren Medien nicht auch eine Fairness-Regel einführt, wie es sie einmal in den USA gab.

        https://en.m.wikipedia.org/wiki/FCC_fairness_doctrine

        Wenn etwas aus dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten kommt, kann es ja nicht ganz schlecht sein. Vielleicht würde ich dann ja auch öfters mal wieder die Tagesthemen schauen oder das Heutejournal und mich weniger über das 2-Prozent-Rüstungshaushalt-Propaganda-Radio-WDR ärgern. Ich kenne niemanden in meinen Bekanntenkreis der die deutschen Rüstungsausgaben erhöhen will. Gleichwohl höre ich gefühlt jeden zweiten Tag auf WDR einen Journalisten einem sogenannten Experten aus irgendeinem Think Tank fragen, ob es nicht notwendig sei endlich die Zusage an die NATO….

        Wie gesagt, es geht noch schlechter, und ja, es gibt vieles Gute, das aber letztlich nicht die Masse erreicht, Dank Lippmann, McLuhan, Murdoch, Fox, den Barclay Twins und Co. erreicht die breite Masse der Bevölkerung weitgehend Verdummungsmüll. Das beste Beispiel ist die FAKE-Demo nach dem Charly Hebdo Anschlag. Um glaubwürdig zu sein gehört es dazu, mit berechtigter Kritik verantwortungsvoll und ernsthaft umzugehen und den Kritiker mit seinem Anliegen erst einmal ernst zu nehmen und ihn nicht wie es z. B. Herr Leyendecker gerne tut, als unmündigen, minderbemittelten Medienkonsumenten zu sehen, dem die schlauen Journalisten erst einmal die Welt erklären muss.

        Ich weiß nicht, ob es dazu Studien gibt, aber im Zweifelsfall kennt der Durchschnittsdeutsche eher den Namen des letzten Djungelcamp-Gewinners oder den des Trainers von Bayern München als den unserer Bundesinnenministerin oder des eigenen Landtags- oder Bundestagsabgeordneten. Und das ist auch so gewollt.

        Ich interessiere mich natürlich auch für die Meinungen von Herrn Leyendecker oder Herrn Kleber, aber zunächst möchte ich ausgewogene Fakten haben und mir selbst ein Bild von der Welt machen.

        Wenn Sie und Ihre Kollegen es schaffen, mit der teilweise berechtigten Kritik konstruktiver umzugehen, wäre schon ein erster Schritt in die richtige Richtung getan. Dann sind die Konsumenten oder Kunden vielleicht auch wieder bereit, mehr positive Kritik über die ansonsten nicht ganz schlechte Arbeit zu äußern.

        Eine besinnliche Vorweihnachtszeit!

        Ihr 68er

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        Ich meine, in der Diskussion „Lügenpresse“ gegen „Verschwörungsteorie“ wäre es gut, wenn jemand mal das „Vorwurfskarussel“ anhalten könnte und man eher über die Sache diskurtiert:

        https://www.youtube.com/watch?v=U9hgBxe3_oo

        War die Berichterstattung über die Charly-Hebdo-Demo von Tagesschau und Co. unabhängiger kritischer Journalismus?

        Entspricht es den Idealen der Gewaltenteilung, dass Herr Laschet versucht hat, Herrn Holthoff-Pörtner zum Medienminister in NRW zu machen?

        Ist es Zufall, dass die Zeitungszusteller vom Mndestlohn und Nachtzuschlag ausgenommen wurden?

        Ist es richtig, dass die von meinen Rundfunkgeldern bezahlten Infomationsdatenbanken der öffentlich-rechtlichen Sendern mir nicht zugänglich gemacht werden, obwohl dies ohne Probleme möglich wäre und die Emanzipation und Informationsmöglichkeiten des mündigen Bürgers erheblich verbessern würde?

        Ich könnte noch stundenlang weitere Fragen stellen, habe aber leider keine Zeit.

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        Hallo Herr Posener,

        ich glaube ich liege völlig falsch. Gerade habe ich mal versucht, bei Goolge einen Live-Sender zu finden, auf dem man eine Live-Berichterstattung über die Election findet. Bin dann bei Murdochs (?) Sky-News gelandet. Es geht nicht um Brexit oder das NHS, auch nicht um Austerity oder Tax Havens, nicht um einen Green Deal oder Handelsverträge mit den USA.

        Es geht um Dogs und Cats und Horses!

        Leider kann man bei einem Live-Stream bei Google keine Zeitmarke setzen, ich glaube aber, das ganze Programm liegt im Niveau weit unter dem Marianengraben:

        https://youtu.be/9Auq9mYxFEE

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        Nein, lieber 68er, es gibt ein gesetzliches Verbot in UK, am Wahltag das Thema der Wahlen (oder Parteipolitik überhaupt) zu behandeln. auch in BBC war nichts darüber. Sehr weise.

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        Hallo Herr Posener,

        so wie es aussieht, wird es nach der Wahl noch spannender als zuvor.

        Johnson wird ein Versprechen nach dem anderen brechen und die Union spalten. Spätestens wenn die Menschen die Folgen am eigentlich Leib spüren, wenn sie merken, dass der Brexit gar nichts für sie gebracht hat, kommt entweder die Zeit für Labour oder für Farage.

        In den nächsten Stunden, Wochen und Monaten werden die Blairists mit aller Macht versuchen die Partei wieder in die Hand zu bekommen. Ich hoffe, die Parteijugend und die Gewerkschaften können das verhindern. Boris Johnson hat als Bürgermeister von London bewiesen, dass er vielleicht ein Spassvogel ist, als Regierender aber gänzlich ungeeignet.

        Ich denke, Corbyn und McDonnell sind zu alt, um bei der nächsten Wahl noch einmal anzutreten. Aber als Parteivorsitzender sollte Corbyn erst einmal nicht zurück treten sondern in aller Ruhe den Übergang vorbereiten. Dass Labour für die nächsten Wahlen einen neuen Spitzenkandidaten braucht, steht ausser Frage, ich glaube aber nicht, dass seine Agenda von den Menschen abgelehnt wurde, sondern eher seine unklare und teilweise ungeschickte Art.

        Der große Fehler war, dass die LibDems dieser Wahl zugestimmt haben. Man hätte Ken Clarke zum Primeminister machen und Johnsons Brexit Bill zur Abstimmung bringen müssen mit der Alternative, in der EU zu bleiben.

        So hätte man zwei Chancen gehabt, zu gewinnen. Jetzt hat man mit einer Wahl alles verspielt. So hat man die Konservative Partei den Ultrarechten überlassen.

        Diese Wahl wird die britische Gesellschaft weiter spalten und, wenn es ganz schlecht geht die Union sprengen.

        Ich gehe jetzt ins Bett ohne Hoffnung, einen Brexit-Morgen zu erleben. Dazu sind die ersten realen Ergebnisse aus den Wahlkreisen zu klar. Teilweise 15 Prozent Verluste sind zu deutlich.

        Gute Nacht

        68er

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        Ich meine natürlich, dass Corbyns größter Fehler war, zusammen mit den LibDems der Wahl zuhgestimmt zu haben. Das war Harakiri.

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    Zu dem Thema Grenfell Tower fällt mir wenig ein, außer wie sich das bei mir abgespeichert hat: Die Medien, immer jedes solche Ereignis aufblasend wie einen Atompilz, haben bei mir den Eindruck hinterlassen, dass fast alle tot waren. Daher las ich das noch mal nach: Ein Viertel ist gestorben. Ich finde, dass das bei einem Feuer dieser Dimension eine relativ glimpfliche Bilanz ist. Die Sache mit dem Kühlschrank glaube ich nicht, denn dann würde so etwas öfter passieren, wenn Leute verreist sind. Wissen Sie, wir haben mal, als wir drei Tage verreist waren, das Bügeleisen angelassen. Es roch muffig, als wir eintraten. Und erstarrten. Zum Glück stand es gut.
    Das Grenfell Tower-Feuer ist eine dieser Katastrophen, die immer wieder passieren und weiter passieren werden, weil wir Menschen sind und Fehler machen und es daher den Satz gibt: Errare humanum est. Ein Handtuch auf dem Gasherd: Feuer. Von mir aus auch der Kühlschrank. Es passiert. Und wenn der Tower nicht gedämmt gewesen wäre, wäre auch etwas passiert, nur eben kleiner.

    Nun ja, es gab sicher Interesse an Brandstiftung. Das würde nie jemand erfahren. Aber da das niemand erfahren würde, handelt es sich um eine klassische Spekulation, Asche auf mein Haupt. Interessant ist doch nur, ob und wie das Gebäude versichert war. Es war wohl eine Scheißbude. Aber arme Leute könnten niemals in Kensington oder Chelsey leben, wenn es ein wunderbarer Bau gewesen wäre. Dort zu leben, ist cool. Also zieht man in die abgewrackte Bude statt in was Besserers in Slough. Hätte mir auch passieren können, Lage. Aber ich wäre runtergegangen. Hundertprozentig. Mit nassen Laken.

    Interessant ist also auch der Autoritätsglauben. Der ist ausgeprägt in England bis hin zu Desinteresse und Fatalismus. 1000 BP Strafe allüberall. Ich unterhalte mich gerade mit Dart Charge. Ich soll über hundert zahlen, weil ich nicht gezahlt hätte. 2.50 BP. Zum Glück habe ich gezahlt. Drastische Geldstrafen, auch für falsches Parken. Es gibt inzwischen Leute, die buckeln schlimmer als Tiere. Insofern ist mir doch was zum Thema eingefallen.

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    Der Satz „Obama ist ein großartiger Mensch. Leider war er kein großer Politiker“ ist steil. Wie bitte hätte Obama unter den sehr eingeengten Bedingungen „großartig“ regieren sollen. Es fehlten ihm die stabilen Mehrheiten. Die Demokraten heute sind demgegenüber wenig überzeugend. Vielleicht ändert sich das noch. Aber unverkennbar sind sie in die Falle der Identitätspolitik geraten und leben von negativen Urteilen wie „Rassismus“ und „Sexismus“, Kannen aber keine Wege aus der Armutsfall einer sehr großen Zahl von US-Amerikaner. Obama versuchte hier einiges, aber die Demokraten machen nicht einmal Wahlkampf mit diesem Thema.
    Von England will ich gar nicht reden. Das ist zurzeit eine Klassengesellschaft.

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      Obamas Fehler liegen im Nahen Osten, Frau Frommel. Man kann nicht immer nur von „Roten Linien“ reden, aber keine passende Politik dazu machen. Schade, dass er nicht Schauspieler geworden ist. Jeder Film mit ihm wäre ein Blockbuster, und er hätte längst einen Oscar.

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      … wirklich ‚tolle‘ Figur, der werte Mr. ‚Friedensnobelpreisträger‘ [sic!] und Merkel-Freund (Mu)Barak Hussein Obama II. Mit ihm waren die USA am längsten im Krieg. Fast sein gesamtes Kabinett ist nach den expliziten Wünschen der Wall Street (in Wikileaks nachlesbar) zusammengestellt. Die Kosten der Bankenrettung der Banken- und Finanzkrise ab 2007, hat er den Steuerzahlern aufgebürdet. Nicht ein krimineller Banker wurde zur Rechenschaft gezogen … nun ja, ein ‚Gutmensch‘ mit linken Sympathiebekundungen aus Deutschland halt.

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    Kürzlich wurde mir mal wieder bewusst, dass wir Europäer Politik viel zu ernst nehmen und darüber humorlos und oft herablassend werden. Ich rechne mich da nicht raus. Immer sehr kritisch mit Pres. Obama aufgrund mancher Fehler, hörte ich aus dem Kreis der Macher von „The Godfather“ online von einem Besuch Obamas am Lake Tahoe. Er sei gefragt worden, was er an jenem (großartigen) Ort empfinde, und Obama soll gesagt haben: „Poor Fredo.“ Ich finde das umwerfend. Einerseits zeigt es, wie das Gewebe eines Meisterfilms irgendwie in die amerikanische Genetik einzufließen scheint oder zumindest zum Mem wird, andererseits ist es humorvoll und erwärmte mich für Obama wie andere Ereignisse auch („Amazing Grace“).
    Wir befinden uns in mehreren europäischen Ländern in tiefen fundamentalistisch wirkenden Grabenkämpfen mit eingebautem Hasspotential, vor allem leider auch links, und völlig ohne jeden Humor. Und drüben steht ein Mann, der ein bedeutenderes Land geführt hat und bringt das. Ich habe herzlich gelacht und gedacht, wir hier in Europa oder zumindest Deutschland müssten mal etwas mehr Humor entwickeln, was die Toleranz mit dem Andersdenkenden erheblich erleichtern würde. Wir werden langsam starr, die meisten Medien vorneweg. Die ab und zu anzustrebende Leichtigkeit des Seins wird unerträglich bei den Kämpfen. Ich höre das von Obama am Lake Tahoe und denke: Mehr davon und dann „God bless America.“
    Ob ich das verständlich ausgedrückt habe, ist allerdings zweifelhaft. Ein Satz Obamas am Lake Tahoe, der fliegt wie ein Vogel so elegant, eine traumhafte Assoziation.

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      Obama ist ein großartiger Mensch. Leider war er kein großer Politiker. Und was Hass und Polarisierung angeht, haben wir den Amerikanern nichts voraus. Au contraire.

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    Sehr geehrter Herr Posener,

    bitte helfen Sie mir auf die Sprünge: der Satz „Eine vermeidbare Tragödie, die den Klassencharakter der britischen Gesellschaft offenbart“ erschließt sich mir nicht. Inwiefern kann der Brand eines Hauses den Klassencharakter einer Gesellschaft offenbaren?

    Auch ergibt sich, wie mir scheint, Ihr Angriff auf Rees-Mogg in keiner Weise aus diesem Brand auch nicht aus seiner Radioäußerung darüber. Noch nicht mal, daß Rees-Mogg die Opfer zu den Schuldigen erklärt, steckt in seiner Äußerung. Man kann diese Aussage – “ Es widerspreche dem gesunden Menschenverstand, in der Wohnung zu bleiben“ – auf vielerlei Weise begründen aber keinesfalls zwingend aus Standesdünkel. Auch mag Rees-Mogg all das sein, was man ihm in deutschen Medien nachsagt, allein diese Aussage taugt nun wahrlich nicht, diese Annahmen zu belegen. Vielmehr haben wir hier wohl erneut einen Fall von Projektion vorliegen: man macht sich einen apriorischen Begriff und füllt die täglichen Realitäten seelenruhig da hinein, ganz unabhängig, ob beide durch eine Evidenz zueinander passen.

    Gänzlich unpassend finde ich aber, daß Ihnen die Dialektik des englischen „Klassensystems“ abgeht. Ich selbst hatte das Glück, nahezu ein Jahrzehnt in England leben zu können – OX 14, im historischen Kernland – und zähle diese Jahre zu meinen glücklichsten. Vor allem weil ich den Wert von Vielfalt und Diversity kennen- und verstehen lernen konnte. Ich hatte Freunde und Bekannte in verschiedenen Schichten, vom Football Hooligan bis zur upper middle class und habe jeden Kontakt genossen. Je höher er war, umso aparter war natürlich der Dialog – obwohl ich mich nie wieder so kundig über Fußball habe unterhalten können, wie mit Paul dem zahnlosen die-hard-Birmingham-City-Fan.

    Was diese Menschen an versatility, an logischer Stringenz, rhetorischer Eloquenz, aufklärerischem Impetus, an subtiler Ironie, an Wissen, an kultureller Verankerung und Tradition, vor allem aber an Stil, Freundlichkeit, Etikette und Warmherzigkeit – auch wenn sie gespielt sein mag – zu bieten hatten, ist kaum verständlich zu machen. Man sehe sich nur die Unterhausdebatten unter diesem Gesichtspunkt an, um zumindest einen wesentlichen Punkt zu wahrzunehmen, der der deutschen politischen Kultur fehlt.

    Man sollte nicht vergessen, daß der Großteil der britischen Kultur diesen upper classes zu verdanken ist. Wer sich frontal gegen die Vertreter dieser Klasse wendet, bekämpft im Grunde Exzellenz. Man kann Rees-Mogg und übrigens ebenso in Johnson exakt auch diese Exzellenz sehen – Arroganz hin oder her. (Ich selbst bin ein Freund der Arroganz – wenn sie berechtigt ist.) Der Unterschied zwischen britischer Exzellenz und deutscher Politmittelmäßigkeit wird durch die Bücher dieser beiden Männer schön illustriert: Johnsons Churchill-Studie und Rees-Moggs Buch über die Victorians. Gibt es in D Vergleichbares? Vielleicht war Peter Glotz noch so ein Fossil.

    Wollen wir hoffen, daß das, was Sie „Klassendünkel“ nennen – man könnte auch von Binnenvielfalt sprechen – nicht allzu schnell in England verschwindet … was natürlich nicht heißt, daß die wahrhaft negativen Auswirkungen dieser Differenz, die es freilich gibt, nicht zu bekämpfen sind. Aber bitte m i t Differenzen.

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      Lieder Herr Seidel, Ihre kriecherische Bewunderung für den Geldadel in Ehren – Jacob Rees-Mogg ist kein Beispiel für „Exzellenz“. Der Vater William schon; vielleicht verwechseln Sie die beiden?

      Sie schreiben: „Man sollte nicht vergessen, daß der Großteil der britischen Kultur diesen upper classes zu verdanken ist.“ Eine gewagte Behauptung. William Shakespeare war der Sohn eines Handschuhmachers. Auch die anderen bedeutenden Dramatiker des elisabethanischen Zeitalters entstammten dem kleinbürgerlichen Milieu, das bis heute am produktivsten ist, wenn es um die Hervorbringung von Kultur geht. Der Adel hingegen hat fast niemanden von kultureller Bedeutung hervorgebracht, Ausnahmen bestätigen die Regel. Ich könnte das durchdeklinieren, ob wir vom Zahnarztsohn Benjamin Britten reden oder vom in Bombay geborenen Salman Rushdie, von den Liverpooler Kleinbürger- und Arbeiterkindern, die The Beatles gegründet haben, ganz zu schweigen.

      Sie schreiben: „Bitte helfen Sie mir auf die Sprünge: der Satz “Eine vermeidbare Tragödie, die den Klassencharakter der britischen Gesellschaft offenbart” erschließt sich mir nicht. Inwiefern kann der Brand eines Hauses den Klassencharakter einer Gesellschaft offenbaren?“
      Ich erkläre das zwar im Text, aber jetzt mal langsam zum Mitschreiben: Der Wohnblock war mit feuergefährlichem Material verkleidet, das in Ländern wie Deutschland längst verboten ist. Die Gefahren sind und waren bekannt. Aber man mutet armen Leuten zu, in einer solchen Feuerfalle zu leben, weil die Renovierung Geld kosten würde, das durch die Mieten nicht einzubringen wäre.

      Was nun die Bemerkungen des Jacob R-M und seines Freundes und Verteidigers Andrew Bridgen angeht, so hat JR-M selbst zugegeben, dass seine Bemerkungen „beleidigend“ waren. Weshalb Sie sie verteidigen müssen, ist mir daher schleierhaft. Hier ist nun das Statement von Bridgen im Wortlaut: https://www.independent.co.uk/news/uk/politics/andrew-bridgen-grenfell-jacob-rees-mogg-interview-apology-radio-4-a9187126.html

      Das ist Klassendünkel pur.

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        Sehr geehrter Herr Posener,

        Ihre Shakespeare-Gedanken werde ich gerne lesen.

        Mit der Falsifikation sollten Sie sich hingegen noch einmal beschäftigen: sie ist in der Popperschen Variante natürlich ausdrücklich eine wissenschaftstheoretische Methode, die die Aussagenlogik – es geht immer um Aussagen über etwas – betrifft. Sie stammt freilich aus der Naturwissenschaft, wo sie sich konsequenterweise ergibt. Philosophisch wäre sie ohne Hegel – den Popper in seinem Furor bekanntlich zu den prodiktatorischen Denkern zählte – kaum zu denken.

        Mir ging es – um das abschließend zusammenzufassen – um zwei Dinge: Aus Ihrer Herleitung (es geht mir nie um Ihre Person, nur um Ihre Argumente) läßt sich logisch kein Standesdünkel bei Rees-Mogg oder seiner Klasse gewinnen (was nicht heißt, daß es das nicht gibt), weder aus dessen inkriminierter Aussage noch aus der Tatsache, daß der Tower abbrannte und das aus bekannten Ursachen, und auch nicht, daß darin vor allem sozial schwächere Menschen lebten und starben. Das zu widerlegen, haben Sie bislang noch nicht unternommen: die Logik der Aussage.

        Zweitens wollte ich darauf aufmerksam machen, daß der Standesdünkel – wenn man ihn dialektisch betrachtet – vermutlich ein Signum einer Klasse oder Schicht ist, die mehr als Standesdünkel zu bieten hat, die eine große kulturelle Bedeutung für die englische Kultur und Geschichte besitzt und daß man sie eher an den kulturellen Leistungen, statt an snobistischen Aussagen messen sollte, wenn man sie als solche beurteilen will.

        Darüber hinaus wäre die Frage zu klären, ob „die Rohheit, der Snobismus, die Überheblichkeit“ bis zu einem gewissen Grad nicht konstitutive Merkmale dieser Klasse sein müssen, auch Bedingung dafür, daß sie diese Exzellenz und damit auch besondere kulturelle Leistungsfähigkeit besitzt. Die „unverdienten Privilegien und anstrengungslosen Einkommen“ muß man sicher differenzierter sehen.
        Dazu hat Clive Bell in „Civilization“ (1928) ganz Maßgebliches gesagt. Er kommt zu dem Schluß:

        „Wherefore the existence of a leisured class, absolutely independent and without obligations, is the prime condition, not of civilization only, but of any sort of decent society.“

        Auch Harold Nicolsons „Good Behavior. Being a Study of certain Types of Civility“ leistet hier Erhellendes.

        Zurück zur Logik. Ihre Argumentation wäre eher abduktiv – nach Charles Sanders Peirce – zu nennen. Auch das kann valide Ergebnisse zeitigen, es bedürfte dann nur noch der zwei Folgeschritte, der deduktiven und induktiven Beweisführung. Unter abduktiven Gesichtspunkten wären die „Verschwörungstheorien“ – ich würde eher von Zweifel sprechen – über Shakespeares Identität auch anders zu behandeln.

        Immerhin, wir teilen den gleichen Humor: P.G.Wodehouse.

        Anrede ist mir egal – alles außer Liebe. Unser Sprachschatz kennt unzählige stilvolle, respektvolle und nicht-nivellierende Anreden.

        Hochachtungsvoll

        Jörg Seidel

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        Nun, wenn Clive Bell Recht hat, Herr Seidel, dann ist es schade um den Berufsbörsenjobber und -politiker Rees-Mogg und den Berufspolitiker Boris Johnson, die der Theorie zufolge weder zur Zivilisation noch zum Anstand etwas beitragen können, was ich gern bestätige. Überhaupt müsste mit dem Schrumpfen der britischen Aristokratie seit den Zeiten Evelyn Waughs und P.G. Wodehouses ein Niedergang der britischen Kultur verbunden sein. Was ja nicht der Fall ist.
        Freilich wird das – apropos Popper – keinen Anhänger der „theory of the leisure class“, die Veblen 30 Jahre vor Bell aufstellte, überzeugen, weil er alle unbestreitbaren negativen Aspekte der Moderne – die Vulgarität, Halbbildung, generelle Mittelmäßigkeit usw. – dem Fehlen einer Aristokratie zuschreiben wird, während die tatsächlichen Leistungen einer Massenkultur, von der Popmusik über die TV-Serie bis hin zum Roman nicht wahrnimmt. Hier ist die Popper’sche Scheinlogik schlicht nicht anwendbar, weil der Blick auf das, was „Kultur“ ist, von apriorischen Einstellungen geprägt ist, und weil ich keinen objektiven Maßstab kenne, mit dem sich entscheiden ließe, was „civilization“ und eine „decent society“ wären.

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      Sehr geehrter Herr Posener,

      leider ist es mir offenbar nicht gelungen, mich deutlich genug zu machen. Ich verteidige weder den Adel – den „Blutadel“ oder „Geldadel“ oder Standesadel -, sondern sprach vom Kulturadel, wenn man das so sagen darf. Dort finden Sie natürlich Vertreter aus verschiedenen sozialen Schichten.

      (Haben Sie schon mal was von Bertrand Russell gehört?)

      Ich denke hier – um ad hoc ein paar Zeitgenossen nur beispielhaft zu nennen – an Leute wie die Hitchens-Brüder oder Dawkins, deren Eltern Militärs waren, an Douglas Murray, Roger Scruton, ja selbst am Medienmenschen wie Jermy Paxman, Andrew Neil, David Dimbleby oder Andrew Marr, die aus ganz verschiedenen Milieus stammen. Ja selbst im Sportkommentariat würde einem Gary Lineker oder Des Lynam nie im Leben in den Sinn kommen, eine Widerrede mit einer initialen Beleidigung – wie Sie es leider tun – zu beantworten. Exakt das ist der Unterschied zwischen Deutschen und kultivierten Engländern – nun ahnen Sie sicherlich, wo Sie – trotz Ihrer Ahnenschaft – zu verorten sind.

      Denken Sie nur an den kulturellen Schatz des Bloomsbury-Kreises. Das waren zum Teil Anhänger des Fabianismus und dennoch gehörten sie den kulturellen upper classes zu und dachten und sprachen auch so. Hörte man heute die Stephen-Kinder Virginia und Vanessa, einen Clive Bell, Lytton Strachey, Roger Fry, Duncan Grant, E.M.Forster oder Leonard Woolf sprechen, dann wäre es wohl so, als hörte man Rees-Mogg. Man kann das regelrecht erlauschen, wenn man die Werke dieser Persönlichkeiten liest.

      Auch sprach ich von upper classes in der Mehrzahl, was konsequenterweise mehrere Schichten beinhaltet. Selbstverständlich – da haben Sie vollkommen recht und rennen offene Türen ein – ist das Kleinbürgertum und auch das Proletariat kulturell produktiv. Übrigens gehört auch die Familie Rees-Mogg zum Bürgertum und nicht zum „Adel“.

      Vielen Dank für die Erläuterung Ihres kryptischen Satzes über den Zusammenhang zwischen Styroporplatten und Standesdünkel. Leider ist der Beweis noch immer nicht erbracht. Mir scheint es deutlich einfacher, hier knallharte ökonomische Gründe anzuführen – man braucht dazu (occams razor) keinen ideologischen Überbau.

      Das Haus wurde billig gebaut und renoviert – übrigens von öffentlicher Hand und keinem naserümpfendem „Adel“. Wikipedia: „Das Gebäude, in dem etwa 600 Menschen lebten, wird im Auftrag des Eigentümers, der Kommunalverwaltung Kensington and Chelsea London Borough Council, von der Kensington and Chelsea Tenant Management Organisation (TMO) verwaltet. Die TMO ist ein gemeinnütziges Unternehmen mit einem mehrheitlich mit Mietervertretern besetzten (acht Mietervertreter, vier Vertreter der Kommunalverwaltung, drei unabhängige Mitglieder) Verwaltungsrat bzw. „Board“.“

      Ob die Sicherheitsverstöße aus persönlicher Gier – Einsparung – oder aus ökonomischen Zwängen, aus Schlampigkeit oder einem sonstigen Grund zustande kamen, entzieht sich meiner Kenntnis; ich kann aber nirgendwo einen Beleg dafür finden, daß „Standesdünkel“ eine Rolle gespielt haben könnte. An Ihrem Argument stimmt ganz einfach die L o g i k nicht. Sie führen es dennoch an, mutmaßlich um einen Ihnen genehmen Punkt – der ideologisch und nicht sachlich begründet ist – durchzuboxen.

      Es ist auch nicht auszuschließen, daß ähnliche Vorfälle in D passieren können. Was wäre dann mir Ihrer Argumentation? Sie als Popper-Anhänger sollten das Prinzip der Falsifikation doch kennen.

      Daß Rees-Mogg seine Bemerkung nun entschuldigend zurücknimmt, hat mit meiner Herleitung nichts zu tun – ist dem Link übrigens auch nicht zu entnehmen. Beleidigend mag sie gewesen sein – man darf freilich auch nicht den Druck der PC außer acht lassen -, weil sie an die Intelligenz appelliert. Aber sie – die Bemerkung – hat nichts mit Standesdünkel zu tun und selbst wenn sie das hätte, dann geht das weder aus der Aussage noch Ihrer fehlerhaften Argumentation hervor. Sie sind nach wie vor in der Erklärungspflicht.

      In diesem Sinne grüßt respektvoll,

      Jörg Seidel

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        Zum angeblich respektvollen Umgang miteinander nun die neueste Nachricht aus dem Land guter Manieren:
        https://www.theguardian.com/politics/2019/nov/13/boris-johnson-drops-word-onanism-from-speech-after-criticism

        Lieber Herr Seidel, ich liebe meine Heimat. Aber nur Dummköpfe leiden nicht zugleich an dieser Liebe. Ich habe oft mit Alexander Gauland beim Wein gesessen und mir seine Klagen darüber angehört, wie Margaret Thatcher sein geliebtes Großbritannien zerstört habe (was leider, wie wir jetzt sehen, nicht stimmt). Aber er hatte eben ein völlig idealisiertes Bild von England, das er dem von ihm wenig geliebten Westdeutschland entgegensetzte. Dazu neigt jeder: das Fremde zu idealisieren, eben weil man es nicht wirklich kennt. „Du sollst dir kein Bild machen“, heißt es in der Bibel, und das hat seine tiefe Wahrheit.

        Ansonsten:
        1. sehe ich mit Vergnügen, dass Sie in Sachen Kultur zurückrudern. Das Kapitel können wir also abschließen.
        2. lesen Sie zu schnell und überlesen dabei zu viel. Dass Grenfell Towers im Besitz der Stadt ist, steht im Artikel, zusammen mit dem Hinweis, darüber sollten Befürworter von mehr staatlichem Wohnungsbau nachdenken. Ich bitte Sie, künftig genauer zu lesen, dann können Ihre Beiträge kürzer, prägnanter und dadurch wirksamer werden. Deal?

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        Sehr geehrter Herr Posener,

        Sie haben recht, ich hätte Ihren Artikel vor der zweiten Kritik noch einmal aufmerksam lesen müssen, dann wäre die Doppelei so unterblieben – ein Lapsus, der an der Argumentation nichts ändert. Umso mehr ist es ja verwunderlich, daß Sie dennoch den Standesdünkel daraus ableiten – begründet haben Sie ihn noch immer nicht. Der Denkfehler liegt doch auf der Hand.

        Auf meine Fragen haben Sie leider nicht geantwortet. Ich wollte nicht Ihr Wissen testen, sondern habe Ihnen argumentationslogische Fehler aufgezeigt und Begründungen dafür vorgelegt. Die können falsch sein, aber Sie müßten sich schon die Mühe machen, darauf einzugehen. Bsp., aber eignetlich unwichtig in diesem Zshg: Shakespeare – es ging um Falsifikation. Sie bekennen sich zu Popper, stellen aber Thesen auf, die jederzeit falsifiziert werden könnten – wenn etwa in D ein gedämmtes Haus brennt oder wenn Shakespeare de Vere wäre etc.

        Sie hatten Ihre Argumentation zuerst auf Shakespeare begründet. Die modernen Künstler beinhalten einen gebürtigen Inder und eine Popband – sie fielen aus dem hier vorgegeben Begriffsgerüst heraus.

        Prinzipiell: Nirgendwo habe ich behauptet, die lower classes hätten keine bleibende Kultur hervorgebracht, ich wollte lediglich gegen den Allgemeinverdacht gegen die upper classes vorgehen und deren wesentlichen Beitrag zur englischen Kultur aufzeigen. Sie nannten das eine „gewagte Behauptung“. Es gab Pope und Locke aber es gab auch Lord Mansfield … die britische Demokratie ist wesentlich ein kulturelles upper class Projekt. Es geht mir um Differenzierung.

        Ihre Antworten sind typische Fälle von Derailing – sie meiden den Kern und hängen sich an irgendwelchen Äußerlichkeiten auf, die Ihnen gerade nicht passen.

        Wo sehen Sie ein Zurückrudern?

        Der wichtigste Satz im Johnson-Artikel ist dieser: „But when Johnson delivered the speech the word onanism was left out“. Daß er das Wort zuvor benutzt hatte ist idiosynkratisch zu begründen – natürlich gibt es auch innerhalb der Klassen eine Vielfalt und ausgeprägte Individualität. Rees-Mogg – um den es eigentlich ging – hätte so vermutlich nicht gesprochen.

        Sehr geehrter Herr Posener, wäre es Ihnen möglich, eine andere Anrede zu wählen? Ich empfinde die Ihre als unangenehm, unpassend und ein klein wenig paternalistisch.

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        Wie möchten Sie angeredet werden, Herr Seidel? „Euer Ehren“?
        Um gleich zum Kern der Sache zu kommen: Poppers „Falsifikation“ ist eine Methode aus den Naturwissenschaften, und auch da nicht unumstritten. Außerhalb der Naturwissenschaften (und bis zu einem bestimmten Grad auch in den Naturwissenschaften gelten Algorithmen wie: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer; die Ausnahme bestätigt die Regel; von wenigen Abweichungen abgesehen gilt… usw. usf.
        Ich habe – wenn Sie sich einmal die Mühe machen wollten, meinen Hinweisen nachzugehen, wüssten Sie das auch – ich habe selbst irgendwo geschrieben, weshalb die Verschwörungstheorien in Sachen Shakespeare im Popper’schen Sinn unwissenschaftlich sind, weil sie eben nicht falsifizierbar sind, während die „Stratford-Hypothese“ jederzeit falsifizierbar wäre. Im geisteswissenschaftlichen Bereich ist Popper also in streng anwendbaren Bereichen anwendbar, wie etwa: Findet sich in den Papieren von Edward de Vere, Earl of Oxford, das Manuskript eines Shakespeare-Stücks in Oxfords Handschrift, erkennbar als Entwurf, nicht als Abschrift, dann dürfte es mit der Autorschaft des Schauspielers aus Stratford aus sein. Findet sich freilich ein solcher Entwurf in Shakespeares Handschrift, so können die Anhänger einer Verschwörung sagen: Klar doch, um die Täuschung zu vollenden, hat Oxford den Schauspieler sogar aus seinen „rough papers“ abschreiben lassen.
        Damit soll es aber mit Popper auch gut sein.
        Sie unterstellen mir – mir, der ich von den Middletons und Booths abstamme, zwei der ältesten Familien Großbritanniens! mir, dessen Lieblingsschriftsteller des 20. Jahrhunderts P.G. Wodehouse ist! – einen „Allgemeinverdacht gegen die upper classes“. Diese geradezu irrsinnige Behauptung untermauern Sie mit … nichts. Denn es gibt nichts.
        Das ist das Problem mit Ihnen: Sie stellen Behauptungen auf, die man nicht widerlegen kann, weil selbst das Gegenteil falsch ist. Meine Abneigung gilt keiner Klasse, weder upper, middle noch lower, weder aristocracy, bourgeoisie noch working class. Meine Abneigung gilt der Rohheit, dem Snobismus, dem anstrengungslosen Einkommen, dem unverdienten Privileg, der Überheblichkeit. Wenn hierzulande von „Leistungsträgern“ geredet wird und Banker gemeint werden, ergeht es mir ähnlich. Nicht, weil ich etwas gegen Banker hätte, sondern weil ich etwas gegen die Anmaßung habe.
        Hätten Sie aufmerksam gelesen, Sie wüssten das. Ich bitte Sie also noch einmal, genauer zu lesen. Sie ersparen sich und mir viel Arbeit. Und ich habe nicht so viel Zeit wie Sie. Ich bin ja „Leistungsträger“ also Selbstständiger.

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      Zur Ergänzung: Sie führen Shakespeare als Gegenargument an. Wann war der gestorben? 1616 – kaum geeignet, um irgendeine moderne Erscheinung zu beweisen oder zu widerlegen.
      Nochmal zur Falsifikation: Was machen Sie denn, wenn Shakespeare Francis Bacon, Sohn des Lord Keeper of the Great Seal oder Edward de Vere, der 17. Earl von Oxford war?

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        Über Shakespeare und die Autorenschaftsfrage habe ich ausführlich geschrieben, etwa in meiner Rowohlt-Monographie, aber auch in WELT und anderswo. Ich schlage vor, Sie informieren sich darüber, bevor Sie hier dieses Fass aufmachen.
        Auch habe ich moderne Kulturschaffende angeführt (Britten, Rushdie, The Beatles). Offensichtlich überlesen Sie gern das, was Ihnen nicht in den Kram passt. Das ist keine gute Eigenschaft und erschwert eine zielführende Diskussion.
        Aber noch ein Beispiel: Ian McEwan, der vielleicht bedeutendste Romancier meiner Generation, der übrigens die gleiche Schule besuchte wie ich (er war zwei Klassen über mir), ist der Sohn eines Berufssoldaten. Kaum adelig. Die Schule, Woolverstone Hall bei Ipswich, war damals eine städtische, und sie nahm hauptsächlich „Children of the Empire“ und des Militärs auf, deren Eltern, anders als die Johnsons, Rees-Moggs, aber auch Corbyns, nicht das Geld für eine „public school“ hatten.
        Karl Popper, den Sie gern zitieren, war Rechtsanwaltssohn und – als Jude – Zuwanderer in Großbritannien. Die Vorfahren waren ihrerseits aus Tschechien und Ungarn nach Wien gezogen. Kaum das Material, aus denen der sich seiner slawischen Herkunft schämende Lichtmesz und der ewige Bummelstudent Sellner ihre ideale ethnisch homogene Nation konstruieren würden.

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    Mir geht das langsam auf die Nerven. Der Grund, wieso Corbyn die Wahl wohl verlieren wird, liegt nicht daran, dass er etwas schlechtes für die englischen Wähler will. Auch nicht daran, dass er angeblich zu wenig gegen Antisemitismus in seiner Partei täte. Corbyn selbst ist so wenig Antisemit, wie Herr Posener Antipalästinenser ist. Vielleicht ist Herr Corbyn ein wenig Philopalästinenser, das macht ihn aber noch lange nicht zum Antisemiten.

    Corbyn selbst ist schlauer und authentischer, als er in den Medien dargestellt wird. Trotz einer massiven Propagandawelle, die von allen Mainstream Medien, selbst dem „linken“ Guardian, getragen wurde und gegen das eigene blairistische Parteiestablishment hat er 2017 ein phänomenalen Wahlergebnis erreicht und wäre wohl ohne diesen undemokratischen Gegenkräfte heute wohl Ministerpräsident.

    Corbyn hat berechtigte Kritik an der EU geäußert, die eigentlich auch von großen Teilen der Briten geteilt wird. Er will ein demokratisches und sozialeres Europa, er will den NHS nicht an amerikanische Finanzinvestoren verscherbeln, er will im Binnenmarkt bleiben, wie z. B. auch Ken Clarke. Was ist daran so gefährlich für den durchschnittlichen Briten? Eigentlich nichts und deswegen wird auch nicht über seine Politik gesprochen sondern versucht ihn durch Smear-Campaigning zu desavouieren.

    Corbyn möchte die Arbeitsrechts- und Ökostandarts der EU erhalten und wäre im Zweifelsfall wohl auch dafür, europäische Sicherheitsvorschriften zum Brandschutz zu akzeptieren, wenn es dem durchschnittlichen britischen Bürger Nutzen bringt.

    Eine Wahl Corbyns würde aber so mache Nachteile für Finanzinvestoren, Steuerflüchtlinge und Steuertrickser bedeuten. Mit ihm hätte die EU die Chance, die nicht unbedeutenden Steueroasen im britischen Commonwealth trocken zu legen und die fortschreitende Medienmonopolisierung zu bekämen.

    Weil die Politik von Corbyn einigermaßen Hand und Fuß hat, ist er in der normalen Bevölkerung, wenn er mit ihr ins direkte Gespräch kommt auch relativ beliebt, vor allem bei der Jugend.

    Corbyn setzt sich für Maßnahmen gegen den Klimawandel ein, ist für mehr Chancengerechtigkeit und Generationengerechtigkeit, gegen Rüstungsexporte und völkerrechtswidrige Angriffskriege. Was spricht also gegen ihn? Er wäre der erste nicht neoliberale Ministerpräsident in No. 10 seit über 40 Jahren. Es gibt tausend Gründe, wieso diese Politik gescheitert ist. Es ist höchste Zeit, dass sich die Lebendigkeit der Britischen Demokratie durch, wie Sie es wohl sagen würden, „Falsifikation“ beweist.

    P.S.: Ich halte übrigens wenig davon, formallogische Denkkonstrukte auf komplexe soziopolitische Systeme anzuwenden. Da kann ich Popper nicht mehr folgen.

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        Lieber Herr Posener,

        wir haben hier vor geraumer Zeit mal über Herrn Gauland diskutiert. Ich kenne auch zwei Leute von der AfD und finde es wichtig, mit diesen so lange im Gespräch zu bleiben, wie sie noch auf dem in den 70ern und 80ern so oft beschworenen „Boden des Grundgesetzes“ bleiben. Und Sie werden selber wissen, dass es dabei zu, ich will es mal „schwüle Situationen“ nennen, kommen kann. Wo ist die Grenze überschritten, wo bricht man die Freundschaft ab, wo stellt man den Gegenüber bloß? Corbyn hat sich dazu entschieden, sich aus dem Nahostkonflikt nicht herauszuhalten. Und dann redet man ab und zu auch mit lupenreinen oder weniger lupenreinen Antisemiten und macht dabei eine unglückliche Figur. Ob seine Position da konsistent ist, kann ich nicht beurteilen, dazu weiss ich zu wenig.

        Die Sache mit Millett ist auch nicht schön. Ich war nicht dabei, aber wenn man sich das Video anschaut und bedenkt, dass Herr Millett selbst Brite ist, dann kann man verstehen, dass er das als rassistisch, und im konkreten Fall als antisemitisch empfunden hat. Ob es so gemeint war, ich weiß es nicht:

        https://youtu.be/nEB9PwKYmmA

        Auf jeden Fall hätte er sich das Wort „english“ sparen können:

        https://www.youtube.com/watch?v=xN0TvxA9nK0

        Dass Herr Millett ihn deswegen jetzt auf Schadensersatz in Höhe von 100.000 Pfund verklagt hat, kann ich aber auch nicht wirklich nachvollziehen:

        https://www.dailymail.co.uk/news/article-7137689/Corbyn-faces-questioned-SUED-no-sense-English-irony-comments.html

        Aber vielleicht liegt das auch an der üblicherweise schlechten Berichterstattung über juristische Verfahren. Vor deutschen Gerichten ist es in Pressesachen auch üblich Unterlassungsanträge mit der Androhung von Ordnungsgelt bis zu 250.000,– Euro zu stellen. Das ist auch völlig korrekt. Das ist der Rahmen, den das Gesetz (§ 890 ZPO) vorgibt. Bei einem Verstoß gegen so eine Unterlassungsverpflichtung muss man dann aber in Fällen, wie den von Corbyn und Millett, in Deutschland „nur“ ein paar tausend Euro an die Staatskasse zahlen und eben nicht den Höchstbetrag.

        Corbyn macht in der letzten Zeit auch für mich einen relativ unglücklichen Eindruck. Aber wenn man berücksichtig, unter welchem Druck er steht, in der eigenen Partei (von beiden Seiten), von der Opposition und von Seiten der Medien, schlägt er sich doch einigermaßen gut, dafür dass er kein geborener Redner ist und seine Reden vom Blatt ablesen muss. Wenn ich mich hätte entscheiden müssen, von wem ich meine Kinder hätte beaufsichtigen lassen sollen oder wem ich im Notfall eine Bankvollmacht ausstellen würde, wäre die Entscheidung für mich schnell gefallen. Herrn Farage und Herrn Johnson würde ich keine Sekunde trauen, bei Herrn Corbyn hätte ich da eigentlich keinerlei bedenken. Aber vielleicht täusche ich mich da auch.

        Der größte tatktische Fehler von Corbyn war, dass ihm seine Berater eingeredet haben, bei einer Abwahl Johnsons im Unterhaus müsse er Primeminister werden. Hätte er Ken Clarke vorgeschlagen mit dem Argument, die Leute hätten nun einmal bei der letzten Wahl die Torys gewählt, und er wolle den Wählerwillen respektieren, hätte er mit Clarke die weitere Agenda bestimmen können. Er hätte zunächst eine Vereinbarung mit der EU für einen gemeinsamen Binnenmarkt für ca. ein Jahr vereinbaren können und dann ein Referendum über das weitere Vorgehen in die Wege leiten können. Da er bei Neuwahlen nur mit einem oder mehreren Koalitionspartnern hätte regieren können, wäre er auch nicht in die Bredoulile gekommen, aus der NATO austreten zu müssen. Wobei ich es nicht falsch finde, dass man auch hierzulande über die Sinnhaftigkeit der derzeitigen NATO diskutiert. BIs vor nicht allzulanger Zeit stand ja auch noch im SPD-Parteiprogramm etwas davon, dass die NATO und der Warschauer Pakt durch eine eruopäische Friedenslösung abgelöst werden sollten:

        „Unser Ziel ist es, die Militärbündnisse durch eine europäische Friedensordnung abzulösen. Bis dahin findet die Bundesrepublik Deutschland das ihr erreichbare Maß an Sicherheit im Atlantischen Bündnis, vorausgesetzt, sie kann ihre eigenen Sicherheitsinreessen dort einbringen und durchsetzen, auch ihr Interesse an gemeinsamer Sicherheit. Der Umbruch in Osteuropa verringert die militärische und erhöht die politische Bedeutung der Bündnisse und weist ihnen eine neue Funktion zu: Sie müssen, bei Wahrung der Stabilität, ihre Auflösung und den Übergang zu einer europäischen Friedensordnung organisieren. Dieser öffnet auch die Perspektive für das Ende der Stationierung amerikanischer und sowjetischer Streitkräfte außerhalb ihrer Territorien in Europa….“

        So das bis 2007 gültige Berliner Programm der SPD.

        Jetzt beginnt für mich aber schon das Wochenende und ich klinke mich mal aus der Diskussion aus, lese aber weiter mit.

        Beste Grüße

        Ihr 68er

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        Lieber 68er, trotz Wochenende: Ich freue mich, erstens, dass Sie die Sache mit Millet so genau ansehen. Es ist leider kein Einzelfall. Ich erlaube mir kein Urteil darüber, ob Corbyn Antisemit ist. Aber er unternimmt nichts gegen den Antisemitismus in der Partei.
        Hier ist Jonathan Freedland, Jude, Linker, Guardian-Korrespondent. Ich finde, es gehört sich, seine Sorgen sehr ernst zu nehmen:

        https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/nov/09/jews-brexit-boris-johnson-jeremy-corbyn

        Dennoch würde ich Ihnen zustimmen: „Wenn ich mich hätte entscheiden müssen, von wem ich meine Kinder hätte beaufsichtigen lassen sollen oder wem ich im Notfall eine Bankvollmacht ausstellen würde, wäre die Entscheidung für mich schnell gefallen. Herrn Farage und Herrn Johnson würde ich keine Sekunde trauen, bei Herrn Corbyn hätte ich da eigentlich keinerlei bedenken.“
        Das ist aber nicht die Frage. Die Frage ist, wer das Land führen soll. Ich verachte Johnson zutiefst. Ich halte ihn für einen Charlatan und habe in der WELT seine „Windbeutelhaftigkeit“ kritisiert. Aber es tut mir Leid: Corbyn wäre eine noch größere Katastrophe. Es ist eben etwas faul in einem Staat, wenn man zwischen zwei solchen Gestalten wählen muss.

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        Lieber Herr Posener,

        ich bin gerade auf der Oranienstraße und musste mit Entsetzen feststellen, dass das Springerhochaus „NASS“ geworden ist. Vielleicht ist aber auch nur ein „L“ verloren gegangen.

        Gleich freue ich mich, über die Rudi-Dutschke- Straße zum U-Bahnhof Kochstraße zu gehen.

        Haben Sie keine Angst, es passiert in Deutschland sehr selten, daß Einfamilienhäuser wegen ihrer Styropor-Dämmung in Flammen aufgehen.

        Berlin ist schon toll. Gerade hat ein russisches Pärchen mit grünen Haaren eine Polin eingeladen gemeinsam eine Taxe zum Ostkreuz zu nehmen.

        Aber trotzdem bin froh, daß meine Kinder nicht hier aufgewachsen sind. Und trotzdem liebe ich diese Steinwüste im märkischen Sand doch sehr.

        Mein Entschluss, mit meinem Sohn hier wegzuziehen nahm damals übrigens konkrete Formen an, als ich im Winter einen kleinen Jungen sah, der auf der Bundesallee einen Schlitten hinter sich her zog.

        Wo zum Teufel kann man in Wilmersdorf Schlitten fahren?

        Aber wo im Ruhrgebiet gibt es die
        „WE_T“ auf der Rudi-Dutschke-Straße?

        Ihnen wünsche ich ein wohlig gedämmtes Wochenende!

        Herzliche Grüße

        Ihr 68er

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      Das hätte bei allem Dissens zwischen uns beiden zu 100 % auch von mir kommen können:
      “ Ich halte übrigens wenig davon, formallogische Denkkonstrukte auf komplexe soziopolitische Systeme anzuwenden.“

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    Ist Antisemitismus wirklich ein Problem in Großbritannien ?
    Schon vor 150 Jahren gab es einen (getauften) Juden als Premierminister, und mit seiner Verachtung für die Iren und seinem Glauben an die Überlegenheit der weißen Rasse unterschied er sich kein bißchen vor den nichtjüdischen Angehörigen der britischen Oberschicht.
    Und was den Klassendünkel betrifft, die Reichen grenzen sich überall von den ärmeren Schichten ab. Allerdings ist die Durchlässigkeit zwischen den Schichten in Britannien eher höher als in Deutschland.

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      Lieber Gerald Wissler, der Antisemitismus war immer schon ein Problem in Großbritannien, auch und gerade zu Disraelis Zeiten. 1945 bis 1947 gab es Straßenschlachten zwischen britischen Faschisten und jüdischen Selbstverteidigungsgruppen. Ja, NACH dem Zweiten Weltkrieg.

      https://www.theguardian.com/books/2019/oct/16/we-fight-facists-by-daniel-sonabend-review

      Der Klassendünkel ist in Großbritannien viel stärker ausgeprägt als in Deutschland, und zwar oben wie unten. „Working class“ als Nomen und als Adjektiv ist in linken Kreisen positiv besetzt; und das „Old-Boy-Network“, das die Krämerstochter Thatcher zerschlagen wollte, lebt fort.

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        Lieber Alan Posener,
        das mit den Straßenschlachten wußte ich nicht, aber die antisemitischen Anfeindungen gegen Disraeli waren bestimmt nicht schlimmer als der Anti-Katholizismus, der lange in der englischen Politik sehr ausgeprägt war.
        Der Klassendünkel mag in Großbritannien stärker sein, aber auch das Klassenselbstbewußtsein. Das Beispiel der Eisernen Lady zeigt ja auch, daß die Klassen auf der Insel durchlässiger sind als bei uns. Und wenn es mal einer von unten nach ganz oben schafft, verleugnet er oft seine Herkunft, man denke da nur an den Brioni-Kanzler.
        Und ich weiß nicht, ob es Dünkel oder schon Verachtung ist, wenn wie neulich im Bundestag ein Abgeordneter der ehemaligen Arbeiterpartei SPD meinte, einen Abgeordneten der AfD herabsetzten zu können mit dem Begriff „Sie Prolet“.
        Das Kapital kann sich freuen, zumindest von dieser SPD haben sie keine proletarische Revolution mehr zu befürchten.

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        Der Anti-Katholizismus in Großbritannien – oft verbunden mit antiirischem Rassismus – war bestimmt schlimm, und noch Tony Blair litt darunter. Er traute sich erst zu konvertieren, nachdem er nicht mehr Premierminister war. Ich bin mir keineswegs sicher, dass der Anti-Katholizismus nicht eine Rolle gespielt hat beim EU-Referendum: die bei den Leavers verhassten Polen hatten den Katholizismus kurzfristig zur größten Konfession Großbritanniens gemacht.
        Der Antisemitismus ist etwas Anderes, aber wir haben hier so oft darüber diskutiert, ich lasse das an dieser Stelle.
        Das Klassenbewusstsein halte ich nur für negativen Klassendünkel. Wer sich für etwas Besseres hält, weil er der Arbeiterklasse entstammt oder sich für die Arbeiterklasse (angeblich) einsetzt, ist nur ein umgekehrter Aristokrat. Die SPD trat immer ein für Aufstieg durch Bildung und glorifizierte nicht das Leben in der Grube oder der Fabrik. Das spricht in meinen Augen für sie.

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        Lieber Alan Posener,

        vielleicht haben Sie sogar Recht, daß auch das Klassenbewußtsein der Arbeiterklasse eine Art Dünkel ist. Ich entstamme beiderseits einer Arbeiterfamilie und ertappe mich selbst dabei, gewisse Dünkel gegen bestimmte Berufsgruppen (Juristen, Lehrer, Beamte allgemein, etc.) zu verspüren.
        Allerdings gab es bei uns auf dem Land (am Rande des Rhein-Main-Gebietes) nie diese Klassentrennung, wie sie in Städten anzutreffen war und immer noch ist. Bei uns kann man vielleicht die Einkommensklasse anhand des Äußeren der Häuser unterscheiden, aber es gibt keine Separierung der Wohngebiete wie in größeren Städten. Dementsprechend gibt es viel mehr Gelegenheiten zu Begegnungen, sei es beim Einkauf, beim Fußball oder sonstigen Veranstaltungen. Allerdings gibt es bei uns auch keinen Landadel mit seinen Herrenhäusern und einer eigenen Infrastruktur, wie es in England auch auf dem Land Gang und Gäbe ist.

        PS: Der Hinweis, daß der Antikatholizismus auch heute noch stark ist und möglicherweise den Ausschlag bei der Brexit-Abstimmung gegeben hat ist interessant. Aber sind Sie sicher, daß durch die Polen der Katholizismus die größe Religion wurde ? Das verwundert mich doch sehr.
        Oder meinen Sie, die größte nach der Staatskirche ?

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        Danke für den Link.
        Aber die darin erwähnten 25 Millionen Anglikaner sind schon ein paar mehr als die 4,2 Millionen Katholiken. Interessant ist dabei, daß die Zahl der Kirchenbesucher vergleichbar ist.

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      @ D (GW) G:
      „Allerdings ist die Durchlässigkeit zwischen den Schichten in Britannien eher höher als in Deutschland.“ Umgekehrt. In Großbritannien wird nach unten nur das Nötigste geredet. Außerdem ist das Bildungsniveau unten armseliger als hierzulande. Bei geographischen Fragestellungen tritt das ungeschminkt hervor. Mein favorite: Eine Britin, obere Mittelschicht, erklärte uns in den Dolomiten, sie sei zum ersten Mal dort. Normalerweise fahre sie Ski in Val d’Isère. Und: „That’s a village in the France Alps.“ Uns blieb der Mund offen stehen. Aber in GB ist eine solche Erklärung oft notwendig. Die Bildung ist poor. Manche sind dabei verlogen. Sie bewundern einen für Bi- oder Trilingualität. Wenn man fragt, warum sie keine Sprache lernen, werden sie gern verlegen. Auf der anderen Seite ist ihre Oberschicht etwa so arrogant wie die französische, sobald sie einen Akzent und Fehler bemerken.
      In Deutschland hat uns die Amerikanisierung eine etwas größere Normalität im Umgang gebracht. Ist so. Lebenserfahrung. Im britischen und französischen Ausland ist man mal oben, mal unten. Oben bei der Unterschicht, dem man in der Verwendung des in der Schule erlernten Konjunktiv eindeutig voraus ist, unten bei denen, die Oxford-English sprechen oder aus einer Grande Ecole hervorgehen.
      Mit Mittelschicht aus England in Italien gespeist. Trinkgeld?: Tote Hose. Ich finde immer, wer Essen geht, sollte auch ein Trinkgeld geben. In GB steht das schon mit auf der Rechnung. In den meisten Fällen kriegt das Personal davon keinen Penny. Daher sind viele Hotels, Restaurants und Pubs inzwischen mit Slawinnen bestückt. Wahnsinnig geiziges Land. Aber nach dem zweiten WK haben sie uns das Wohlbefinden gerettet und vorher vielen Juden das Leben. Das sollte nie vergessen werden, auch nicht, dass die Queen im Krieg mitarbeitete, angeblich als Automechanikerin.

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        Gelesen, wunderbar, besonders das Bild auf den Schultern des Vaters. Danke für den Link. Und ja, Obama ist ein sehr herzlich wirkender Mensch mit einem umwerfenden Lachen, ein Amerikaner der besten Sorte. außerdem anscheinend toller Ehemann und Vater. Und wie die Anmerkung an Lake Tahoe zeigt, hat er Humor im Gepäck. Darauf muss man erstmal kommen. Die Antwort habe ich im Gedächtnis mit abgespeichert wie einige Zitate aus dem Werk, mein favorite: „Just when I thought I was out, they pull me back in.“ Über die Schwierigkeit, sich zu ändern.

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        Offensichtlich beschäftigen Sie sich etwas mit Ihrer Vergangenheit. Ich auch. Über den Film. Eines der Geheimnisse, dass ich nie zum Antisemitismus neigte und auch früh generelle Vorbehalte gegen alle Farbigen aufgab, ist der amerikanische Film. Wir bekamen einen Fernseher, als ich ca. 15 war, und wir sahen prächtige Filme. „Jakobowski“ erwähnte ich schon. Ich habe jetzt zwei Komplettsitzungen an Regenwochenenden mit beiden jüngeren Kindern mit „The Godfather“ hinter mir. Abgesehen davon, dass sie das ihnen bislang unbekannte Werk toll fanden, fanden sie auch meine Hintergrund-Info interessant, dass die Mafia nicht wollte, dass in little Italy gedreht wurde, dass Colombo, der einen Deal mit Paramount machte, am letzten Drehtag in NYC vier Blocks weiter ins Koma geschossen wurde, dass viele Elemente von Lucky Luciano im Film zu finden sind, das Hyman Roth auf Meyer-Lansky fußt und von New Yorks berühmtesten Schauspiellehrer, Lee Strasberg, verkörpert wird, der Al Pacino ausgebildet hat. Und dann lehnte ich mich plötzlich zurück und sagte: Das war meine Jugend. Hollywood hat sie schön gemacht. Ich denke wieder neu darüber nach, ob Pacino oder de Niro besser ist. Sie sind verschieden. Sie haben mich bereichert, jeder für sich. Mein Offspring war fasziniert ob der Fülle. „Scarface“, sagte ich, ist mir zu brutal, ich habe ihn ausgelassen trotz Pacino.
        Und hiermit stellt sich die Frage, ob der zunehmende Fokus auf Gewalt ohne Kunst (denn „The Godfather“ ist künstlerisch wertvoll durch Gordon Willis) und der Fokus auf hemmungslose Action die heutige Jugend geprägt hat, die doch teilweise recht militant rüberkommt und Twitter zum Heulen mit den Wölfen benutzt. Ich denke, wir hatten es gut und sehe privat durchaus eine Aufgabe darin, das Gute herauszuarbeiten. M.E. ist das alles entglitten, der Humor weg, die Feinheiten verschwunden, das Künstlerische kleiner, die Bildung verengter. Erstaunlich ist, dass Wohlstand von der Masse Mensch offenbar nicht ertragen wird, und dass Kriege und Mangel solch reiche Nachkriegszeiten produzieren, zumindest im Westen. Der Kampf der Wohlstandskinder, der den Arbeiter beschädigen wird, kann schwere Verwerfungen auslösen.
        Antisemitismus, mit dem ich anfing, kann nur verringert werden, wenn die Filme aus der Nachkriegszeit wieder zu bester Sendezeit im Fernsehen zu sehen sind, inklusive „Sophie’s Choice“ oder „Der Holocaust“ in vier Teilen. Der Film ist so mächtig wie ein Renaissancegemälde und prägt den Menschen.
        Lehrer? Alles nur Menschen und etliche davon unfähig. Außerdem: Wer mag schon Schule? Wenn die Intention bestünde, den Antisemitismus ernsthaft zu bekämpfen, stünde der amerikanische Film mit reichlich Material zur Verfügung, so wie zu unserer Zeit. Und Hyman Roth wie auch Bugsy nimmt man dann mit Humor. Gutes Anreden hilft nicht. Da ist was fundamental schiefgelaufen. Politiker sind unbeliebt, Veranstaltungen im Bundestag zum Tag der Befreiung von Auschwitz helfen nicht, im Gegenteil. Den Menschen zeigen würde helfen. Immer, wenn ich in der Jugend den Menschen sah, dachte ich: Wenn du jüdisch wärst, wären das deine Großeltern gewesen. Oder: Was wäre, wenn wir das wären? Identifikation hilft, weniger Buß- und Bettag am 25. Januar, mehr Identifikation mit dem Opfer, dem Menschen. Eigentlich sollte das klar sein, denn wir haben alle geweint, als Winnetou (Pierre Brice) erschossen wurde. Und wir brauchen weniger frühreife Kinder, denn Kinder, die um die Opfer weinen. Nur der Film würde es bringen. Auch Fiktion. Ein Blick in das Gesicht von Meryl Streep, als sie sich in „Sophie’s Choice“ zwischen ihren Kindern entscheiden soll oder das Schicksal der kleinen Tochter Weiss, das auf echten Ereignissen aufgebaut ist, die Bauernschläue von Jakobowski gegenüber dem sturen normannischen Schrank, Licht und Schatten auf den Händen des Pianisten in Polanskis gleichnamigem Werk oder das große Können von Ben Kingsley als Stern in „Schindlers Liste“ brächten mehr als tausend Worte, Macht der Bilder, Macht auch der Musik. Worte, Anrede?: Papier ist geduldig.
        Sie müssen das nicht bringen, APo, es ist halb ot und lückenhaft.

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        Nein, nein, Oleander, das lese ich gern, und andere lesen es vielleicht auch gern.
        Neben vieler Zustimmung muss ich als eifriger Konsument von TV-Serien sagen, dass ich Ihrer kulturpessimistischen Sicht auf Hollywood nicht zustimme. Im Genre „Gangsterfilm“ haben Serien wie „The Sopranos“ Maßstäbe gesetzt. (Und dann später „The Wire, „Boardwalk Empire“, „True Detective, „Fargo“ und andere, die mir gerade nicht einfallen.) Im „herkömmlichen“ Film auch Tarantinos „Reservoir Dogs“ und „Pulp Fiction“, der originale „Fargo“-Film von den Coen Brothers (die übrigens wunderbare Filme mit „jüdischen“ Themen gemacht haben, zum Beispiel „A Serious Man“) usw. usw.
        Wir alle neigen dazu, unsere Jugend zu verklären, aber ich sträube mich dagegen, und habe noch im Ohr, wie mein Vater (Jahrgang ’04) sagte: „Die goldenen 20er Jahre? Vom Gold habe ich jedenfalls nichts mitbekommen.“ Allerdings war er der Meinung, vor 1914 sei die Welt in Ordnung gewesen.
        Weites, allzu weites Feld.

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        „The Sopranos“, absolut. Es gibt immer noch Großartiges. Ich rechne auch „Benjamin Button“ dazu, die großartige Farbige, die ihn aufzog, hat mein Herz noch mehr gerührt als „Mammy“ (Hattie McDaniel), die dafür den ersten Oscar für eine Farbige bekam. In „The Irishman“ sehen wir De Niro als Hoffa und Al Pacino in einem Film. Der letzte dieser Art war Heat, großartig, an sich nicht bekannt genug. Das Interessante an dem Werk ist, wie sich der LAPD-Chef, Vincent Hanna (Pacino), und der Gangsterboss (De Niro) gegenseitig Respekt bezeugen. „You do, what you do best, and I do what I do best“. Und klar ist bei der Kaffeeszene, dass einer fallen wird. Ich war für Pacino, weil De Niro die bessere Frau hatte.
        Wenn man „The Godfather“ sieht, hat man eine Zeitlang die Musik im Ohr. Ich werde dann traurig. Es ist, inkl Part III, eine todtraurige Familiengeschichte, die von Gescheiterten berichtet. And they did what they thought they had to do and did best. Die connections in die Politik und in den Vatikan sind m.E. das wirkliche Problem. Erst als Borsallino und Giovanni Falcone (plus Frau) ermordet wurden, setzte man Toto Riina, den echten Paten von Sizilien, endlich fest. Tja. Coppola ist ein Genie.

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    Es dürfte kein Geheimnis sein, dass Corbyn und seine Denkschule Israel nie wirklich anerkannt haben. In diesen Kreisen stehen die arabischen Palästinenser stellvertretend für alle Opfer von Imperialismus, Kapitalismus und so ziemlich allem, was in den letzten Jahrhunderten schiefgelaufen ist (oder sein soll) und der Staat Israel ist ein Produkt dieser Fehlentwicklungen. Für sie ist Antisemitismus eine Untergruppe des Rassismus und das immunisiert vor Kritik: Solange es überhaupt Rassismus in der Gesellschaft gibt (und den gibt es – Torys sei Dank – mehr denn je) dienen spezifische Vorwürfe an Labour nur dazu, linke Positionen zu deskreditieren. Das mag auch nicht ganz falsch sein, der Kampf zwischen Blairiten und Corbynistas wird bei Labour erbittert geführt. Wie sehr Corbyn schon vor Jahren auf Autopilot geschaltet hat, kann man hier nachlesen: https://www.theguardian.com/commentisfree/2019/may/01/jeremy-corbyn-blind-antisemitism-hobson
    Der verlinkte Artikel von Finkelstein ist hinter einer Bezahlschranke. Die Corbynistas produzieren zwar Analysen am Fließband, kommen aber seit Jahrzehnten immer nur zu einem Ergebnis, nämlich dass der einzige Feind der Menschheit der Imperialismus des Westens ist und alles andere, wirklich alles andere, nur sein Produkt ist. Somit ist jeder, wirklich jeder, der sich gegen diesen Imperialismus stellt, automatisch ein Sympathieträger. Seien es die Hisbollah, Maduro oder Putin. Wer Handke für einen Milosevic-Fan hält, kann gerne mal bei Labour nachschauen, da hält Handke noch kritische Distanz (ich muss es nochmal loswerden – Handke ist einfach ein Arschloch). Warum die Linke regelmäßig auf der falschen Seite der Geschichte zusammen mit Mördern stand, wurde in diesen Kreisen nie beantwortet, weil die Frage nie gestellt wurde.
    Wer tatsächlich glaubt, dass hinter Corbyns „heal the country“ ein Ausgleich steht, ist schief gewickelt. Corbyn lässt nirgends erkennen, dass er zu einem Ausgleich willens wäre und gerade darum halte ich ihn für das kleinere Übel, er wird nicht lange Premier bleiben. Eine Zusammenarbeit aller gesellschaftlicher Gruppen wird auch Labour wichtiger sein als eine Debatte um die Hisbollah. Mehr hat Corbyn aber nicht drauf, die Basis wendet sich gerade gegen ihn. So wenig die Torys ohne ihn gerade Oberwasser hätten, so wenig ist ein Corbyn ohne den Rechtsruck der Torys denkbar, die Neuwahl hat die Reihen hinter ihm geschlossen. Die Frage für den britischen Wähler lautet zurzeit, wer den geringeren Schaden anrichten wird. Und das ist keine schöne Wahl.

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      Hinzu kommt, dass Briten die eigene Unterschicht mehr verachten als beispielsweise die Palästinenser, die ihnen geeignet erscheinen zum Bemuttern. Die eigene Unterschicht, beim Snooker oder beim Fußball anzutreffen und voll durchtätowiert, ist nichts für die akademisch geprägte Linke, den Intellektuellen. Die Saufgelage, die zu mancher handfesten Auseinandersetzung im oder vor dem Pub führen, tun das Ihre dazu. Daher wählt die weiße Unterschicht („white trash“) inzwischen UKIP, und das ist kein Wunder. Wer die eigene Unterschicht vergisst, bekommt Rechte. Und Rechte wie Linke haben eine Gemeinsamkeit: Antisemitismus. Schließlich braucht man ein Feindbild, und Israel ist praktisch: Relativ weit weg und nicht vollkommen unschuldig, was Palis betrifft. Außerdem: No retaliation. „Inglorious Bastards“ ist nur eine schöne Phantasie. Der Westen wird in Ruhe gelassen, so lange er nur dummes Zeug labert. Das Hofieren des Iran allerdings wird kritischer gesehen. Mr. Straw, socialist? Idiot.

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        Wobei auch deutsche Intellektuelle sich über die eigene Unterschicht schämen, wenn sie sich mal nach Malle oder an die türkische Riviera verirren. Übrigens nicht ganz zu Unrecht. „Schöne Maid“ plus Sangria plus „Komm her, Signora, kriegst’n warmen Einlauf!“ kann ein wenig abtörnend rüberkommen.

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    Rees-Mogg hat sich für seine Bemerkung – ‚I think if either of us were in a fire, whatever the fire brigade said, we would leave the burning building. It just seems the common-sense thing to do.‘ – vorbehaltlos entschuldigt.

    … diese Bemerkung von Rees-Mogg, kann, wer will, auch bewusst missverstanden werden. Ich sehe in der impulsiven Bemerkung eher seine Hilflosigkeit Geschehenes nicht rückgängig machen zu können. Ich meine das ist menschlich.

    Im Übrigen hat Rees-Mogg sich sein Vermögen selber erarbeitet.

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      Ich habe geschrieben, dass er sich entschuldigt hat.
      Was das selbst erarbeitete Vermögen angeht: Rees-Moggs Eltern waren steinreich und besaßen einen Landsitz. Und Rees-Mogg wurde als Manager eines Hedge-Funds noch reicher. Man kann das Anlegen des Geldes anderer Leute als „Arbeit“ bezeichnen; mir scheint das eine Überstrapazierung des Begriffs. Sein Katholizismus hindert Rees-Mogg nicht daran, seine Firma, von der er auch als Abgeordneter Geld erhält, in den Cayman-Inseln anzumelden, wo sie keine Steuern zahlt. So viel zur Moral. Der Mann verachtet die einfachen Menschen, aber einige – Sie sind ein gutes Beispiel dafür – danken ihm die Verachtung mit unkritischer Liebe. Das sind vermutlich die „autoritätshörigen Menschen“, die auch den Anweisungen von Polizei und Feuerwehr folgen, wofür Rees-Mogg zu intelligent ist.

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        … das er seine Firma auf den Cayman Inseln angemeldet hat ist legal. Übrigens, ich käme nie auf den Gedanken anderen ihr legal erworbenes Vermögen vorzuhalten.

        Und ausgerechnet mir, mit ‚meinen‘ 0,5 Metern Stasi-Akten, vorhalten, ich sei autoritätshörig, ausgenommen ‚ganz oben‘ – muhahaha!

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        Klar ist das legal. Aber moralisch ist das nicht. Den Unterschied kennen Sie als Katholik doch sehr gut.

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        … unmoralisch ist die Steuergesetzgebung, insbesondere die Veruntreuung ‚anvertrauter‘ Steuergelder; etwa für die Finanzierung chinesischer oder indischer Atombomben durch die Ex, derweil in Deutschland Schulen, Krankenhäuser, Straßen, usw., verrotten.

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    In England gibt es Demokratie, vernünftige, patriotische Politiker, freie Medien und Kultur.
    Das alles gibt es im Merkel-Reich nicht.
    Die großen Probleme in England haben sie allerdings verschwiegen, Herr Posener, nämlich falsche Zuwanderung, Islamisierung, Messermorde und Vergewaltigung weißer Mädchen. Die Folge sind unter anderem die sog. „ethnische Wahl“, welche die englische Demokratie bedroht. Die richtigen Ur-Engländer haben übrigens viel stärker für den Brexit gestimmt, als der knappe Ausgang vermuten lässt. Da hat die ethnische Wahl der Zuwanderer sich schon ausgewirkt. Wer mehr wissen will, kann sich bei Martin Sellner informieren.

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      Ja, lieber Herr Weller, wenn Sie Jeremy Corbyn für einen „patriotischen Politiker“, Jacob Rees-Mogg für „vernünftig“ halten, das Mehrheitswahlrecht und die Wahl des Premiers durch 250.000 Mitglieder der Konservativen Partei für demokratisch, die von Murdoch dominierte Presse für frei und Johnsons Vergleich des im Übrigen unsäglichen Labour-Programms mit Stalins Vernichtung der Kulaken für kultiviert, da kann man nichts machen.
      Die von Ihnen genannten Probleme gibt es alle, und ich habe sie nicht „verschwiegen“: sie waren nicht das Thema dieser kurzen Glosse. Was Sie da betreiben, nennt man „Whataboutism“.
      Was ein Ur-Engländer sein soll, weiß ich nicht genau, aber vielleicht können Sie mich an meinem eigenen Fall aufklären. Mein Großvater mütterlicherseits (Middleton) war Schotte aus Aberdeen. Meine Großmutter mütterlicherseits stammt von deutschen (von Dadelsen) und englischen (Booth) Geistlichen ab. Meine beiden Großeltern väterlicherseits (Oppenheim, Posener) waren deutsche Juden. Mein Onkel kämpfte 1914 – 18 in der deutschen Armee gegen Großbritannien, Mein Vater kämpfte 1940 – 45 in der britischen Armee gegen Hitlerdeutschland. Getauft bin ich als Anglikaner. Gelte ich in Ihren Augen als englisch genug? Deutsch genug? Jüdisch genug bin ich, um es vorwegzunehmen, den Juden natürlich nicht, nicht nur wegen der Taufe. Andererseits, zum „J“ im Pass hätte es vielleicht doch vor 80 Jahren bei den Deutschen gereicht. Dieses ganze identitäre Gerede ist schlicht und einfach Rassismus übelster und dümmster Sorte.

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        Ihr Onkel hat im ersten Weltkrieg für den Kaiser gekämpft, interessant.
        Zugegeben, das ist whataboutism, aber Sie sind sehr detailverliebt, ich mag mehr die grobe Linie. Ich meinte als Vorbilder natürlich nicht Corbyn, sondern Johnson und Farage, aber auch Raab, also jemand mit einer ähnlichen Geschichte wie Sie, seine Vorfahren haben wahrscheinlich auch für den Kaiser in den Gräben gekämpft. Und jetzt vertritt er die Interessen Englands gegen die böse EU. Was das identitäre Gerede angeht, da kann man sich Sellner und Lichtmesz ansehen, alles belegt, aber das würde jetzt zu weit führen.

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        Ja, sie mögen „die grobe Linie“. Das glaube ich gern. Überhaupt eher das Grobe. Der Teufel und die Wahrheit aber stecken im Detail.

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        Edit:
        Jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen, ich wollte Sie keinenfalls nötigen ihre Familiengeschichte aufzuzeigen, noch wollte ich mir ein Urteil darüber erlauben.
        Sie müssen ja selbst wissen, was Sie sind, deutscher Adel, jüdisches Großbürgertum, schottische Rotschöpfe, Anglikaner, eine bunte Mischung.
        Mein Urgroßvater hat übrigens im WK 1 ein Bein verloren, vielleicht hat ihr Onkel es gefunden (und verkauft), kleiner Scherz.
        Meine Vorfahren sind nie von der Scholle weggekommen, arme Kelten, von der Steinzeit bis zur Gegenwart. Aber dafür auch keine Identitätsprobleme.

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        „Mein Urgroßvater hat übrigens im WK 1 ein Bein verloren, vielleicht hat ihr Onkel es gefunden (und verkauft), kleiner Scherz.“ Jo. Man wird sich doch einen kleinen antisemitischen Scherz erlauben dürfen, gell. So unter uns Söhnen der deutschen Scholle.

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      Wem die handelsübliche Kritik an den Identitären zu sehr manipulativer rot/grün versiffter Mainstream ist, kann (manchmal sehr albern-unterhaltsame) Kritik aus Libertärer Sicht von Gunnar Kaiser hören, ist auf Youtube leicht zu finden. Der kommt zum gleichen Ergebnis.

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        Die Identitären können aber ihre Weltsicht mit Fakten belegen, z.B. die ethnische Wahl, Sellner nennt ja viele Beispiele aus England. Bei Gunnar Kaiser hab ich mal kurz reingeschaut, er kann nichts belegen, also zapp und weg.

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        Was die „ethnische Wahl“ angeht, so wird doch von niemandem bestritten, dass die multikulturellen Metropolen eher für die EU, die ländlicheren Gebiete (außer im Südosten) eher dagegen gestimmt haben. Die Schotten wiederum, die sich von den Engländern seit Hunderten von Jahren unterdrückt fühlen, stimmten mehrheitlich für die EU, so wie die für die Unabhängigkeit kämpfenden Katalanen (die ich ausdrücklich nicht unterstütze) gern in der EU verbleiben wollen. In Nordengland, wo die Industrie von Margaret Thatcher abgewickelt wurde, sind die Leute gegen die EU, die sie (zu Recht) für ein neoliberales Konstrukt halten, weil sie glauben, dass ein nationaler Sozialismus, wie ihn Labour verspricht ihnen ein besseres Leben bescheren würde. Das hat mit Ethnizität nur so viel zu tun, als diese Arbeiter gern auch die polnische Konkurrenz und die pakistanischen Ladenbesitzer los wären, auch deshalb, weil sie einen dauernden Vorwurf darstellen: Wir verbessern unser Los, ihr jammert der Vergangenheit hinterher.

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    Biss zur Höhe von 22 m darf Styropor auch in Deutschland zur Dämmung angebracht werden.
    (Z.B. https://www.deutschlandfunk.de/waermedaemmung-brandgefahr-durch-styropor.697.de.html?dram:article_id=390478)
    Für mich ist das aufgrund der Brandgefahr auch nicht nachvollziehbar, ebenso wie der Dämm- und Energiesparwahnsinn überhaupt – mit den schnell zu recherchierenden Nachteilen.
    (Davon mal abgesehen, braucht man auch nicht jedes Zimmer ständig zu beheizen.)
    Mit welchem Zynismus allerdings nach diesem Unglück in London argumentiert würde, ist allerdings widerlich und abstoßend und daß der gute alte Antisemitismus auf dem gleichen Feld der Verachtung des Lebens wächst, tatsächlich nicht weit hergeholt. Man erinnert sich an die 9/11-Verschwörungstheorien und die Häme deutscher sog. Intellektueller „Fliegende Architekturkritik“..

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      Danke für den Hinweis zu Styropor, lieber KJN. Ich fürchte, damit ist mein Haus (Baujahr 1999) auch gedämmt. Die Vögel fliegen in die Jalousiekästen hinein und höhlen sich Winternester in der Dämmung aus.

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        ..das ist auch ‚ein Kreuz‘ mit den Baustoffen. Ich würde es auch lassen, wie es ist wenn ich es selber bewohnen würde. Man passt ja auf. Es ist in der Vergangenheit an Baustoffen viel genehmigt und verwendet worden, ohne zu hinterfragen, was das auf längere Sicht bewirkt. Vor 100 Jahren gab es diese Baustoffe, Schäume usw. noch nicht und hinter den damals verwendeten Materialien jahrhundertelange Erfahrung. Eigenes, aber wichtiges Thema.

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      Wenn man sich vorstellt, was die Rechte Rasselbande noch so alles vorhat, wird einem warm ums Herz. Ich kenne UK nicht, kann deswegen auch nicht sagen, wie es früher war. Aber dieser rohe, kaltherzige Tribalismus (ein besserer Ausdruck fällt mir nicht ein) bedeutet das Ende von Gesellschaft, wie wir sie kennen. Dazu passt spiegelbildlich Corbyns politischer Autismus, dem der Antisemitismus im besten Fall ehrlich egal ist. Cool Britannia hat zurzeit ein Herz aus Stein. Und daraus sollten wir hier Schlüsse ziehen. Ob Söder oder Merz Kanzlerkandidaten wären, spielt eine Rolle.

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        Wie sagte einst die Eiserne Lady:
        „So etwas wie Gesellschaft gibt es nicht.“

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