Klappentexte sind immer problematisch. Selten kann man sich auf sie verlassen, wenn man wissen will, worum es in einem Buch geht. Aber sie verraten einiges darüber, welche Leser der Verlag ansprechen will und welche Erwartungen er bei ihnen vermutet. Deshalb lohnt es sich, den Klappentext von „Judas“, dem neuen Roman von Amos Oz, zu analysieren.
Wer seinen wunderbaren autobiografischen Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ gelesen hat, erkennt die lebensgeschichtlichen Wurzeln bestimmter bei Amos Oz – in einem alten Roman wie „Mein Michael“ ebenso wie in dem neuesten, „Judas“ – wiederkehrender Themen: die Schwäche von Männern und die Stärke von Frauen; das Leiden von Intellektuellen an ihrem Intellektuellendasein und ihre unerfüllbare Sehnsucht nach einem einfachen und starken Leben; die Art, wie Eltern ihre Kinder und Kinder ihre Eltern immer wieder enttäuschen; die messianischen Züge des Judentums, sowohl in seiner religiösen als auch in seiner weltlich-zionistischen Variante, und die selbstquälerische Frage, ob die Israelis diesem messianischen Anspruch gerecht werden.
Außer dem letzten sind diese Themen nicht spezifisch israelisch, aber die Romane sind immer durchtränkt von der Farbe, den Gerüchen, den Orten und Menschen, Diskussionen und politischen Ereignissen in Palästina und später Israel; je mehr man von Israel, seiner Geschichte und Kultur kennt, desto mehr hat man von ihnen. So ist es auch im neuen Roman, der im winterlichen Jerusalem des Jahres 1959 spielt. Im Mittelpunkt steht der Student Shmuel Asch, der sich wie sein großer Namensvetter Schalom Asch mit dem Verhältnis der Juden zu Jesus herumschlägt. Shmuel, der überdies schwärmerischer Sozialrevolutionär ist und Fidel Castro bewundert, ist einer jener schwachen, verträumten, lebensuntüchtigen und unzufriedenen Intellektuellen, in denen wir vielleicht etwas von Oz‘ Vater oder dem jungen Oz selbst wiedererkennen mögen, der so gern Muskeljude, am liebsten Traktorfahrer im Kibbuz, geworden wäre.
In einer Lebenskrise verdingt sich Shmuel als Gesellschafter eines ehemaligen Lehrers, Gerschon Wald. Dessen Sohn Micha ist im Krieg 1948 als Soldat den Arabern in die Hände gefallen und brutal ermordet worden. Mit Wald wohnt seine Schwiegertochter Atalja. Das Haus hat ihrem Vater Schealtiel Abrabanel gehört, der an eine Aussöhnung mit den Arabern geglaubt und darum, obwohl Zionist, die Staatgründung abgelehnt hat, weshalb er 1947 als Verräter aus der Zionistischen Weltorganisation und der Jewish Agency gestoßen worden war.
Shmuel verliebt sich in die viel ältere und verschlossene Atalja. Der Verlauf der Liebesgeschichte gibt dem Buch seine Struktur, das ansonsten eher mäandernd ist, wie Shmuels Gedanken. Seine Gespräche mit Wald drehen sich um Judas, den Verräter, und um Abrabanel, den Verräter. War Judas vielleicht gar kein Verräter, sondern im Gegenteil der Jünger, der Jesus am meisten liebte und der ihn gerade deshalb ans Kreuz lieferte? Der daran verzweifelte, dass Jesus nicht, wie er erwartet hatte, vom Kreuz stieg, und sich dadurch als Messias erwies, sondern starb – was paradoxerweise erst den Siegeszug des Christentums ermöglichte und des christlichen Antisemitismus, für den Judas, der Treue, als Sinnbild des Verräters und des Juden galt. So deutet Shmuel die Gestalt.
Und Abrabanel? Könnte er Recht gehabt haben mit seiner Einschätzung, dass der weltliche Zionismus David Ben Gurions, um gegen die arabischen Feinde zu bestehen, messianische Kräfte des Nationalismus und der Religion entfesselte, die ihn eines Tages verschlingen könnten? Könnte es sein, dass eines Tages sein Verrat in einem anderen Licht gesehen würde, wie Shmuel auch Judas anders sieht? Oder hätte er, wie Judas den geliebten Jesus, den Zionismus aus Liebe so sicher ans Messer geliefert, wie Wald mit seiner Betonung der Notwendigkeit des Kampfes um den Staat seinen eigenen Sohn, Ataljas Mann, den Vater seines nie geborenen Enkels, ans Messer seiner arabischen Mörder geliefert hat?
Die Gespräche drehen sich im Kreis. Die Vergangenheit ist nicht zu ändern, doch Wald, Shmuel und Atalja sind in ihr gefangen. Schließlich bricht Shmuel aus und auf: nach Süden, in den Negev, wo neue Städte und neue Menschen entstehen sollen. Doch unterwegs vergisst er, worum es ihm geht. Der Roman endet im Ungefähren.
Und das ist auch gut so. „Judas“ ähnelt darin dem bewussten oder unbewussten – wie ich Oz einschätze: dem bewussten – Vorbild, Thomas Manns „Zauberberg“. In dessen Mittelpunkt steht ebenfalls ein lebensuntüchtiger junger Mann, der sich unglücklich-glücklich verliebt; die Gespräche zwischen dem liberalen Träumer Settembrini und dem katholischen Pessimisten Naphta (auch er ein Verräter an seinem Jüdischsein und seinem gekreuzigten Vater) drehen sich ebenfalls im Kreis und vermögen am Ende nichts auszurichten gegen das Aufkommen des Irrationalismus und den Absturz in den Krieg. Romane sind, was sie auch sonst immer sein mögen, keine Pamphlete, keine Traktate, keine Manifeste, oder sollten es nicht sein; Schriftsteller sind keine Politiker, keine Ideologen, keine Lehrer, oder sollten es nicht sein.
Und nun der Klappentext von Suhrkamp: „Gemeinsam mit seinen Protagonisten prüft Oz mutig die Entscheidung, einen Judenstaat zu errichten, samt den Kriegen, die sie zur Folge hatte, und stellt die Frage, ob man einen anderen Weg hätte gehen können, den Weg derer, die als Verräter gelten.“
Daran ist ungefähr so viel falsch, wie man falsch machen kann, beginnend mit der Formulierung, Israel sei ein „Judenstaat“. Das war Israel nie; Israel ist ein jüdischer Staat, was ein Unterschied ist. Zwanzig Prozent der Bürger Israels sind Araber. Ob nun Oz und seine Protagonisten die Entscheidung, einen jüdischen Staat zu errichten, „prüfen“, mag dahingestellt sein. Sie reden davon, ja. Gewiss reden sie aber nicht davon, dass man „den Weg derer, die als Verräter gelten“, hätte gehen können. Denn es wird klar, dass Abrabanel mit seinem Traum eines gemeinsamen Staatswesens von Arabern und Juden in Palästina, vielleicht als Protektorat der USA oder der UN, völlig allein dastand. Er ist ja auch eine fiktionale Gestalt, eine Projektion aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Sein „Weg“ stand nie ernsthaft zur Debatte.
Dass aber die Gründung eines Judenstaats „Kriege zur Folge hatte“, ist eine unverzeihliche Geschichtsklitterung. Der Krieg von 1948 war eine Folge der Nichtanerkennung des UN-Teilungsbeschlusses durch die arabischen Staaten und ihres Versuchs, Israel zu vernichten. Ben Gurion und die zionistischen Organisationen hatten dem UN-Teilungsbeschluss – zwei Staaten, einen jüdischen und einen arabischen, verbunden durch eine Zoll- und Währungsunion, mit Jerusalem unter internationaler Verwaltung – zugestimmt. Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass die arabischen Staaten, die sich heute angeblich so stark machen für „Palästina“, damals die für den arabischen Staat vorgesehenen Gebiete einfach – in völliger Missachtung des UN-Beschlusses – annektierten. Sagen wir es so: Die Nichtexistenz eines jüdischen Staates hatte Massaker zur Folge, wie in Hebron 1929; nach der Gründung des jüdischen Staates mussten die Araber Krieg führen, wenn sie Juden massakrieren wollten. Ein Fortschritt.
Und schließlich jenes Adjektiv „mutig“. Welcher Mut, bitteschön, gehört in Israel dazu, die Gründungsgeschichte, sagen wir ruhig mit den Kritikern: die Gründungsmythen des Staates zu hinterfragen? „Revisionistische“ Historiker wie Tom Segev tun das seit Jahrzehnten. Welcher Mut gehört dazu, in Israel oder Europa die christliche Lesart des „Neuen Testaments“ in Frage zu stellen? Spätestens seit dem 19. Jahrhundert und dem „Leben Jesu“ von David Friedrich Strauß gehört biblische Textkritik zum Rüstzeug jedes Intellektuellen, der diese Bezeichnung verdient.
Mut bräuchten Schriftsteller in den muslimischen Ländern, wenn sie die Nichtanerkennung Israels durch ihre Regierungen kritisieren würden. Mut bräuchten sie, wenn sie den Koran anders interpretieren, als es die Religionsgelehrten tun: Wie man an Salman Rushdie gesehen hat, kann das ein Todesurteil zur Folge haben, selbst wenn sie im vermeintlich sicheren Ausland sitzen und Bürger eines westlichen Staates sind. An Jesus können wir heruminterpretieren, so viel wir wollen, wie an allen jüdischen Propheten vor ihm; von Mohammed lassen wir lieber die Finger, wenn uns das Leben lieb ist. Israel können Israelis und Westler kritisieren, so viel sie wollen; von der Türkei bis zum Iran, vom Irak über „Palästina“ bis Ägypten, Algerien und darüber hinaus ist das eher ein Geschäft, das Mut erfordert.
Und das ist der Punkt. Solange Israels Existenz nicht einmal anerkannt wird; solange kritische Journalisten im Gefängnis landen und Religionskritiker im Grab; solange es keine einzige demokratisch legitimierte und rechtsstaatlich handelnde Regierung im arabischen Raum gibt, mithin auch keinen arabischen Amos Oz; so lange wird es keinen dauerhaften Frieden zwischen den arabischen Staaten und dem jüdischen Staat geben. Es ehrt die Idealisten unter den Israelis, dass sie das Verhältnis zwischen Ursache und Wirkung andersherum sehen, oder dass sie lieber bereit sind, sich kreuzigen zu lassen, als Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Aber die Bergpredigt ist, wie Martin Luther schon feststellte, keine Anleitung fürs Regieren.
Die Unterstellung des deutschen Verlags aber, die Staatsgründung Israels, und nicht der Revanchismus der arabischen Führer, habe die Kriege von 1948ff. bedingt; die Unterstellung des deutschen Verlags, Kritik an Israel erfordere „Mut“ – mit diesen Unterstellungen bedient der Suhrkamp Verlag bewusst die Vorurteile seiner Leser, denen er Amos Oz nicht als Schriftsteller, sondern als „mutigen Israelkritiker“ verkaufen will. In der intellektuellen Landschaft der deutschen Republik (nicht der „Deutschenrepublik“), wo ein Günter Grass „mit letzter Tinte“ – tödliche Rache beschwörend – gegen deutsche U-Bootlieferungen an die bekanntlich kriegslüsternen Israelis hetzte, kommt das gut. Solche Werbung hat Amos Oz nicht verdient. Wer ihn so liest, versteht ihn nicht.
Ich glaube ohnehin nicht, dass Deutsche (Intellektuelle vor allem) Israeli verstehen, zumindest nicht in ihrer Emanzipation vom Ursprung, dem Staat auch als Hafen nach dem Krieg. Israeli und Israel werden alzu oft unterkomplex und eindimensional dargestellt, von links als bodengeile Zionisten, von konservativ (hier meistens von eigener Seite) als linke neurotische Spinner.
In Wirklichkeit handelt es sich um einen der wenigen demokratischen Staaten auf Erden, der mir durch eine Vielfalt an Meinungen und Parteien sehr komplex erscheint.
Ihn auf „Judenstaat“ zu reduzieren, verkennt einerseits Tatsachen und hat andererseits Geschmäckle, zumal ein Pendant der Bezeichnung auf der anderen Seite des Jordans, wo statt dessen „Judenreinheit“ ersehnt wird, tunlichst vermieden wird.
Die sich wiederholende Unterstellung, man dürfe Israel nicht kritisieren, scheint mir ein Bestandteil eines leichten unterbewussten Antisemitismus, sagen wir weniger einzelner Personen als der Gesellschaft insgesamt, zu sein. Sicherlich kann man Israel maßvoll kritisieren.
Die Tatsache, dass der erste Krieg von arabischer Seite geplant und schon gewonnen gewähnt war, weil die UN-Teilungserklärung nicht angenommen wurde, wird gern unterschlagen. Durch den Fokus auf die Staatsgründung in Kombination mit „Judenstaat“ macht man die Israeli zum Sündenbock. Und das in Deutschland! Schade.
Klappentext wer? Wie alt?
Sehr interessant. Vielen Dank.