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Atemberaubend, schockierend, erschütternd

Man hätte gedacht und gehofft, dass die luftschnappende Hyperbole mit dem Tod Frank Schirrmachers nach und nach aus dem Repertoire Frankfurter Allgemeiner FeuilletonistInnen verschwinden würde. Leider nicht.
In einem Text für die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ berichtet die Feuilletonistin Julia Encke von einem „atemberaubenden und schockierenden“ Text über die „deutschen Hauptstadtjournalisten“, den sie gerade gelesen hat.

Der fragliche Text ist ein Porträt Angela Merkels, geschrieben vom linksliberalen amerikanischen Journalisten George Packer, das in der aktuellen Ausgabe „New Yorker“ erschienen ist. Die „Hauptstadtjournalisten“ sind Bernd Ulrich von der „Zeit“, Stefan Reinecke von der „taz“, Dirk Kurbjuweit vom „Spiegel, der ehemalige FAZ.-Journalist Karl Feldmeyer und Alan Posener von der „Welt“. Mit ihnen nämlich hat Packer über Merkel gesprochen.
Was ist nun an den Enthüllungen über Ulrich, Reinicke, Kurbjuweit, Feldmeyer und Posener so „atemberaubend und schockierend“? Ist es die Tatsache, dass Packer von ihnen „so gut wie nichts Gutes über die Kanzlerin“ hörte? Nein. Es ist die von Packer mitgeteilte Tatsache, dass „fast jeder politische Reporter, mit dem ich gesprochen habe, Merkel gewählt“ habe. Dazu Encke: „Man liest das – und ist völlig schockiert. Wie kann das sein? Das ist doch die Kapitulation, wenn die hauptamtlichen und schärfsten Kritiker am Ende für Angela Merkel stimmen.“
Nun, erstens verwahre ich mich dagegen, als „hauptamtlichen“ Merkel-Kritiker kategorisiert zu werden. Ich bin „hauptamtlicher“ Journalist; und obwohl ich mich geschmeichelt fühle, wenn mich Encke zu den „schärfsten Kritikern“ Merkels  zählt, so erlaube ich mir als Journalist, Merkel auch zu loben, wenn sie etwas richtig macht. Dazu gleich mehr.
Schauen wir uns zunächst aber an, was die Kollegen und ich George Packer erzählt haben: „Sie sei keine Frau mit starken Gefühlen, sagte ihm Bernd Ulrich von der „Zeit“, Stefan Reinecke von der „taz“ meinte, dass, wer Angela Merkel eine halbe Stunde lang zuhöre, einschlafe. Der „Spiegel“-Journalist Dirk Kurbjuweit erklärte Packer, dass Merkel die deutsche Politik blutleer mache. Es gehe ihr nur um ihre „Machtfunktion, um mehr nicht“, sagte der ehemalige F.A.Z.-Journalist Karl Feldmeyer. Und Alan Posener von der „Welt“ erklärte, dass das, was ihrer Partei am Herzen liege, ihr nichts bedeute.“
Ulrich, Reinicke und Kurbjuweit erklären also, dass Merkel langweilig sei. Das ist noch keine inhaltliche Kritik, und bestimmt kein Grund, sie nicht zu wählen. Man könnte durchaus angesichts des Schadens, den charismatische Populisten wie Silvio Berlusconi oder Marine LePen, Viktor Orbán oder gar Wladimir Putin anstellen, die Langeweile als Vorzug betrachten. Feldmeyer behauptet, diese Langeweile sei Ergebnis eines Mangels an politischen Überzeugungen. Das ist als inhaltliche Kritik gemeint. Feldmeyer ist ein Konservativer, dem Merkels Pragmatismus nicht gefällt.
Posener hingegen lobt Merkel, weil sie sich von den kulturkonservativen Elementen ihrer Partei emanzipiert habe: Kind, Kirche, Küche bedeuten der kinderlosen Physikerin und Karrierefrau aus der DDR wenig. Der Kreuzzug gegen den Geist von 68, der die jungen Konterrevolutionäre aus der Jungen Union und die Aufsteiger des „Andenpakts“ beflügelte, und dem Kohl mit der „geistig-moralischen Wende“ zum Sieg zu verhelfen glaubte, gehört nicht zur intellektuell-moralischen Biographie der spätbürgerbewegten Ökologin aus dem Osten. Merkel ist eine pragmatische Politikerin der Mitte. Sie hat durchgesetzt, wovon die Grünen und Sozis an der Regierung nur träumen konnten: die Abschaffung der Wehrpflicht, den Ausstieg aus der Kernenergie, die Forcierung der erneuerbaren Energie, Frauenquoten in der Wirtschaft und Männerquoten bei der Kinderbetreuung, die Akzeptanz der Zuwanderung auch rechts der Mitte, den Mindestlohn, die Rente mit 67 UND die mit 63. Und deshalb habe ich sie gewählt.
Korrektur: auch deshalb. Und weil es keine attraktive Alternative gab. Ich könnte mir durchaus vorstellen, dass es einigen meiner Kollegen ähnlich ging.
Was ist daran „atemberaubend und schockierend“? Was ist daran gar eine „Kapitulation“? Wie kommt Frau Encke dazu, den „Hauptstadtjournalisten“, denen sie soeben bescheinigt hat, „die schärfsten Kritiker“ der Kanzlerin zu sein, in der Überschrift ihres Beitrags mehrfach zu unterstellen, sie seien „Die Journalisten der Kanzlerin“? Gleich zweimal wird diesen fünf Journalisten bescheinigt, sie seien „Ihre beste Truppe“ und, weil der FAZ-Leser vielleicht nicht weiß, wie die Kanzlerin heißt, noch einmal: „Merkels beste Truppe“.
Nun, ich kann verstehen, dass Kollegin Encke sauer ist, weil Packer nicht mit ihr gesprochen hat. Aber beruflicher Neid scheint nicht der entscheidende Punkt zu sein. Es ist folgender: Packer hat ihr auf Nachfrage am Telefon gesagt: „In den meisten westlichen Ländern, wie in den USA, ist es ja eher üblich, dass Journalisten links der Mitte wählen.“ Dass es in Deutschland angeblich nicht der Fall ist, das findet er „überraschend“, das findet Encke sogar „atemberaubend und schockierend“. Mehr noch: „Angela Merkel, sagt Packer, habe es geschafft, die CDU zu einer Partei der indifferenten Mitte zu machen. Und die Journalisten, ja die Deutschen insgesamt, seien ihr, getragen von Selbstzufriedenheit, dahin gefolgt. Das ist das erschütternde Fazit von George Packer.“
Dem man auch als Provinzjournalistin nicht folgen muss.  Dass die Deutschen „aus Selbstzufriedenheit“ nicht mehrheitlich AfD oder Linke gewählt haben, sondern die Parteien der „indifferenten Mitte“, also die grundsätzlich miteinander kompatiblen Christdemokraten, Sozialdemokraten oder Grüne, das ist eine ziemlich miese Unterstellung. Man könnte es – wenn man sieht, was in Europa sonst so los ist – als Zeichen der politischen Reife betrachten.
Was die Journalisten angeht, so gibt es zahlreiche Studien, die belegen, dass sie auch hierzulande mehrheitlich eher links empfinden; diese Studien werden immer angeführt, wenn Rechtspopulisten aus der Ecke der „Achse“, „PI“ usw. über die „gleichgeschalteten Mainstreammedien“ schimpfen, die einer multikulturellen Ökodiktatur das Wort reden und wie eine „Reichsschrifttumskammer“ Islamkritiker wie Thilo Sarrazin mundtot machen. In der Regel werde ich von diesen Leuten jener linken Journaille zugeschlagen.
Auch die Kollegen Ulrich, Seiffert und Kurbjuweit – und die Medien, für die sie arbeiten – sind nicht gerade für ihre rechtskonservativen Ansichten bekannt. Was Packer nicht berücksichtigt, ist die Tatsache, dass Merkels Politik – siehe oben – in den USA etwa als links gelten würde; auf jeden fall links der Politik, die Präsident Barack Obama betreibt. Es gibt Konservative, die Merkels Politik „erschütternd“, „schockierend“ und „atemberaubend“ finden; aber es ist weder erschütternd, noch schockierend oder gar atemberaubend, wenn Menschen, die als Journalisten in der Zeitung Merkel kritisieren (ich zum Beispiel habe, wie man weiß, wiederholt ihr Handeln in der Euro-Krise sehr scharf kritisiert, tat es übrigens auch gegenüber Packer), als Staatsbürger in der Wahlkabine zum Ergebnis kommen, Merkel sei, alles in allem, das kleinere Übel gegenüber der einzigen realistischen Alternative, Sigmar Gabriel.

Ich mag George Packer, Andrea Seibel und ich hatten im Juli ein sehr gutes Gespräch mit ihm. Anschließend führten wir ein Interview über sein Buch „The Unwinding“.
„Was er wohl demnächst über uns schreiben wird?“ fragen wir da. Nun wissen wir es.

Ach, und:

Packer ist enttäuscht über Barack Obama und hat ihn zweimal gewählt; er wird vermutlich Hillary Clinton wählen, obwohl er der Meinung ist, sie sollte sich das Präsidentenamt nicht antun. Wir machen uns wenige Illusionen über Angela Merkel, deshalb sind wir nicht enttäuscht. Vor allem aber: angesichts der Diagnose, die nicht nur Packer über die Lähmung und Vergiftung Amerikas durch die Polarisierung der großen Parteien stellt, scheint uns eine „indifferente Mitte“, zwar journalistisch langweilig, politisch aber ganz in Ordnung. Auch wenn diese Haltung der einen oder anderen Frankfurter Feuilltonistin nicht passt.

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79 Gedanken zu “Atemberaubend, schockierend, erschütternd;”

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    Ob diese ollen Kamellen heutige Politik beeinflussen sollten, wäre wohl zu diskutieren. Da sie es vielleicht schon tun, vielleicht auch nicht.

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    @Moritz Berger
    Das habe ich mir schon gedacht.

    Stalin, Hitler und Co. sind nur auch nicht wirklich „Jetztzeit“.

    Wenn sie sich den Grenzverlauf der Königlichen Republik Polen-Litauens ansehen, werden sie merken, dass das, wie gesagt, sehr gut zu dem des angedachten Novorossiya passt, wobei die Vermutung naheliegt, dass die ethnokulturelle Spaltung vielleicht weiter zurückreicht. Kulturelle Grenzen können sehr scharf sein. In der Nähe meines Wohnorts verläuft die Protestanten-Katholiken-Grenze. Dort fühlt man sich ob der Marien am Straßenrand plötzlich wie in Bayern.

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