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Europa oder Wolkenkuckucksheim

Wie wir wissen, macht der Ton die Musik. Das gilt auch für den Aufsatz von Dominik Geppert, Sönke Neitzel, Cora Stephan und Thomas Weber über den Ersten Weltkrieg und seine geschichtspolitische Deutung, der kürzlich in der „Welt“ erschien.  Hier ist er:

http://www.welt.de/print/die_welt/politik/article123489102/Der-Beginn-vieler-Schrecken.html 

Die zentralen Thesen des Essays lauten:

1. Die Behauptung einer deutschen Alleinschuld am Ersten Weltkrieg ist nicht haltbar.

2. Gegen diese Einsicht sperren sich nicht nur in Frankreich und Großbritannien aus nachvollziehbaren Gründen einige Leute, sondern auch in Deutschland: Und zwar aus einem typisch deutschen „Schuldstolz“ heraus.

3. Dieser deutsche Schuldstolz ist nicht nur als Haltung gegenüber der Geschichte falsch. Er verhindert auch die richtige Gestaltung der Zukunft in Europa. Aus diesem „Schuldstolz“ heraus wird nicht nur Wahrnehmung deutscher nationaler Interessen unter Generalverdacht gestellt, sondern die Wahrnehmung nationaler Interessen überhaupt. Die Europäische Union  wird als Antwort auf den europäischen Nationalismus gesehen. Doch die Vorstellung, die EU  sei primär dazu da, den Nationalismus zu überwinden, wird von keinem unserer EU-Partner geteilt; keiner von ihnen will „in einem übernationalen großen Ganzen aufgehen“.

4.  „EU oder Krieg ist die falsche Alternative und lässt sich auch nicht aus der Geschichte der Weltkriege ableiten.“

 

So weit die Thesen.

– Die erste These bildet den Mainstream-Konsens der Geschichtswissenschaft ab – nicht nur in Deutschland.

– Die zweite These ist eine Unterstellung. Aber als solche schwer zu widerlegen.

– Was die dritte These angeht, so wissen diejenigen, die meine Beiträge regelmäßig lesen, dass ich zwar den Nationalismus für ein Unglück, die Überwindung des Nationalstaats jedoch für eine Illusion halte. Meine Bezeichnung der EU als „Imperium“ versucht, diesen Widerspruch aufzulösen und gründet auf der Einsicht, dass die EU nicht – jedenfalls nicht in nächster Zukunft – als Superstaat die Nationalstaaten ablösen wird. Freilich würde ich unterstellen, dass diese Einsicht mittlerweile auch in Deutschland Mainstream ist. Außer der FDP hat bei der letzten Bundestagswahl keine Partei die „Vereinigten Staaten von Europa“ als Ziel im Wahlprogramm gehabt, und was mit der FDP passiert ist, haben wir gesehen.

– Die vierte These ist  falsch. Klammern wir sie aber zunächst aus.

 

In den ersten drei Thesen findet man auf den ersten Blick nichts, über das man sich aufregen sollte. Und dennoch scheint mir hier irgendetwas nicht zu stimmen; es ist eben der Ton des Aufsatzes, der stört. Deshalb versteht man die folgenden Äußerungen nur, wenn man den Essay gelesen hat.

 

 Das beginnt mit der Behauptung: „Deutschland tut sich schwer mit dem öffentlichen Gedenken an den Beginn des Ersten Weltkriegs.“ Da die öffentlichen Gedenkveranstaltungen erst im Juli und August 2014 fällig sind, scheint die Unterstellung unbegründet, um das Mindeste zu sagen.

Warum also dieser Gestus der Kritik am „öffentlichen Gedenken“? Begründet wird die angebliche Gedenkschwierigkeit mit der „verbreiteten Weltsicht“, Deutschland habe „nicht nur den zweiten, sondern auch den ersten der beiden Weltkriege angezettelt.“

Wenn dem so wäre, wenn diese „Weltsicht“ wirklich nicht nur „verbreitet“, sondern vorherrschend wäre, so müsste sich gerade Deutschland mit dem öffentlichen Gedenken nicht schwer tun. Schließlich absolvieren wir inzwischen die Gedenkrituale für „den zweiten der beiden Weltkriege“ mit bemerkenswert routinierter Betroffenheit, trotz Martin Walser.

 

Wie verbreitet ist aber diese „Weltsicht“ in Deutschland? Fritz Fischers 1961 aufgestellte These vom deutschen „Griff nach der Weltmacht“ als Hauptursache des Ersten Weltkriegs wurde damals nicht nur von der Mehrheit der Historiker, sondern auch von führenden Politikern der Bundesrepublik einschließlich des Bundeskanzlers geradezu wütend zurückgewiesen. Damals galt es als ausgemachte Sache, und so habe ich es auf einem deutschen Gymnasium gelernt und 1969 im Abitur wiedergegeben, dass alle imperialistischen Mächte in den Ersten Weltkrieg „hineingeschlittert“ waren und dass der Vertrag von Versailles eine Schande gewesen sei, die mehr oder weniger direkt zu Hitler und dem Zweiten Weltkrieg geführt habe.

Zwischen den deutschen Kriegszielen im Ersten und im Zweiten Weltkrieg wurde keine Verbindung gezogen; Fischer hingegen betonte deren Kontinuität. Im Grunde genommen wurde mit Fischers Thesen eben die implizit darin enthaltene Unterstellung bekämpft, das deutsche Militär sei nicht von Hitler einfach überwältigt worden, sondern habe 1939ff. nicht nur die Schande von Versailles rückgängig machen, sondern die Kriegsziele von 1914 realisieren wollen. Das war 1959, als auch im Hinblick auf Hitlers Krieg die These von der „sauberen Wehrmacht“ in Deutschland Konsens war, eine ungeheuere Provokation.

Seitdem freilich ist Fischer rehabilitiert worden. Nicht aufgrund eines unterstellten deutschen „Sündenstolzes“, um auf die zweite These Bezug zu nehmen, sondern weil die Quellenlage kaum eine andere Interpretation zulässt als jene, die Heinrich August Winkler 2007 resümierte: „Das Ziel, mit dem die deutschen Eliten in den Ersten Weltkrieg gezogen waren, hieß Hegemonie in Europa und Aufstieg zur Weltmacht. Am Ende stand ein Friedensvertrag, den die Deutschen als schreiendes Unrecht empfanden, obwohl er das Reich bestehen ließ und ihm die Möglichkeit einräumte, wieder zur Großmacht zu werden. Eine selbstkritische Auseinandersetzung mit der deutschen Kriegsschuld fand nicht statt, obschon bereits im April 1919 eine interne Aktensammlung vorlag, die keinen Zweifel daran ließ, dass die Reichsleitung im Juli 1914 alles getan hatte, die internationale Krise zu verschärfen. In Abwehr der alliierten These, Deutschland und seine Verbündeten trügen die alleinige Verantwortung für den Kriegsausbruch, entstand eine Kriegsunschuldlegende, die ebenso viel Unheil stiftete wie ihre Zwillingsschwester die Dolchstoßlegende.“

Man beachte: Winkler redet nicht von einer deutschen Alleinschuld; sie bezeichnet er als „alliierte These“; aber er hält die deutsche „Kriegsunschuldlegende“ für falsch und gefährlich. Übrigens sprach auch Fischer nicht von einer deutschen Alleinschuld, sondern nur von der „erheblichen Teil der Verantwortung“ am Kriegsausbruch, den die Reichsführung trage. Auch der Historiker Christopher Clark, der mit seinem neuen Buch „Die Schlafwandler“ von heutigen Geschichtsrevisionisten – einschließlich der Autoren des „Welt“-Essays – als Kronzeugen wider die deutsche Kriegsschuld zitiert wird, weil er den Kriegsausbruch als vermeidbare „Tragödie“ bezeichnet und die unheilvolle Rolle der anderen imperialistischen Mächte betont, räumt ein: „Wenn man dies anerkennt, so heißt das keineswegs, dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten, die zu Recht die Aufmerksamkeit Fritz Fischers und seiner historischen Schule auf sich zog.“

Wie soll man es vor dem Hintergrund dieser klaren Aussage Clarks beurteilen, wenn Geppert, Neitzel, Stephan und Weber behaupten, die deutsche Führung habe lediglich „das defensive Ziel“ verfolgt, die Stellung des Deutschen Reichs unter Bismarck wiederherzustellen? Als eigentlicher Schurke in der Tragödie erscheint bei ihnen vielmehr das perfide Albion: „Erst der britische Kriegseintritt machte aus dem Ursprungskonflikt ein globales Desaster.“

Das ist Unsinn, und Christopher Clark wäre der erste, der einen solchen Unsinn zurückweisen würde. Ohne den britischen Kriegseintritt hätten Deutschland, Österreich-Ungarn und das Osmanische Reich wohl den Krieg gegen Frankreich und Russland gewonnen. Sehr viel mehr lässt sich aber dazu nicht sagen. Die Verwirklichung der bekannten deutschen Kriegsziele (darunter Annexionen im Westen, die Übernahme der französischen Kolonien in Afrika und die Errichtung eines Ost-Imperiums auf dem Gebiet des heutigen Polen und der Ukraine, aus dem gezielt Polen und Juden zu vertreiben waren) mögen den Autoren nicht als „Desaster“ erscheinen, aber das ist doch sehr Ansichtssache.

 

Über diese Interpretationen der Geschichte müsste man 100 Jahre später diskutieren können, ohne Rekurs auf völkerpsychologische Unterstellungen wie etwa den angeblichen deutschen „Sündenstolz“, der Historikern wie Fischer, Winkler, Wehler oder gar Hillgruber die Feder führe. Doch Geppert und Co. ergänzen das Ressentiment gegen deutsche Historiker durch Ressentiments gegen ungenannte „Nachbarn“, bei denen die Behauptung jener Historiker  – ich hatte beinahe gesagt: Vaterlandsverräter –  von deutscher Verantwortung am Ersten Weltkrieg „sich zum Diktum verdichtet, mit seiner Euro-Politik drohe Deutschland den Kontinent ein drittes Mal zu ruinieren.“

Was soll das nun? Weil manche Leute meinen, Deutschland sei vielleicht doch nicht ganz unschuldig am Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen, vom Zweiten ganz zu schweigen, kritisieren sie die Euro-Politik Angela Merkels?

Häh?

Man kann sehr wohl der Ansicht sein, es sei nicht klug, in eine Krise hinein zu sparen, ohne irgendeine Meinung zum Ersten Weltkrieg und zur Frage der deutschen Schuld daran zu haben. Die Verknüpfung beider Fragen ist unsinnig und schürt nur Ressentiments.

Freilich steht den meisten „europäischen Nachbarn“, wenn sie sich gegen ein als unfair empfundenes deutsches „Diktat“ in Sachen Sparpolitik wehren, weniger der Erste als vielmehr der Zweite Weltkrieg vor Augen. Wenn aber die Erfahrung damaliger deutscher Aggression, Besatzung und Ausplünderung in Verbindung gebracht wird mit den Auswirkungen der von Deutschland verlangten Austeritätspolitik heute, so ist das demagogisch, und das weiß eigentlich jeder. Dazu braucht es keiner Revidierung der Geschichtsschreibung.

„Manche unserer europäischen Nachbarn“ freilich – und nicht nur die – würden es durchaus als bedrohlich empfinden, würde sich in Deutschland die Ansicht durchsetzen, die Herstellung „einer begrenzten Hegemonie auf dem europäischen Kontinent“ durch Deutschland sei als „defensives Ziel“ zu charakterisieren, wie es Geppert und Co. tun.

 

Wie sieht es nun bei den Nachbarn tatsächlich aus?

Sicherlich würden „viele in England und Frankreich gern an der Schwarz-Weiß-Version eines ‚gerechten Krieges’ festhalten, in dem Liberalismus gegen Militarismus, Demokratie gegen Autokratie und nationale Selbstbestimmung gegen Fremdherrschaft standen“. Und ebenso sicher ist es, dass die „Schwarz-Weiß-Version“ geschichtlicher Ereignisse selten stimmt. Aber wie viele halten an ihr fest? In Großbritannien sind es so viele nicht. Bereits während des Ersten Weltkriegs wandte sich etwa der Dichter des Imperialismus Rudyard Kipling nach dem Tod seines Sohnes an der Front mit einem selbstkritischen Gedicht an die Öffentlichkeit: „Wenn ihr fragt, warum wir gestorben sind: / Weil unsere Väter gelogen haben.“ In den 1930er Jahren galt es unter britischen und amerikanischen Intellektuellen als ausgemachte Sache, dass der „Große Krieg“ ein schmutziger Krieg gewesen sei, der für die Profite der Waffenindustrie und deren Geldgeber in den Banken geführt worden sei; das erklärt zu einem großen Teil die Popularität der Appeasement-Politik gegen Hitler.

Noch heute sind Historiker wie etwa Gary Sheffield, der meint, Großbritannien habe 1914 „einen Krieg gegen die Aggression“ geführt, eher in der Minderheit. Es ist kein Zufall, dass Professor Sheffield an der relativ unbedeutenden Universität Wolverhampton lehrt, während sein intellektueller Gegner Sir Richard Evans eine Professur – und die Leitung eines College – in Cambridge innehat. „Wie kann man behaupten, dass Großbritannien für die Demokratie und für liberale Werte kämpfte, wenn unser Hauptverbündeter das zaristische Russland war?“ fragt Sir Richard rhetorisch – und weist darauf hin, dass unter den kämpfenden Soldaten auf deutscher Seite mehr Leute das Wahlrecht hatten als auf britischer Seite. Das sind schlagende Argumente.

Ist es aber wirklich ein Zufall, dass Großbritannien, Frankreich und die USA im Ersten, im Zweiten und im Kalten Krieg zusammenstanden? Ist es wirklich ein Zufall, dass die ungeheure Brutalität des Ersten Weltkriegs in Deutschland und Italien, nicht aber in Frankreich, Großbritannien oder den USA faschistische Massenbewegungen gebaren, die sich unter großem Jubel der Bevölkerung an die Macht bringen konnten?

Ist es wirklich ein Zufall, dass die so genannte „Five Eyes“-Geheimdienstkooperation die „Anglosphäre“ umfasst, also die USA einerseits, Großbritannien und seine früheren „Dominions“ Kanada, Australien und Neuseeland andererseits, die in allen diesen Kriegen auf der selben Seite standen? Und was bedeutet es, wenn mitten in die durch das Bekanntwerden dieser Kooperation ausgelöste Irritation deutsche Historiker und Publizisten den deutschen „negativen Exzeptionalismus“ im 20. Jahrhundert schlichtweg für eine Erfindung des deutschen „Sündenstolzes“ erklären?

 

Überhaupt ist es merkwürdig, dass die Autoren nur Deutschland im Auge haben. Waren doch die wirklichen Verlierer des Ersten Weltkriegs Russland, das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn. Diese Imperien wurden im Namen einer fiktiven „nationalen Selbstbestimmung“, die weder Großbritannien noch Frankreich den eigenen Kolonien (oder die USA den Südstaaten) gewähren wollten, zerschlagen und zergliedert. Mit der russischen Despotie mag man wenig Sympathie haben; mit den für den Völkermord an den Armeniern verantwortlichen Osmanen auch nicht; aber mit Österreich-Ungarn verschwand ein bemerkenswert liberales, übernationales, zivilisierendes und stabilisierendes Element aus Mitteleuropa. Wenn die Europäische Union in der Geschichte ein Vorbild sucht, dann könnte es dieser sanfte Riese sein.

Die Vorstellung einer Europäischen Wirtschaftsunion  jedenfalls entstand nicht als Antwort auf die Julikrise 1914, wie auch immer man die Schuld an dieser Tragödie verteilen mag, sondern als Reaktion auf das Versagen der Alliierten in Versailles 1918 und das Zerschlagen der Imperien, insbesondere Österreich-Ungarns. Es war auch kein Deutschenfresser, sondern der mit dem besiegten Deutschland sympathisierende John Maynard Keynes, der 1919 in seinem Welt-Bestseller „The Economic Conequences of the Peace“ die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Vereinigung Mitteleuropas betonte.

Keynes hatte aus Protest gegen den in Versailles diktierten „karthagischen Frieden“ seinen Posten im britischen Finanzministerium aufgegeben. Seiner Meinung nach hätte man, statt Deutschland und Österreich Reparationen aufzuerlegen, die sie durch Inflation real zu reduzieren suchten, ihnen beim Wiederaufbau helfen sollen.

Wichtiger aber war seine Kritik an der vom US-Präsidenten Woodrow Wilson verkündete Doktrin der „nationalen Selbstbestimmung“. Keynes schrieb (meine Übersetzung): „Das Wilson’sche Dogma erhebt die Gegensätze von Rasse und Nationalität zu höherer Würde als die Verbindungen von Kultur und Handel und garantiert Grenzen, aber kein Glück.“ Die Ersetzung einiger weniger Imperien durch an die zwanzig „habgierige, eifersüchtige, unreife und wirtschaftlich unselbständige Nationalstaaten“,die Errichtung von Zollbarrieren und die Zerstörung transnationaler Verbindungen würden die Wirtschaft Europas weiter zerstören und den Nationalismus weiter befördern. Als Abhilfe schlug Keynes einen europäischen Freihandelsverband vor, dessen Mitgliedschaft zumindest für die Verlierermächte des Krieges oder vielmehr deren Nachfolgestaaten, von Deutschland bis zur Türkei (!), zunächst verbindlich sein sollte. Eine Vorläuferorganisation der EU also als Nachfolgeorganisation der untergegangenen europäischen Reiche, und mit der gleichen Funktion – der Bändigung des europäischen Nationalismus durch wirtschaftliche Verflechtung.

Keynes hat erwartet, dass seine Vorschläge nicht beachtet würden; die Folge, so warnte er, werde ein langer europäischer Bürgerkrieg sein, der  „die Zivilisation und den Fortschritt unserer Generation zerstören wird.“ So kam es auch. Und deshalb wurden seine Vorschläge nach 1945 eher beachtet, jedenfalls im Westen: Statt Reparationen gab es den Marshallplan; und statt auf die Zersplitterung Europas setzten die Westmächte auf deren wirtschaftliche und politische Union, auf dass Europa, wie Präsident John F. Kennedy 1963 in der Frankfurter Paulskirche sagte, „eine Weltmacht“ werde, die zusammen mit den USA imstande wäre, „die Weltprobleme als vollgültiger und gleichberechtigter Partner anzupacken“.

 

Kennedys Worte wären die wichtigste Erwiderung auf These vier. War die europäische Einigung die 1945 nachgeholte Lehre der Westmächte – und nicht etwa der unter „Sündenstolz“ leidenden Deutschen – aus dem Debakel von 1918, so liegt ihre heutige Bedeutung als Friedensmacht in ihrer Wirkung primär nach außen in Vertretung der Werte und Interessen des Westens in einer multipolaren Welt, in der diese Werte nicht selbstverständlich und diese Interessen gefährdet sind. Je schwächer der Westen ist, desto wahrscheinlicher sind Aggressionen und Kriege, die gegen dessen Interessen und Werte gerichtet sind.

Verzichtet Europa jedoch nicht nur auf die von Kennedy skizzierte weltpolitische Rolle, sondern gar auf die in Maastricht beschlossene politische Union selbst, wie es anscheinend die Autoren des Essays wollen oder zumindest hinzunehmen bereit sind, da angeblich „EU oder Krieg eine falsche Alternative“ sei, kann der Krieg schneller nach Europa zurückkehren, als es sich die realpolitische Schulweisheit träumen lässt.

Denjenigen, die ernsthaft glauben, die Frage der politischen Einigung des Kontinents sei für die Frage des Friedens auf dem Kontinent irrelevant, sei eine Lektüre empfohlen, die – wie Keynes – nichts mit deutschem Sündenstolz zu tun hat, und schon gar nichts mit dem Ersten Weltkrieg, weil sie nämlich über 100 Jahre vor jener Katastrophe und nicht einmal in Europa entstand. Ich meine die „Federalist Papers“ von Alexander Hamilton, James Madison und John Jay. Es reichen die ersten sechs Briefe. Einigten sich die amerikanischen Staaten nicht auf eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, so die Föderalisten, könnten Gegensätze zwischen den Staaten schnell zu kriegerischen Auseinandersetzungen auswachsen. Schlimmer noch: Äußere Mächte würden die Interessengegensätze und wirtschaftlichen Ungleichgewichte zwischen den Einzelstaaten ausnutzen, kriegerische Auseinandersetzungen provozieren und am Leben halten und so nach und nach den im Unabhängigkeitskrieg geschaffenen Raum des Rechts, der Sicherheit, der Freiheit und des Wohlstands untergraben und zerstören.

Wer glaubt, so etwas hätte zwar damals in Amerika passieren können, könne heute zwar in Georgien und Moldawien, auf dem Balkan und im Kaukasus, in Afrika und im Nahen Osten, also überall in unserer Nachbarschaft, aber nicht bei uns passieren, lebt nicht in Europa, sondern auf dem Kontinent Wolkenkuckucksheim. Der Ton, der mich so verstört, ist der Ruf des Kuckucks – der bekanntlich die Verantwortung für seine eigene Brut nicht übernimmt.

 

 

 

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73 Gedanken zu “Europa oder Wolkenkuckucksheim;”

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    @ Alan Posener
    Sind Sie sich da so sicher, dass Broder das genauso denkt? Broder ist das größte Chamäleon auf dem ganzen Planeten. Hat er sich dazu geäußert? M.E. ist von seinen Identitäten die isländische die privateste und die amerikanische die intensivste, die polnische nicht sichtbar, die deutsche nicht ausdefiniert (wird auch nie) und die israelische die natürlichste. Wenn Broder sich dazu nicht äußert, wissen Sie doch nicht, wie er darüber denkt. Wenn er heute mal in einigen Sachen, die die EU so macht, common sense bringt, dann doch nur, weil das mal einer in Deutschland machen muss. Und das können nur Juden. Jedem Anderen wird ein Maulkorb verpasst. In anderen Ländern ist das anders. Da ist viel mehr Diskussion. Das Thema, das ich meine, ist in aller Munde, weil es einfach mal zu viel wird. Vielleicht wollen Sie ja, dass er sich äußert.

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    http://en.wikipedia.org/wiki/H.....a_Genocide
    http://en.wikipedia.org/wiki/E.....by_Germany

    One book Bryan read at this time convinced him that Darwinism emphasizing the struggle of races had undermined morality in Germany. Bryan was heavily influenced by Vernon Kellogg’s ’s 1917 book, Headquarters Nights: A Record of Conversations and Experiences at the Headquarters of the German Army in Belgium and France, which asserted (on the basis of a conversation with a reserve officer he called „Professor von Flussen“) that German intellectuals were totally committed to might-makes-right due to „whole-hearted acceptance of the worst of Neo-Darwinism, the Allmacht of natural selection applied to human life and society and Kultur.“
    en.wikipedia.org/wiki/William_Jennings_Brya

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    @ Lyoner
    Ihr Reduktionismus ist unwichtig. Wichtiger finde ich die Fragestellung, ob der Autor des hochgelobten Buches befangen ist. Australier, Studium in Sydney und Berlin (FU), verheiratet, wenn ich das richtig sehe, mit einer Deutschen. Falls der Autor befangen ist, ist sein Blickwinkel verschoben. Auch bei berühmten Historikern muss man diese Frage stellen dürfen.
    Mark Bostridge, Autor von „The Fateful Year, England 1914“, denkt, original: „that the country was so distracted by its domestic woes that the outbreak of the First World War came as a terrible surprise.“

    @ Alan Posener: Lektüre für Sie?

    @ dbh
    Ich mag auch kein Big Government, Nanny Staat, Umverteilung hin zu sich selbst, was heute bei Linken so gängig ist. Aber Ihr Gebrüll über Sozialdemokraten ist ätzend und erinnert leider an solche Seelenlagen wie die von Anders Breivik.

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    @Lyoner

    Entschuldigen sie, dass ich dazwischen quake.

    Lyoner: „dass “äußere Mächte” die europäischen Einzelstaaten zu kriegerischen Auseinandersetzungen provozieren würden. Welche Mächte sind das, Russland oder die Schinesen oder die Umma, oder kommen die aus der “Anglosphäre”?“

    Ja, Russland. Dass die Russen zurzeit nur sehr mühsam einen Stich in Europa landen, ist der EU zu verdanken. Zypern, Bulgarien, Rumänien, Griechenland – die orthodoxe Peripherie, auf strategische Einsichten von einzelnen Außenministern europäischer Großstaaten angewiesen (zB Westerwelle), würde wegblättern, wie Blattgold auf einem alten Zwiebelturm. So schlecht die EU auch sein mag, so enttäuschend sie auch agiert, einen Krieg zwischen Ungarn und Rumänien kann nur sie verhindern. Und nur als EU. Katholisches Ungarn gegen orthodoxes Rumänien, das hat Potential ähnlich wie zwischen Kroaten und Serben. So lange Russland lieber ein Imperium als ein Staat ist, wird sich in der Bedrohungslage nichts ändern.

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    @ Lyoner
    Möglicherweise hilft es weiter, wenn Sie googeln:
    United States in World War I.
    Hier besonders interessant der Angriff auf die Lusitania und die Depesche an Mexico, die von den Briten abgefangen wurde. Ich hoffe, Sie kommen zu dem Schluss, dass die Mehrheit in den USA in diesen Krieg nicht hineingezogen werden wollte, federführend William Jennings Bryan. Meiner Ansicht nach wird das Ausmaß des Kriegswillens der Deutschen hier sehr gut sichtbar. Dann steht dort noch etwas Interessantes. Wenn Sie das nicht als Retour aufspießen, sind Sie nicht Sie selbst, so wie Sie sich hier darstellen.

  6. avatar

    Die Weltwoche: ‚Der Erste Weltkrieg war das Resultat eines umfassenden Versagens der politischen Eliten, die jenseits wirksamerKontrollen Entscheide trafen, die nicht sie selber, sondern vor allem Menschen ausbaden mussten, die mit dem Zustandekommen dieser Entscheidungen nichts zu tun hatten. Die wichtigste Lehre, die wir aus dem Unheil ziehen können, lautet deshalb: Politiker und ­politische Machthaber müssen jederzeit aufs Engste kontrolliert und gebändigt werden. Grösstmögliches Misstrauen gegenüber jeder politischen Macht ist die entscheidende Erkenntnis aus den Jahren 1914–1918.‘

    [sic!]

  7. avatar

    Zur Kriegsschuld. (Ich kann das nicht oft genug wiederholen.)

    Es gibt keine Partei in Deutschland die in direkter Verantwortung der letzten 100 Jahre so viel Unheil über unser Land gebracht hat wie die SPD, die Sozialfaschisten.

    Die Toten beider Weltkriege im letzten Jahrhundert, sind direkte Verantwortung deutscher ‚Soziaaaaldemokraaaaten‘ und deren Kriegspolitik.

    1.Weltkrieg:

    Zitat aus Zeit-Fragen, Zürich: ‚am 30. Juli 1914, publizierte die der SPD nahe stehende «Norddeutsche Volksstimme» aus Bremerhaven folgende Zeilen: «Es würde ein Verbrechen an der Menschheit sein, wenn das deutsche Volk Gut und Blut für diesen frivol heraufbeschworenen Krieg opfern sollte. Die Folgen wären unübersehbar. Ein Weltenbrand würde entfacht werden und die Kriegsfurie ganz Europa durchlohen. Und weiter heisst es: ‚Es lebe der Friede! Es lebe die Freiheit!‘ Noch am 2. August 1914 glaubten viele Sozialdemokraten, dass die Ablehnung der Kriegskredite für die Mehrheit der Reichstagsfraktion selbstverständlich und zweifellos sei. Doch in der entscheidenden Abstimmung stimmten nur noch 14 Sozialdemokraten gegen die Kreditbewilligung, 78 aber dafür. Welches ‚Gewissen‘ hatten diejenigen Abgeordneten, die damals die Kriegskredite bewilligten?‘

    2.Weltkrieg

    Letztlich waren/sind die Machtansprüche/kämpfe der Sozialisten, SPD und KPD, untereinander Ende der 20er, Anfang der 30er Jahre im vergangenen Jahrhundert mitverantwortlich für die Machtergreifung der National-Sozialisten, den WKII mit 60 Millionen Toten.

    Und sie waten mit Kriegsbeteiligungen in aller Welt wieder in Blut. Am Hindukusch, am Horn von Afrika, im Kosovo.

    Pfui Teufel.

    Ich fordere ein Verbot dieser Partei, deren Vermögensenteignung zugunsten des, räusper, deutschen Staatshaushaltes.

  8. avatar

    @ Lyoner: „Ich gestehe gerne zu, dass man bei diesem komplexen Werk in Gefahr gerät, reduktionistisch (und möglicherweise auch etwas einseitig) zu werden. Ich will Sie auch dahin gehend beruhigen, dass ich auf meine alten Tage kein Fan von Wilhelm II. geworden bin, “der” (pars pro toto) hatte Aktien an dem Schlamassel.“ Richtiges Geständnis; den Satz über die Aktien von Wilhelm Zwo suche ich verbeblich in dem von mir kritisierten Essay.
    Ich hingegen habe nirgends von deutscher Alleinschuld gesprochen, und die These wird – wie ich gezeigt habe – auch von keinem ernst zu nehmenden Historiker vertreten. Dass Clark hingegen sein Urteil über den lokalen Charakter der deutschen Kriegsziele nur unter Weglassung entscheidender Quellen aufrechterhält, ist ebenfalls unter den meisten Historikern Konsens. Ich zitiere Ihren Wilhelm Zwo am 30. Juli 1914, VOR der britischen Kriegserklärung: „Unsere Konsuln in der Türkei, Indien, Agenten usw. müssen die gesamte mohammedanische Welt gegen dieses verhasste, verlogene, gewissenslose Krämervolk zum wilden Aufstande entflammen; denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll England wenigstens Indien verlieren.“ Klingt das nach dem Wunsch, den Konflikt zu „lokalisieren“? Klingt das nicht vielmehr nach Götterdämmerungsszenarien von globalem Ausmaß?
    Was mich jedenfalls freut, ist dass Sie mit der Zustimmung zu den Thesen Cora Stephans und ihrer Historiker ganz und gar auf der Seite Ihrer ehemaligen Nemesis Henryk Broder und der Achse stehen, für die Frau Stephan schreibt. Das könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden. Seien sie doch so nett und bekennen das einmal öffentlich.

  9. avatar

    Nachtrag zur Vertiefung des Aspektes Vertreibungspolitik und deutsche Kriegsziele im ersten Weltkrieg:

    Michael Schwartz: Ethnische Säuberungen in der Moderne (http://books.google.de/books?i.....38;f=false). Welchen Stellenwert Überlegungen zur ethnischen Säuberung und Vertreibung z.B. des alldeutschen Propagandisten und Justizrats Claßen in den relevanten Büros des Deutschen Reiches hatte, S. 40f.

    Michael Schwartz urteilt hier ähnlich wie Clarke

    „Das Konzept ethnischer Säuberung im intellektuellen Diskurs des Ersten Weltkrieges war kein Alleinbesitz einer Kriegspartei. Zwischen 1914 und 1919 eskalierte es vielmehr auf allen Seiten der Front. Es faszinierte Intellektuelle und Wissenschaftler, die eine Nachkriegszukunft mit ’sauber‘ getrennten Nationen zu organisieren gedachten und damit Frieden, zuweilen sogar Humanität zu gewährleisten hofften.“ (http://www.deutschlandradiokul....._id=247110)

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    Gestrost, lieber Alan Posener, ich darf Sie beruhigen, ich habe Clark´s Schlafwandler in der 10. Auflage 2013 der deutschsprachigen Ausgabe gelesen (ich habe das Buch zu Weihnachten auf meinen Gabentisch gelegt); ich gestehe gerne zu, dass man bei diesem komplexen Werk in Gefahr gerät, reduktionistisch (und möglicherweise auch etwas einseitig) zu werden. Ich will sie auch dahin gehend beruhigen, dass ich auf meine alten Tage kein Fan von Wilhelm II. geworden bin, „der“ (pars pro toto) hatte Aktien an dem Schlamassel.

    Clark beschreibt die Verfassung der Akteure: „… Tendenz, die in der Argumentation so vieler Akteure in der Krise zu beobachten ist: nämlich sich selbst als jemanden wahrzunehmen, der unter unwiderstehlichen externen Zwängen handelt, während die Verantwortung für die Entscheidung über Krieg und Frieden eindeutig dem Gegner aufgebürdet wird.“ (S. 664 der deutschsprachigen Ausgabe) und „… keineswegs, dass wir die kriegerische und imperialistische Paranoia der österreichischen und deutschen Politiker kleinreden sollten […] Aber die Deutschen waren nicht die einzigen Imperialisten, geschweige denn die einzigen, die unter einer Art Paranoia litten. Die Krise, die im Jahr 1914 zum Krieg führte, war die Frucht einer gemeinsamen politischen Kultur. Aber sie war darüber hinaus multipolar und wahrhaft interaktiv …“ (S.716f)

    Innerhalb dieses framework finden sich bei Clarke vielerorts Hinweise, die meine obige Interpretation (die Krise begrenzen, lokalisieren vs. die Krise nutzen) eher zu stützen scheinen (auch wenn das Wort „instrumentalisieren“ zu pointiert gewählt war), z.B.
    „Durch ihre Unterstützung Österreich-Ungarns und mit dem unbekümmerten Vertrauen auf eine mögliche Lokalisierung leisteten die deutschen Führer ihren Beitrag zur Eskalation der Krise. Dennoch lässt nichts an ihrer Reaktion auf die Ereignisse vom Sommer 1914 darauf schließen, dass sie die Krise als willkommene Gelegenheit betrachten, einen seit langem ausgearbeiteten Plan für die Auslösung eines Präventivkriegs gegen die deutschen Nachbarstaaten in Gang zu setzen. Im Gegenteil brauchten Zimmermann, Jagow und Bethmann Hollweg erstaunlich lange, bis sie das ganze Ausmaß der Katastrophe erkannten, die sich um sie herum zusammenbraute.“ (S. 664)
    „In einem Zirkular vom 21. Juli an die deutschen Botschafter in Paris, London und St. Petersburg erklärte Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg: „Wir wünschen dringend die Lokalisierung des Konflikts, weil jedes Eingreifen einer anderen Macht infolge der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen würden.“ (S. 659)
    „Über dieses Einvernehmen konnte – zumindest im Fall Frankreichs – im Sommer 1914 kein Zweifel mehr bestehen. Nicht nur, dass Poincaré und Paléologue so nachdrücklich die Standhaftigkeit Russlands in der serbischen Frage verlangt hatten, darüber hinaus entsprach dies exakt dem Szenario des Katalysators Balkan, den die Bündnispartner nach unzähligen Diskussionen und Gipfeltreffen in den letzten Jahren zum idealen casus belli erklärt hatten.“ (S. 616)
    „Wie auch immer die genaue Reihenfolge [Balkan, Bosporus] der geopolitischen Prioritäten ausgesehen haben mag, die Russen hatten bereits den Kriegspfad betreten. […] dass nach den Sitzungen in St. Petersburg vom 24. und 25. Juli „der Krieg bereits beschlossene Sache war, und die ganze Flut von Telegrammen zwischen den Regierungen Russlands und des Deutschen Reiches waren nicht mehr als die Inszenierung eines historischen Schauspiels.“ Dennoch sprachen die Russen und ihre französischen Bündnispartner in den entscheidenden Tagen der vierten Juliwoche unablässig von einer Politik des Friedens.. Die Politik der „Standhaftigkeit“, wie Poincaré, Sasonow, Paléologue, Iswolki, Kriwoschein und ihresgleichen sie auslegten, war eine Politik mit dem Ziel, den Frieden „notfalls mit Gewalt zu sichern“. (S. 622f)

    Habe ich hier zu wenig ausgewogen zitiert? Im Gegensatz zu den komplexen Ausführungen Clark´s scheinen Sie, Alan Posener, hier wie ein terrible simplificateur zu agieren. Gewiss, scheinen Sie sagen zu wollen, von Alleinschuld der Deutschen kann man (leider) nicht mehr reden, aber, aber, wenn wir uns die deutschen Kriegsziele anschauen … Und dann mischen Sie Überlegungen, Denkschriften, Programme, Vorschläge etc. unterschiedlicher Personen, zu unterschiedlichen Zeiten, mit mehr oder weniger Relevanz zu einem angeblich „konsistenten“ und kontinuierlichen (vom ersten bis zum zweiten WK) deutschen Kriegszielkatalog. Ich habe ja nun nicht den Mommsen parat, auf den Sie sich berufen, finde es jedoch nach einer kurzen Google-Recherche mit Verlaub etwas tollkühn, wenn Sie die Überlegungen eines Adolf von Batocki, die Auswanderung von Juden nach Palästina zu fördern (war der gar Zionist?“ unter „bekannte deutsche Kriegsziele“ subsummieren.

    Soweit ich weiß, haben nicht Cora Stephan et al. die Formel „Europa oder Krieg“ ins Spiel gebracht, waren dies nicht entweder Helmut Kohl oder mein Landsmann Wolfgang Schäuble? Wenn man diese Formel zurückweist, ist man m.E. nicht gegen Europa, sondern beansprucht an Recht an der Kritik von Fehlentwicklungen einer europäischen Politik, die die Menschen immer mehr gegen das realpolitische Konstrukt „Europa“ aufbringen. Im übrigen „schulden“ Sie mir noch eine Explikation Ihrer Behauptung, dass „äußere Mächte“ die europäischen Einzelstaaten zu kriegerischen Auseinandersetzungen provozieren würden. Welche Mächte sind das, Russland oder die Schinesen oder die Umma, oder kommen die aus der „Anglosphäre“?

    @ DonGeraldo

    Ich weiß nicht, ob ich mit Lenin den Imperialismus als höchste Stufe des Kapitalismus sehe soll oder eher als Ausdruck einer selbstzerstörerischen Dynamik. Für Alan Posener scheint der Imperialismus und der Kapitalismus legitim und nobel zu sein, wenn er aus der Anglosphäre kommt, illegitim und unappetitlich, wenn er von konkurrierenden Kräften kommt.

    @ Parisien

    Sie wissen doch, dass ich Sie für einen viel beweglicheren und weltläufigeren Kopf halte als mich; Sie bringen nicht nur jeden Salon zur Explosion, sondern auch die Hühner zum Lachen. Im Gegensatz zu Ihnen humple ich mit meiner kleinmütigen Skepsis, mit Fragen, ob das auch stimmt und wie relevant es ist, wie ein Behinderter durchs Leben und mache mir wenige Freunde. Aber das hat mit meinen Genen nichts zu tun; im übrigen sind weder der Russ, noch der Franzos, noch der Serbe, noch der Angelsachse etc. mein Feind.

    @ Moritz Berger

    Manchmal liebe ich es, auf der faulen Haut zu liegen und mir eher erklären zu lassen als mir selbst eine Birne zu machen. Was meinen Sie mit Ihrem Hinweis auf das GDP Chinas 1870?

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    Noch ein vorläufig Letztes: Broders Stück über den trockenen Alkoholiker ist sehr intelligent. Ich stelle die These auf, dass man, von Juden ungestraft, jederzeit einen guten Judenwitz machen kann, außerdem von Briten und Amerikanern ungestraft, einen guten Briten- oder Ami-Witz. Die EU unter dem Einfluss von Deutschland, vor allem von Grünen, entwickelt sich humorlos. Das ist die einzige Verbindung zu 1914: Das Kaiserreich war humorlos, das heutige Deutschland auch. Deutsche sind nie durch zuviel Humor aufgefallen, Schweizer auch nicht. Franzosen haben genug davon.
    Während man den Witz, der, wie Broder beschreibt, demaskierend und damit nützlich ist, und die Sprache beschneidet, erinnert man an das alte Kaiserreich, alles korrekt, Benehmen. Ich habe das auch in Schulen beobachtet. Damit werden latente Aggressionen geschürt, die sich eines Tages einen Weg suchen könnten. Nichts gelernt. Eine Relativierung von Schuld erscheint mir daher verkehrt. Alter Wein in neuen Schläuchen. Antisemitismus im neuen Gewand.
    Und hier ein guter Witz. Vor Weihnachten waren wir eingeladen in einer Runde mit mehreren Generationen. Es war auch ein junger schwarzer Gastschüler dabei. Nach dem Essen kam der Labrador ‚rein. „Der ist noch schwärzer als du“, grinste einer. „Richtiger Neger“, grinste der Schwarze. „Guter Hund“. Alle gelacht.
    Was da versucht wird, macht uns kaputt: Es tötet Spontaneität, Humor und Kreativität. Man hält Leute für Trottel und macht sie erneut zum Untertanen wie im Kaiserreich. Heinrich Mann war gewiss ein ebenso guter Autor.
    Broders Stück hat’s in sich. Die comments sind auch gut.
    Lernen Sie daraus, Roland: nie obrigkeitshörig sein.
    2014 sollte Deutschland sich bei Frankreich entschuldigen und 2018 Frankreich bei Deutschland. Très simple.
    Ein wunderbarer Mensch ist Steven Spielberg. Er hat „War Horse“ entdeckt für den Film. Damit konnte er das Drama auf’s Pferd bringen. Das Pferd steht symbolisch für alles Leid. Schönes WE! Will in die Berge.

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    Falls Madame hier mal hineingerät, während sie ihre Coccyxfraktur kuriert, kann sie sich ausrechnen, dass ich ihr verloren gegangen bin. Ihr und ihrem Ex-Koalitionspartner Schnösel. Und ich habe noch vier mitgenommen in die Nichtwählerfraktion. Ich glaube,von uns gibt es noch mehr. Glückwunsch und gute Besserung!

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    Apropos Wetter kann ich auch einige interessante Beobachtungen beitragen, da ich mich dafür interessiere und das in den online-Portalen eines nüchternen Landes genau verfolge: GB. Wetter wird in GB sehr genau beschrieben und führt nicht zu Phantasien, außer bei sehr gut ausgebildeten, vielleicht VERbildeten Gestalten. So äußerte Dave, die Überschwemmungen seien wohl evtl., er könne das nicht ausschließen, eine Folge von climate warming und wurde umgehend korrigiert. Die Überschwemmungen seien vielmehr eine Folge eines starken jet streams, der auf der anderen Seite des Atlantik zu einer Kältephase führe. Das kann man endlich mal nachvollziehen und außerdem beobachten. Beobachten konnte man auch, dass Überschwemmungen dort stattfinden, wo die Lehmwälle entfernt wurden. Hierbei sah man auch ein Photo eines intelligenten Farmers, der sein Haus wieder, wie früher, nach mehreren Überschwemmungen mit einem Lehmwall umgeben hatte und trocken in einem Riesensee stand. In Berkshire sind offenbar diverse Luxusobjekte auf einen Schlag unverkäuflich geworden, weil die Themse durch die Ufer gebrochen ist. Wälle kann man da nur sagen. Holland. Die Kelten. Die Alten, an denen man sieht, dass es früher auch stürmte und die nicht auf die Idee kamen, dass man Stürme wegzaubern kann, anders als unsere magicians, die mittelalterliche Phantasien von Sündfluten beflügeln. Dann ist aber der schöne Blick auf die Themse weg, genau wie an der Elbe oder in den Niederlanden am Meer. An diesem Beispiel sieht man, wieviel common sense ausmacht. Bei den Eliten hat man, sowohl national als auch europäisch das Gefühl, common sense sei ihnen vollkommen abhanden gekommen. Sie erinnern an diese Szenen aus „Starwars“, wo sich die Senatoren in so einer Art Jahrmarktskarussell bewegen. Ganz weit oben, ganz weit weg. Bevölkerung, vor allem alte Stammbevölkerung, die verhassten Autochthonen, verhasst, weil sie etwas Durchblick haben?: Mit OP-Handschuhen anfassen, wenn überhaupt. Am besten ignorieren.

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    Lieber Alan Posener,
    Europa wird nach rechts rücken, das ahnt jeder. Und jeder schüttelt den Kopf, dass die offensichtlichen, nicht vermittelbaren Probleme nicht angegangen werden, z.B.: Die kleinen Länder bekommen weniger Präsenz als die großen. Das Kindergeld wird ganz abgeschafft und über die Steuer verrechnet, wenn die Kinder im gleichen Haushalt leben. Man bekommt wieder je zwei Monate ALG für je ein halbes Jahr Arbeit. Wie früher. Wie wir das hatten, was zur Arbeitssuche führte. Ich sage Ihnen gerne, wen ich gewählt habe: Niemanden. FDP: Fehlanzeige. Die CDU/CSU der Frau Merkel: Ich schüttel heute noch den Kopf, dass eine Physikerin, die mit einem Chemiker verheiratet ist, nicht zur Kenntnis genommen hat, dass die Leute in Fukushima ertrunken sind und auch ertrunken wären, wenn in Fukushima ein Windpark gestanden hätte. Die AfD: Kannte ich zuwenig. Die Linken wähle ich schon lange nicht mehr. Big Government ist nicht mein Ding. Europawahl: AfD oder niemanden für mich. Es ist nicht vermittelbar, was die EU mit meinen arbeitenden Mitbürgern und ihren Steuern macht. Oder wie sie es fertig gebracht hat, einen Haufen Leute zum Studium zu führen, das bei manchen zur ersten Kreditaufnahme führt, Kredite, die wegen Arbeitslosigkeit oder Praktikum (Sklavenarbeit) oder auch wegen Unterbezahlung niemals bedient werden können, woran dann die bösen Banken schuld sind, jedenfalls in der öffentlichen Diktion. Die EU, wie man an Mrs. Vivien sieht, glaubt an einen Superstaat, ein altmodisches Konzept aus den Fünfzigern oder Sechzigern, und an sich, das wär’s. Mrs. Vivien ist dieselbe, die sich darüber echauffiert, dass five eyes das vorsichtshalber überwachen. Ich würde das auch überwachen, weil mir das spanisch vorkäme.
    Apropos Uncle Sam: New York und Kalifornien haben mehr Wahlmänner als sagen wir Alaska.
    M.f.G.

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    @Alan Posener

    „- Was die dritte These angeht, so wissen diejenigen, die meine Beiträge regelmäßig lesen, dass ich zwar den Nationalismus für ein Unglück, die Überwindung des Nationalstaats jedoch für eine Illusion halte“

    In der Wirtschaft ist der Nationalstaat doch schon lange überwunden:

    Im militärischen Bereich siehe NATO spielen nationale Grenzen auch eine zunehmend geringere Rolle

    Insofern ist Ihre vermeintliche Illusion doch bereits Realität geworden

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    @ Thomas Weber: Schön, dass Sie hier mitdiskutieren. Dienstag beschäftige ich mich mit Ihrem Stück über die angebliche Unfähigkeit der Deutschen, die eigenen Kriegstoten zu betrauern. Bis dahin sollten Sie vielleicht überlegen, warum ausgerechnet der Blonde Hans, unser Haus-Rechtspopulist, und der mit dem eigenen Broder-Knacks schwer ringende Lyoner, Ihnen so begeistert zustimmen.

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    Lieber Parisien, angesichts der tatsächlichen Schwäche und Uneinigkeit Europas scheint mir die Kriegsgefahr eher von der Ausnutzung dieser Schwäche oder von der Unfähigkeit der EU, glaubhaft Macht zu projizieren, auszugehen (siehe Ukraine, Moldawien, Georgien, demnächst vielleicht Zypern?).
    Ob eine Europäische Union, die sich zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik durchgerungen hätte, ihrerseits den Versuchungen der Macht erliegen könnte, das scheint mir zurzeit eine hochgradig theoretische Frage. Entscheidend wäre der Mechanismus der Kontrolle dieser Macht. Dazu habe ich einige Vorschläge gemacht, auch hier auf SM. Stichwort: direkt gewählter Senat.

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    M.B.: Meine Frage an Alan Posener und auch die anderen Mitdiskutanten:
    Im ökonomischen Bereich haben wir doch bereits seit Jahrzehnten eine Überwinding des Nationalstaates erreicht (die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen lasse ich hier einmal beiseite)
    …..
    Und wenn ich mir den Hedgefond Blackstone mit einem Investmentvolumen von ca. 15 Billionen US$ (europäische Billionen) anschaue, nur zum Vergleich das GDP der EU betrug 2012 ca. 16 Billionen US$, spielen da die Nationalstaaten noch eine Rolle??
    Hat der Nationalstaat daher tatsächlich noch eine wichtige Funktion ???
    Oder ist hier nur mit der These der ” Sozialstaat ” gemeint??

    … werter M.B., Sie schreiben was haben wir erreicht … Sie haben eine Menge erreicht.

    ‚Bis 1963 gehörten den US-Amerikanern 700 deutsche Firmen, 2004 waren es schon 2.600, bis 2007 waren über die Hälfte der DAX-Konzerne und 20% aller deutschen Aktien in ausländischem Besitz . Und die Übernahme geht immer noch weiter: Gerade hat die amerikanische KKR die deutsche Demag, den Triebwerkher- steller MTU und das Duale System gekauft ; Texas Pacific und Flowers wollen die Berliner Bank ‘erwerben’ ; Nomura will kommunale Wohnungsunternehmen ‘kaufen’ ; Blackstone kramt in der restlichen deutschen Abfallbranche des Dualen Systems, um uns auch da zu prellen.

    Internationale Verträge sorgen dafür, dass Amerikaner deutsche Firmen erwerben und die Gewinne in die USA verbringen dürfen.‘ … und, und, und.

    Daher!

    Sie fürchten bei deutscher Souveränität um Ihre Pfründe?

    Quelle: Die ‚deutsche‘ Ursache der globalen Finanzkrise

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    @ KJN
    So belesen, naja. Wenn’s interessant wird, belese ich mich. Es gab tatsächlich deutsche Eliten bzw. Generäle, die dem Kaiser, den Christopher Clark übrigens in „Preußen“ gut beschrieben hat, den Krieg ausreden wollten. Was 1939 betrifft, haben Sie natürlich völlig Recht.
    Trotzdem zeichnet sich folgendes Bild ab: Frankreich 1870 von Bismarck in eine Kriegserklärung gelockt. Zwei Marokkokrisen, die zweite googeln unter „Panthersprung“, 1914 überflüssiger Angriff auf Frankreich, usw.
    Ich kann da nur eine wachsende wirtschaftliche Macht sehen, die anfing, ständig Ärger zu machen, auch wenn das Lyoner und dbh nicht passt, und so habe ich es auch in der Schule gelernt, wenn ich mich recht erinnere. Wenn ich davon nicht abrücke, hat das weniger mit „Sündenstolz“ zu tun, als damit, dass ich gelernt habe, andere europäische Länder mindestens ebenso zu schätzen, wenn nicht gelegentlich sogar mehr. Ich weiß nicht, ob dieser „Schuldstolz“ außerhalb von linksintellektuellen Zirkeln überhaupt existent ist. Eher glaube ich, dass viele von uns schon länger Europa leben, aber durch interkulturellen Austausch, viel besser erleben und verstehen, als ein Teil der Brüsseler Eliten meint, und zwar verstehen in seinen Diversitäten, die sich in Brüssel in der Einfuhr von Billigarbeit (unter der Ägide von „Eliten“) zu erschöpfen scheint. Daher ist uns auch Gleichmacherei ein Greuel.
    Auch auf den „Holocaust“ ist wohl niemand „stolz“. Wenn da einer stolz drauf ist im Sinne von Schuldstolz, gehört er in die Klapse.

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    Wissen Sie, warum die Italiener so klein sind? Weil ihnen ihre Mütter stets sagen: ‹Wenn du mal gross bist, musst du arbeiten gehen.Aus dem Stand heraus fallen mir dazu zwei Witze aus derselben Abteilung ein. «Warum haben Frauen so kleine Füsse? Damit sie nah am Kochherd stehen können.» Und: «Warum haben Juden so grosse Nasenlöcher? Weil die Luft nichts kostet.»›
    Broder, letzte WW-Kolumne

    Warum suchen sich Leute wie Lyoner immer die passenden Stellen aus? Weil es in den deutschen Genen sitzt, Feinde zu sehen, wo keine sind. Kein Witz.

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    Sekundär Schuldige tauchen m.E. eher am Ende der Kriege auf, am Ende von WWI der Versailler Vertrag, am Ende von WWII dies hier (s.u.), was dann langfristig verhindert wurde. Beide Male wirkten die Briten mäßigend. Den Briten muss man unterstellen, dass sie lieber die Freunde der Deutschen gewesen wären, durch Entwicklungen aber daran gehindert wurden. Wir haben den Briten mehr zu verdanken, als mancher Deutsche ahnt:

    NZZ 1944:
    „So far, the Allies have not offered the opposition any serious encouragement. On the contrary, they have again and again welded together the people and the Nazis by statements published, either out of indifference or with a purpose. To take a recent example, the Morgenthau plan gave Dr. Goebbels the best possible chance. He was able to prove to his countrymen, in black and white, that the enemy planned the enslavement of Germany. The conviction that Germany had nothing to expect from defeat but oppression and exploitation still prevails, and that accounts for the fact that the Germans continue to fight. It is not a question of a regime, but of the homeland itself, and to save that, every German is bound to obey the call, whether he be Nazi or member of the opposition.“
    wikipedia, Morgenthau Plan

    Das Morgenthau Jewish war, muss Goebbels, der natürlich actio und reactio außer Acht ließ, mächtig beflügelt haben.

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    Wer heute noch den Unsinn der „Alleinschuldthese“ glaubt hält auch das Attentat von Sarajewo für die Ursache des Ersten Weltkriegs.

    Letzteres war vielleicht Anlaß des Krieges, aber nicht seine Ursache, sowenig wie die Kriegslüsternheit der deutschen Führung.
    Verantwortlich war die deutsche Führung allerdings dafür, daß sie die Interessanlage der anderen Staaten nicht richtig eingeschätzt hat; die von Wilhelm Zwo zu verantwortende Fehlentwicklung begann nicht 1914 oder den Jahren davor, sondern schon mit der Pensionierung Bismarks.

    Angesichts des agressiven Revanchismus Frankreichs – selbst heute noch halten intelligente Menschen den Rhein für die „natürliche Ostgrenze“ Frankreichs – diente Bismarks gesamte Außenpolitik der Isolation Frankreichs. Das hat er auch geschafft durch Verträge mit Österreich, Rußland, Italien und Großbritanien.

    Nachdem Wilhelm die Außenpolitik zur Chefsache gemacht hatte saß Deutschland schnell zwischen allen Stühlen. Als Verbündete blieben nur noch Österreich, Italien und das Osmanische Reich.

    Über Österreichs Interessen am Balkan hatte Bismark schon früh gesagt, der sei keinen müden Knochen wert.
    Daß Italien als Verbündeter ausfallen würde wäre einem Bismark angesichts der gegensätzlichen Interessen Österreichs und Italiens auch klar gewesen. Und was Bismark über den Balkan sagte galt für den osmanischen Orient erst recht.

    Die Interessen bzw. Kriegsziele der Gegenseite dagegen waren absolut klar und – des wichtigste – ergänzten sich perfekt:

    Frankreich konnte Revanche nehmen für 70/71 und seine Ostgrenze nach Osten verschieben.

    Rußland konnte seinen Einfluß im Balkan erhöhen (die panslawische Frage), seine Westgrenze nach Westen verschieben sowie Eroberungen aus dem osmanischen Reich machen.

    Italien konnte Österreich von der italienischen Halbinsel vertreiben und eventuell noch ein paar Eroberungen an der Adriaküste machen.

    Großbritannien war auf einen Schlag die deutsche Flotte und den größten Wirtschaftskonkurrenten los; dazu kamen noch ein paar fette Brocken aus der Konkursmasse des osmanischen Reiches.

    All das macht deutlich, wer tatsächlich ein Interesse am Krieg hatte. Deutschland war nicht paranoid, es war tatsächlich eingekreist von Feinden.
    Hätte es die Schüsse von Sarajewo und die falschen Reaktionen der beiden Kaiser nicht gegeben, es hätte sich ein anderer Anlaß gefunden.

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    Vergessen: Bezog mich zusätzlich auf Stephans rührenden Aufsatz auf achgut.
    Alan Posener: Ihr’s ist brillant.
    Eine Frage möchte ich aufwerfen: Warum schließen Sie es grundsätzlich aus, dass ein Superstaat Europa selbst nationalistisch werden und uns in größere Kriege hineinziehen könnte mangels negativer Erfahrung, dann die Nahtoderfahrung in Schützengräben oder später in Coventry, Rouen oder Dresden ist m.E. viel tiefer im Bewusstsein einzelner europäischer Staaten eingraviert (wie man sehr wohl an griechischen Vorwürfen inclusive der Hitlerisierung von Merkel sehen konnte) als in dem technokratischen Eliten-Kunstprodukt, das Europa bislang darstellt. Europa könnte aufgrund seiner elitären, vom Bevölkerungswillen losgelösten Struktur sehr viel eher entweder Bürgerkriege oder Kriege als Risiko beinhalten als etwa die einzelnen Nationalstaaten mit ihrem Erinnerungsvermögen und ihrer Fähigkeit, zu reflektieren, wenn man von das von Ihnen zitierte Stück (Stephan, Neitzel et al.) ausnimmt und als jenseits von Eden betrachtet.

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    Nachtrag @Parisien:
    Wenn Sie das so darstellen, wie Sie es darstellen, vernachlässigen Sie die Tatsache daß die deutschen Eliten sich als Karrieristen immer allzu bereitwillig den jeweiligen Machthabern untergeordnet haben (ich muss da wohl nicht ins Detail gehen). Das mag in anderen Ländern auch so sein und gerade daher ist es sinnlos, Länder wie Personen zu betrachten. Es geht nicht um „Unterordnung Deutschlands“, des „Michels“ z.B. in einer Entente oder in Europa, sondern um verantwortliche Politik. Und die vermisse ich – damals – und heute, was Europa angeht. Daß in der Vorstellung so vieler mit dem Euro direkt Europa abgeschafft werden soll, ist für diese Verantwortungslosigkeit symptomatisch.

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    @Stevanovic
    Sie beschreiben die Abstiegsangst des Mittelstandes, der sich im Kulturpessimismus äußert und sich Kanäle sucht: Auf die linke (Klimakatastrophe..) und auf die rechte Weise (die Politik kümmert sich nur um Behindertenparkplätze, Schwulen, Angriff auf die Sozialsysteme durch die Zuwanderer..) oder links-rechts (Quote in Vorständen..).
    Anstatt die Ursachen für diese ja nicht unbegründete Angst zu suchen, ggf. zu beseitigen (Klientelpolitik der Eliten, in Afrika, wie hierzulande statt Binnenmarkt, Keynes) wird mal wieder der „Bimbo/Mongo/Hartzi“ verantwortlich gemacht. Klassisch: Früher war’s klarer, besser usw., es gab keine political correctness. Eigentlich eine Schafshaltung. Nun machen es auch die „linken Gutmenschen“ mit ihrer provinziellen Naivität dem Achgut-nahen Autorenkreis wirklich nicht schwer. Und Intelligenz wird nicht helfen: Man fühlt sich ja so wohl unter Gleichgesinnten die sich gegenseitig auf den Leim gehen. Dagegen müsste man schreiben – aber ich bin da kein Profi.

    @Parisien
    Ich bin ja nicht so belesen, wie Sie, aber sollten Sie nicht nochmal über folgendes nachdenken?
    „Deutschland war durch zwei Einzelpersonen an beiden Kriegen schuld und kommt mit dieser Rolle ganz gut zurecht.“
    Mein Vorschlag:
    „Deutschland war nicht nur durch zwei Einzelpersonen an beiden Kriegen schuld und kommt trotzdem mit dieser Rolle ganz gut zurecht.“

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    @ Lyoner: Ich gehe davon aus, dass sie Christopher Clarks Buch nicht oder nicht aufmerksam genug gelesen haben. anders kann ich mir nicht erklären, wie Sie ihn als Apologie der deutschen Position lesen.
    Ich verweise etwa auf Clarks Darstellung des „Kriegsrats“ vom 8. Dezember 1912 (S.329 der englischen Ausgabe) und der verhängnisvollen Rolle Moltkes, der unentwegt auf einen „Präventivkrieg“ drängte (S.332f): „Preventive war thinking became widespread within the military command – a recent study has identified several dozen(!) occasions on which senior commanders pressed for war ‚sooner rather than later’ …“
    Und da ist noch mehr, einschließlich der Selbststilisierung des Kaisers als Freund aller 300 Millionen Muslime gegen den britischen und russischen Imperialismus. Bekanntlich war es Kaiser Wilhelm II. persönlich, der sie dann zu einem „Dschihad“ (wörtlich!) gegen den Westen aufrief.
    Wie Clark richtig (S. 142) bemerkt, hatte das „verspätete Imperium“ Deutschland nichts, womit es verhandeln konnte, um auf friedlichem Weg seine Ambitionen zu verwirklichen, anders als die großen Kolonialmächte, die durch Gebiets- und Einflusssphärentausch den fragilen Frieden erhalten konnten, und musste darum auf Einschüchterung und Angst setzen, die nach innen als „Paranoia“ (Clark) internaliert wurden. Das klingt dann doch ein wenig anders als bei Ihnen.
    Diese Tatsache erklärt auch, weshalb Fergussons völlig richtige Position, man hätte vor 1914 auf Appeasement setzen sollen, in der konkreten Situation so schwer zu verwirklichen war. Aber – und dies ist die Ironie der Geschichte: genau diese Lehre zog man britischerseits aus dem Großen Krieg und versuchte bis zum 1. September 1939, Hitler mit Zugeständnissen zu beschwichtigen. Das Lernen aus der Geschichte ist also nicht ganz einfach.

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    – Gute Beobachtung, Roland Ziegler: „Lernen aus der Geschichte ist ein sehr altes Programm, das aber leider nur sehr selten funktioniert. Geschichte ist zu vieldeutig und kann sehr gefährlich werden, wenn man sie zu aktuellen Zwecken instrumentalisiert.“
    – Stevanovic: „In dem Artikel von Geppert, Neitzel, Stephan und Weber fällt mir auf, dass es gar nicht um WK1 geht.“ Richtig. Und Ihre Polemik ist brillant, vor allem der letzte Satz: „Deswegen ist mein persönlicher Höhepunkt des Artikels: Die deutsche Selbstbezogenheit ist kontraproduktiv. Ja, das stimmt, nur sie merken es nicht.“
    – Lieber Parisien, danke für das Zitat von Boris Johnson. Einseitig, wie er immer ist, aber gerade deshalb erfrischend. Natürlich läuft die Diskussion auch in Großbritannien – und auch da geht es nicht primär um WK1, sondern um Selbstvergewisserung.
    – Lieber KJN: Das intellektuelle Problem mit dem Sezessionskrieg ist, dass er trotz föderaler Struktur, gemeinsamer Währung und Außenpolitik möglich war. Aber das ist fast schon off topic. Jedenfalls sollte man die Federalist Papers lesen, wenn man über Europa diskutiert. Gibt’s als E-Book umsonst …
    – Lieber Lyoner, von Ihnen habe ich keinen anderen Kommentar erwartet. Clark ist in der Tat brillant, wenn es um die Analyse der verbrecherischen Politik der serbischen Nationalisten geht; er ist auch brillant, wenn er die politisch-psychologischen Befindlichkeiten der Akteure der Julikrise untersucht. Was er nachweist, ist dass der Ausbruch des Krieges weder unausweichlich war noch allein den Deutschen in die Schuhe geschoben werden kann. Er würde freilich eine Interpretation seines Buchs, wie Sie sie hier formulieren, entschieden zurückweisen. entsprechende Zitate suche ich Ihnen noch aus. Meine Quelle für die vorgesehenen antijüdischen und antipolnischen Maßnahmen im Osten ist Wolfgang Mommsen, Der Erste Weltkrieg als Anfang vom Ende des bürgerlichen Zeitalters, FfM 2004, S. 118
    @ Parisien: Ich bin ein großer Bewunderer Niall Fergusons, wenn er auch etwas zu viel und zu schnell schreibt. Was man immer bedenken muss: Er schreibt über den „falschen Krieg“ aus der Sicht der Erhaltung des Empire, das er bewundert. Und es kann kaum einen Zweifel geben, dass dieser schreckliche Krieg für das Empire fast so tödlich war wie für die anderen Imperien – Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich, das Reich der Zaren und das Deutsche Kaiserreich. Fergusson schreibt also als Imperialist und Patriot, dass man den Krieg mit Deutschland lieber hätte vermeiden sollen, und ich wüsste nicht, wie man ihm nicht zustimmen sollte. Nur ist das eben Weisheit im Nachhinein und exkulpiert keinen der „Schlafwandler“, wie Clark sie nennt. Es ist absurd, Ferguson zu diesem Zweck zu missbrauchen.

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    aus der Vielfalt der hervorragenden Argumentation möchte ich nur diese These herauspicken:

    – Was die dritte These angeht, so wissen diejenigen, die meine Beiträge regelmäßig lesen, dass ich zwar den Nationalismus für ein Unglück, die Überwindung des Nationalstaats jedoch für eine Illusion halte.

    Meine Frage an Alan Posener und auch die anderen Mitdiskutanten:

    Im ökonomischen Bereich haben wir doch bereits seit Jahrzehnten eine Überwinding des Nationalstaates erreicht (die wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen lasse ich hier einmal beiseite)

    Ob die Deutsche Bank in der Türkei investiert, ob die Passauer Verlagsgruppe im ehemaligen Jugoslawien mehr oder weniger die Printmediem dominiert, ob die SAP in Ruanda eine neues IT Forschungszentrum aufbaut ist doch nicht mehr an nationale Grenzen gebunden.

    Und wenn ich mir den Hedgefond Blackstone mit einem Investmentvolumen von ca. 15 Billionen US$ (europäische Billionen) anschaue, nur zum Vergleich das GDP der EU betrug 2012 ca. 16 Billionen US$, spielen da die Nationalstaaten noch eine Rolle??

    Hat der Nationalstaat daher tatsächlich noch eine wichtige Funktion ???

    Oder ist hier nur mit der These der “ Sozialstaat “ gemeint??

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    ‚Our chief rival in trade and commerce today is not France but Germany. In case of a war with Germany, we should stand to win much and lose nothing; whereas, in case of a war with France, no matter what the outcome might be, we are sure to lose heavily.‘ – OUR TRUE FOREIGN POLICY, Saturday Review, August 24, 1895, page 17

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    ‚Nicht die Entscheidung Berlins die deutsche Kriegsflotte auszubauen, habe die Entente-Mächte Russland, Frankreich und Großbritannien gegen Deutschland und Österreich-Ungarn zusammengeschweißt. Sorgen habe vor allem die schnelle Industrialisierung Deutschlands und die Eroberung neuer Märkte bereitet.‘ Prof. Christopher Clark

    … und noch einmal Henry Kissinger:

    ‚Letztendlich wurden zwei Weltkriege geführt, um eben das, eine dominante Rolle Deutschlands, zu verhindern.‘ – ‚Welt am Sonntag‘ 23. Oktober 1994 – Daher!

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    Parisien: Der dritte Fehler ist, dass Deutschland nicht bereit gewesen war, auf seine Flottenaufrüstung zu verzichten, woraufhin die Briten ebfs. aufrüsteten.

    … werte/r Parisien, Sie schreiben Firlefanz. ‚1907 hatte England sieben Dreadnoughts, wie Admiral John Fisher gegenüber König Edward VII. jubelte, und Deutschland hatte noch nicht mal mit dem Bau des ersten begonnen.‘

    der konservative Publizist Simon Heffer: ‚Nur aufgrund der Einmischung Großbritanniens sei aus einem begrenzten Konflikt ein Weltkrieg geworden. Die britische Intervention habe nicht nur Millionen Tote gekostet, sondern die alte europäische Ordnung zerstört, revolutionäre Bewegungen genährt und den Wohlstand der vorhergehenden Jahrzehnte vernichtet. Man hätte neutral bleiben, über die starken Handelsbeziehungen die Partnerschaft mit Deutschland pflegen und so die meisten Katastrophen des 20. Jahrhunderts verhindern können.‘

    … und passend hinzu eine Buchempfehlung, Max Scheler: ‚Die Ursachen des Deutschenhasses‘. (1917)

    Aktueller denn je.

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    Der Artikel ist nicht von Cora Stephan, sondern von Dominik Geppert, Soenke Neitzel, Cora Stephan und mir.
    Wir sprechen nirgendwo von ‚Sündenstolz‘.
    Wir sagen nirgendwo, Europa sei überflüssig.

    Herr (oder Frau) Stevanovic: Klar, in unserem Artikel geht es gar nicht um den Ersten Weltkrieg … und Dan Brown ist ein Sachbuchautor …

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    „Zweitens würde mich interessieren, welche „äußeren Kräfte“ ………..daran interessiert sein könnten,………kriegerische Auseinandersetzungen zu provozieren.“ Ja, das würde mich auch interessieren!

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    Einer der Schwachpunkte an C.St.’s Stück:
    „Der Grosse Krieg war, wie Niall Ferguson schon vor Jahren schrieb, ein «falscher Krieg». Fergusons provozierende These: Hätte man das Deutsche Reich 1914 nicht bekämpft, sondern an den Tisch der Grossmächte gelassen, hätte man ganz ohne Millionen von Toten erreicht, was heute der Fall ist: Deutschland ist als stärkster (ökonomischer) Faktor die Zugmaschine Europas.“
    Niall Ferguson, umstrittener Historiker, dreht hier etwas um: Wann immer eine Entente entstand, versuchte Deutschland, diese zu stören oder zeigte sich damit nicht einverstanden. So entstand die „Entente Cordiale“ zwischen Gb und France nach Beilegen der Faschoda-Krise, die „Triple Entente“ nach Beilegen des Doggerbank-Zwischenfalls, der schon 1905 zu einem Krieg zwischen GB und Russland hätte führen können, an dem beide Seiten kein vergrößertes Interesse hatten. Die durch Frankreich vermittelte Beilegung des Zwischenfalls bei Hull scheint bei den Deutschen auf kein tieferes Interesse gestoßen zu sein. Deutschland isolierte sich selbst. In einer Entente hätte es sich unterordnen müssen. Nach allem, was über Wilhelm II bekannt ist, handelte es sich um einen äußerst dümmlichen Kriegstreiber. Das umdrehen zu wollen, erinnert mich an Geschichtsklitterung.
    Den zweiten Fehler in C.St.`s Stück sehe ich darin, dass sie 1914 erst anfängt. Jahrestage sollten einen nicht dazu verleiten, die Politik davor aus dem Auge zu verlieren.
    Der dritte Fehler ist, dass Deutschland nicht bereit gewesen war, auf seine Flottenaufrüstung zu verzichten, woraufhin die Briten ebfs. aufrüsteten.
    Der vierte Fehler scheint mir darin zu bestehen, wenn man mit nassem Auge auf trockene Vorgänge schaut.
    Die Relativierung der Schuld von Kaiser Wilhelm II ist einfach grotesk. Und falsch, weil man dabei vergisst, welchen Schaden einzelne Staatslenker anrichten können, Einzelpersonen. Bei der Beilegung des Doggerbank-Zwischenfalls, einem eindeutigen Kriegsgrund, war bedeutend mehr Vernunft am Werke.
    Da capo:
    „Der Grosse Krieg war, wie Niall Ferguson schon vor Jahren schrieb, ein «falscher Krieg». Fergusons provozierende These: Hätte man das Deutsche Reich 1914 nicht bekämpft, sondern an den Tisch der Grossmächte gelassen, hätte man ganz ohne Millionen von Toten erreicht, was heute der Fall ist: Deutschland ist als stärkster (ökonomischer) Faktor die Zugmaschine Europas.“
    Und zu erwarten, dass irgendein Land unangefochten sich als „Zugmaschine“ aufführen könnte, ob Frankreich oder Deutschland, ist damals wie heute unrealistisch.
    Die heute Verantwortlichen in Deutschland haben diesen Zwiespalt genau erkannt und sind durchaus misstrauisch. Es wäre schade, wenn sie sich von Rattenfängern wie Ferguson verwirren ließen. Deutschland war durch zwei Einzelpersonen an beiden Kriegen schuld und kommt mit dieser Rolle ganz gut zurecht. Einige der comments von Stephan oder Leute, die schnell mal den Michel abschaffen und einen Patrioten erfinden möchten, sind mit Vorsicht zu genießen.
    C.St.: Zu lang, zu tränenreich, nicht gut genug, Einladung für Patrioten und Nationalisten.

    Im Übrigen sind die Bubies/lads/garcons in die Gräben gezogen, weil sie sich nicht wehren konnten. Wer den Kriegsdienst verweigerte, wurde eingelocht oder erschossen. Zusatz: Thomas Mann hat den Ersten Weltkrieg anfangs unterstützt.

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    Ich habe bisher noch kein Buch gelesen wie „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark, das so fundiert die komplexe Bündnis- und Interessenlage der Bündnissysteme auf dem Balkan und in Europa darstellte. Ohne das Buch zusammenfassen oder auf eine Kernthese reduzieren zu wollen, stellt es doch eindücklich dar, dass das deutsche Reich und Österreich-Ungarn die Spannungen auf dem Balkan, die Eindämmung eines irredentischen Serbiens lokalisieren und begrenzen wollten, während die Entente diese Spannungen zu einem Katalysator für eine europäische Auseinandersetzung, einen europäischen Krieg instrumentalisieren wollte, Russland aus panslawischen Intentionen und Vormachtspolitik auf dem Balkan und gegenüber der Hohen Pforte, Frankreich wollte – im Gegensatz zum Deutschen Reich – den casus foederis für den europäischen Krieg. Clarke macht auch deutlich, dass die britische Bündnispolitik weniger durch eine Angst und der Abwehr einer deutschen parvenuehaften Imperialpolitik („Platz an der Sonne“ – das sind doch bloody greenhorns; quod licet Jovi non licet bovi) bestimmt war, sondern durch Einbindung und Eindämmung eines gefährlicheren imperialistischen Konkurrenten, nämliche Russlands in Bezug auf die imperialistischen Interessen am Bosporus, Persien, Afghanistan, Indien und Fernost.

    Posener bezieht sich bei der Darstelllung der deutschen Kriegsziele wohl auf das „September-Programm“, das Bethmann Hollweg zugeschrieben wird und das gemäß der Fischer-Schule Grundlage der gesamten deutschen Kriegszielpolitik gewesen wäre. Mich würde hier interessieren, auf welchen Quellen die „Errichtung eines Ost-Imperiums auf dem Gebiet des heutigen Polen und der Ukraine, aus dem gezielt Polen und Juden zu vertreiben waren“ beruht.

    Zweitens würde mich interessieren, welche „äußeren Kräfte“ nicht an der Peripherie Europas, sondern im Zentrum Europas interessiert sein könnten, nicht nur Interessengegensätze und wirtschaftliche Ungleichgewichte auszunutzen, sondern zu kriegerischen Auseinandersetzungen zu provozieren. Ein klarer Kopf wie Posener, der sich nicht in Wolkenkuckucksheimen aufhält, könnte in der Lage sein, etwas deutlicher Roß und Reiter zu nennen als das Raunen einer delphischen Pythia.

    Natürlich ist es kein Zufall, dass die „Five Eyes“ in der „Anglosphäre“ beheimat sind. Aber was will uns Alan Posener damit in diesem Zusammenhang mehr sagen, als dass es über das Ende des „benevolent“ British Empire hinaus eine Kontinuität gibt? Dass hier die Guten zu Hause sind mit der Pax Britannica, jetzt der Pax Americana? Dem Apologeten eines „benevolent empire“ Alan Posener möchte ich das Buch von Pankay Mishra „Aus den Ruinen des Empires – Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens“ empfehlen.

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    Wenn es diesen „Sündenstolz“ gibt, dann gibt es auch den Revisionismus, der Deutschland porentief rein waschen will. Zwei Seiten einer Medaille wahrscheinlich.
    Unsere Eltern wussten doch schon, daß Nationalismus nur den Eliten als Krücke dient, wenn sie mal wieder versagen. Es gibt viel an dem bürokratischen Monster „Brüssel-Europa“ zu kritisieren, aber wie soll es denn sonst aussehen, wenn auch die jetzige Generation nicht vom Nationalismus lassen will. Was bleibt ihm sonst übrig, als sich um Glühlampen und political correctness zu kümmern?
    Vielleicht ist das ja der einzige Weg zu einem Europa – durch Formulierung und Durchsetzung bestimmter Marginalien und zivilisatorischer Standards einen Rahmen zu schaffen. Vielleicht müssen wir das „Imperium“ neu denken: Eins, das mit DIN-ISO-EN beginnt, so wie es auch mit dem Handel begann.
    Schon unsere Eltern hatten begriffen, daß wirtschaftliche Verzahnung und Reisen eher Kriege verhindern, als unsere Eliten. Tatsächlich scheint auch mir 2014 vieles was heute geschrieben wird (eben auch dieser Artikel in der „Welt“) rückschrittlicher, als das was ich noch aus Kindertagen erinnere. Das ist wirklich ein wenig deprimierend. Daher teile ich Alan Poseners Unbehagen an dem „Unterton“ des Artikels. Und ebenso die Schlussfolgerungen die durch den Bezug auf den Sezessionskrieg u.v.a deutlich wird (wieso liest man das nicht öfter).
    Und wenn – wie es im „Welt“-Artikel steht, daß „einen Menschenrechtsinterventionismus, der sich nicht an nationale Interessen bindet, .. außerhalb Deutschlands kein Mensch.. (versteht)“ glaube ich das so – aber warum muss das eine das andere auschließen? – und was sind eigentlich „nationale Interessen“? Oder ist das so klar, das man damit blamiert, das zu fragen?
    Ja, in diesem Sinne könnte der Welt-Artikel für National-Reaktionäre (was sie auch immer antreibt) verführerisch sein. Und sowas gefällt mir auch nicht.

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    APO: Keynes … So kam es auch. Und deshalb wurden seine Vorschläge nach 1945 eher beachtet, jedenfalls im Westen: Statt Reparationen gab es den Marshallplan; und statt auf die Zersplitterung Europas setzten die Westmächte auf deren wirtschaftliche und politische Union, auf dass Europa, wie Präsident John F. Kennedy 1963 in der Frankfurter Paulskirche sagte, „eine Weltmacht“ werde, die zusammen mit den USA imstande wäre, „die Weltprobleme als vollgültiger und gleichberechtigter Partner anzupacken“.

    … *rofl* der ist gut: … ’45 … keine Zersplitterung Europas … keine Reparationen … vollgültiger und gleichberechtigter Partner (Deutschland?) … und der Marshallplan erst … muhahaha! … werter APo, Sie sind Spitze!

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    Das Wesentliche hierzu fasst Boris Johnson in einer seiner prächtigsten Kolumnen, geschrieben am Siedepunkt, zusammen:
    „It was Germany that pushed Austria to make war on Serbia. It was Germany that declared war on Russia, on August 1 1914. It was Germany that decided it was necessary to invade Luxembourg, and it was Germany that deployed the Schlieffen plan (devised in 1905, incidentally) and sent her troops smashing through neutral Belgium and into France.“ Im Telegraph.
    Man sollte nicht vergessen, dass die Franzosen überrascht waren und daraufhin viel Geld für die Verteidigung ihrer nördlichen Grenze ausgaben, um dann wiederum von Hitler ausgetrickst zu werden. Diese beträchtliche Kriegsschuld lässt sich nicht von der Hand weisen, und die meisten Deutschen würden dazu auch nicht neigen.
    Was Ihren zweiten Teil betrifft, vergessen Sie, dass wir in Europa mit zwei völlig verschiedenen Mentalitäten zu tun haben: Einer mediterranen und einer nördlichen, protestantischen bzw. anglikanischen. Ob die Kirchen dazu beitragen, oder ob es sich um genetische oder klimatische Faktoren handelt (vielleicht eine Mischung), muss dahin gestellt bleiben. Jedenfalls lassen Sie hier außer Acht die Möglichkeit einer Nordzone mit Nordeuro oder auch Gulden oder britischem Pfund oder auch GB separat und einer Südzone. Wo Frankreich sich zuordnen würde, weiß ich nicht. Aber Frankreich ist dabei, sich von Nordzone zu Südzone zu verwandeln, mit der freundlichen Hilfe von Francois Hollande. Der Wechselkurs würde dabei helfen, den südlichen Bereich wieder auf die Füße zu stellen. Dass Süd gegen Nord einen Krieg anfängt, ist zu bezweifeln. Umgekehrt würde Nord sich Süd nicht einverleiben wollen wegen bereits erlebter Probleme. Das wäre der dritte Weg. Der erscheint vernünftig, und den lassen Sie aus. Warum?
    Ob Keynes noch modern ist, muss auch bezweifelt werden. Dies ist eine andere Situation. Die Deutschen sind wirtschaftlich stark, aber nicht enorm gut gerüstet. Alles ist anders als damals. Kein junger Mann will in den Krieg. Jeder hat Freunde in den Nachbarstaaten oder dort Urlaub gemacht. Aber das Ungleichgewicht erzeugt Groll gegen Politiker, Ökonomen, Banker, Wirtschaftsleute, aber auch gegen Korrupte oder Schmarotzer und Klein- wie Großbetrüger.

    Zurück zu I und II: Die Allierten haben den Großkotz vor sich selbst gerettet und den Michel erzeugt.

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    In dem Artikel schwingt auch mit, die EU sei eine Einbindung Deutschlands, weil Deutschland aber nicht gefährlich ist (und es vielleicht auch nie wirklich war?), brauchen wir die EU nicht.

    „Diese Sicht aber liegt jenem Europakonzept zugrunde, demzufolge Deutschland supranational „eingebunden“ werden müsse, damit es nicht erneut Unheil stifte.“

    Das ist einer von vielen Gründen und aktuell nicht mal ein wichtiger. Als ob es Ungarn mit seinen Komplexen, die durchgeknallten Serben und Kroaten, die Slowaken mit ihrem Minderwertigkeitsgefühl, Polen mit ihrem Größenwahn, Rumänen mit ihrem Reinheitsgebot oder den ukrainischen Kryptofaschismus nicht geben würde.

    Aber richtig ist, dass der Ortsverein Freiburg Süd der Grünen eine EU so begründen würde.

    Nochmal: „Die deutsche Selbstbezogenheit ist kontraproduktiv.“ Wie wahr.

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    In dem Artikel von Geppert, Neitzel, Stephan und Weber fällt mir auf, dass es gar nicht um WK1 geht.
    Wenn ich mich an andere Texte der Autoren erinnere, gefällt ihnen die Richtung der heutigen Europapolitik nicht, die Einwanderung ist Mist und gescheitert, die linke Medienhegemonie erdrückt, die faule Unterschicht beutet sie aus, der Staat lässt ihnen gerade trocken Brot zum Leben, Südeuropa macht dolce vita mit ihrem Geld, Öko-Spinner ruinieren das Land und, dass man Deutscher ist, darf man nur flüstern, jeder Bimbo/Mongo/Hartzi wird bevorzugt und hat es besser. Die Behindis haben es gut, sie dürfen ja überall parken. Das übliche Mittelschichtsgejammer – belogen, missbraucht, vergewaltigt. Alles ganz, ganz schlimm. Wenn es im November dunkel ist und regnet, jammere ich gerne mit. Der Andere, der Gegner, ist ein gekreuzter Homunkulus aus Jutta Ditfurth und Jimmy Savile, auf jeden Fall ein Gutmensch. Gegen diesen Homunkulus wird angeschrieben, was das Zeug hält. Da glaubt man wirklich, die Republik wird von einer teuflischen Kindergärtnerin und ihren Freunden aus dem Eine-Welt-Laden heimlich gelenkt und manipuliert.

    Das ist natürlich gerade off-topic zum WK1-Artikel, aber nur wenn man sich das vor Augen hält versteht man ihn. Die zentrale Frage des Artikels dreht sich um Schuld. Nun kann man fragen, warum denkende Menschen Stellung beziehen zu Positionen, wie sie nicht mal mehr der Freundeskreis Nicaraguahilfe mehr formulieren würde. Selbst in Serbien, jeder Objektivität vollkommen unverdächtig, gibt es kaum jemanden, der von deutscher Schuld am WK1 sprechen würde. Warum machen die Schattenboxen mit Karikaturen? Weil sie vollkommen frustriert sind, denn erst dann kommen Fragen der Schuld zum Tragen. Depressive Menschen versuchen Schuldspiralen zu entkommen und sind im Grübeln gefangen, führen imaginäre Streitgespräche und versuchen imaginären Gegner was zu beweisen. Das ständige Gefühl, ein Opfer zu sein.

    Das ist Deutsch. Die deutsche Antifa ist umzingelt von Nazis, deutsche Ökos tragen Schwimmflügel, deutsche Konservative schweigen, weil das Abendland schon tot ist, Integration ist nach 5Jahren schon gescheitert, 1Cent mehr Stromkosten bedeutet die De-Industrialisierung, Waldsterben hatten wir ja schon, an jeder Ecke ein pädophiler Gutmensch, hinter jedem Kennzeichen D das nächste Auschwitz, Wirtschaftswachstum von 0,5% ein deutlicher Beweis für eine düstere Zukunft. Es gibt keine Herausforderungen zu meistern, es gibt nur Katastrophen zu überleben. Die Deutschen sind ein buntes Volk, ein Thema eint aber über alle Standesgrenzen: Alles ganz, ganz schlimm. Böser Weltschmerz.

    Deswegen macht es keinen Sinn in Bezug auf diesen Artikel über historische Zusammenhänge zu sprechen. Es geht um ein Lebensgefühl. Deswegen ist mein persönlicher Höhepunkt des Artikels: Die deutsche Selbstbezogenheit ist kontraproduktiv. Ja, das stimmt, nur sie merken es nicht.

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    Glückwunsch, Herr Posener, zu diesem intelligenten Artikel (und an alle zum neuen Jahr!). Die normale Reaktion auf Sünde ist Scham, Verbergen, Verleugnen; nur ein Psychopath empfindet Stolz. Etwas anderes ist es, wenn jemand anderer Meinung ist und sein Tun gar nicht für so besonders sündig hält. Wenn man tatsächlich „Sündenstolz“ empfindet, dann würde man seine Sünde jedenfalls zelebrieren, sonst wäre es kein Stolz.

    Lernen aus der Geschichte ist ein sehr altes Programm, das aber leider nur sehr selten funktioniert. Geschichte ist zu vieldeutig und kann sehr gefährlich werden, wenn man sie zu aktuellen Zwecken instrumentalisiert, wie es in dem kritisierten Welt-Artikel geschieht. Dann werden Gespenster geweckt (aktuell: nationale). Geschichte, insb. die deutsche Geschichte, ist ein komplizierter Albtraum, aus dem man erwachen sollte. Sofern möglich.

    Ich freue mich jedenfalls, dass Sie, bei all Ihrer Europolemik, die politische Einigung Europas weiter so engagiert unterstützen. Ich meine ebenfalls, dass die Nationalstaaten in absehbarer Zeit nicht abgelöst werden. Allerdings haben sie sich im Zuge der Einigung bereits sehr deutlich (und meist zum Positiven) verändert und werden sich weiter ändern. Irgendwann besteht kein Widerspruch mehr, sondern nur noch eine föderale Spannung zwischen „Bundesstaat“ und „Nationalstaat“. Nationalismus und nationalistische Parteien wird es immer geben. Nebenbei: Es ist schwer zu verstehen, wie man auf den Gedanken kommen kann, dass nationalistische Parteien wie die von Wilders oder LePen bei einer besser funktionierenden, ja optimal verlaufenden europäischen Einigung aus den Parlamenten ausscheiden würden. Es geht lediglich darum, wie stark die sind. Diese Einigung ist ein Wachstumsprojekt im wörtlichen Sinne, ein Work in Progress, wie es ihn, glaube ich, noch nie gegeben hat.

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