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Gegen einen totalitären Laizismus

Vor etwa 2000 Jahren passierte etwas Merkwürdiges mit der Religion. Sie wurde privatisiert. Bis dahin diente der Kultus immer dem Erhalt des Gemeinwesens, genauer: der herrschenden Ordnung.  Herrschenden. Er war staatstragend und wurde vom Staat getragen.

Das Individuum war der Religion gleichgültig; ja in manchen Kulten wurde das Menschenopfer gepflegt. Es ist sicher kein Zufall, wenn das Volk, das zuerst und am deutlichsten das Menschenopfer ablehnte und dessen Propheten fast immer im Gegensatz standen zur Staatsmacht  auch jenen Mann hervorbrachte, der am klarsten den privaten Charakter der Religion betonte: den Rabbi Jesus aus Nazareth.

Seitdem dieser Mann von  Rom – der einem religiös ansonsten sehr toleranten Imperium  – hingerichtet wurde, besteht eine  Spannung zwischen Bekenntnis zur christlichen Religion und Loyalität zum Staat. Und je aufgeklärter und liberaler der Staat ist, desto deutlicher ist diese Spannung. Denn die Religion ist ihrem Wesen nach intolerant: in ihr geht es um letzte Wahrheit; der liberale Staat jedoch basiert auf der impliziten Annahme, dass keine Wahrheit absolut ist: heute regiert diese Partei, morgen jene; und was heute als Wohltat gilt, ist morgen Plage. Einzig der demokratische Prozess selber ist sakrosankt; nicht, weil er auf Wahrheit gründe, oder auf der Weisheit der Wähler,  sondern weil er den Relativismus garantiert. Die personalisierte Religion ist also – so gesehen – der natürliche Feind des Staates.

Daran ändert die Tatsache nichts, dass seit Kaiser Konstantin die Vertreter des Staates immer wieder die Unterstützung der Religion gesucht haben, und dass sich die Vertreter der Religion immer wieder den Herrschenden angedient haben.

Auch der Islam stammt aus der Tradition des Judentums und des Christentums, und es ist infolgedessen nicht richtig zu sagen, dass der Islam die Trennung von Moschee und Staat analog der christlichen Trennung von Kirche und Staat nicht kenne. Mohammed beginnt ja seine Laufbahn als Prophet, indem er sich dem herrschenden Kult und den politisch Herrschenden in Mekka entgegenstellt, ganz wie die alttestamentlichen Propheten. Auch im Islam ist also ein Widerspruch zwischen den Anforderungen der Religion an das Individuum und den Anforderungen des Staats an das Individuum angelegt.

Kemal Atatürk etwa meinte, nur dadurch einen modernen Staat aufbauen zu können, indem er die Religion einerseits unterdrückte, andererseits kooptierte. Mit der Ditib schuf er eine staatliche Religionsbehörde, die staatskonforme Prediger und Moscheen fördert; gleichzeitig verbot er die öffentliche Zurschaustellung privater Religiosität in staatlichen Einrichtungen,  etwa das Kopftuch – ein Verbot, das bis vor wenigen Tagen in der Türke galt. Noch heute finden manche Deutsch-Türken, die in hiesigen Medien oft als „Stimmen eines gemäßigten Islam“ herangezogen werden, um ähnliche Verbote in Deutschland zu rechtfertigen, Atatürks Politik richtig. Dabei hat die Unterdrückung des Islam durch Atatürk und seine vielen Nachahmer in der islamischen Welt erst den Islamismus hervorgebracht. Die Ideologie der Islamisten ist ja nicht originell, sie stellen nur die Behauptung der Modernisierer – Atatürk, Gamel Abdel Nasser, Hafiz al-Assad, Saddam Hussein, Schah Reza Pahlawi usw. – , Islam und Moderne seien unvereinbar, auf den Kopf: umso schlimmer, sagen die Islamisten, für die Moderne.

Wenn wir diesen Konflikt kopfschüttelnd beobachten, sollten wir nicht vergessen, dass wir es keineswegs, wie manche überheblichen und ungebildeten Kommentatoren behaupten, mit einem „mittelalterlichen“ Phänomen zu tun haben. Gerade einmal 140 Jahre ist es her, da das Deutsche Reich unter Otto von Bismarck einen „Kulturkampf“ gegen die katholische Kirche führte, in dessen Verlauf 1800 katholische Geistliche – darunter auch Bischöfe und Erzbischöfe – ins Gefängnis gesteckt, Kirchengüter beschlagnahmt, Klöster aufgelöst, die Tätigkeit der Jesuiten verboten und die Beziehungen zum Vatikan abgebrochen wurden. Dabei ging es um die Vorherrschaft des modernen Staates gegenüber der Religion. Nur standesamtlich geschlossene Ehen sollten gültig sein; den staatlich ausgebildeten, ausgewählten und alimentierten Pfarrern sollte verboten werden, staatskritische Predigten zu halten; der Staat übernahm die Aufsicht über die konfessionellen Schulen. Der Vatikan hingegen erklärte im „Syllabus Errorum“ die meisten Errungenschaften der Moderne, einschließlich der Demokratie, für Teufelszeug.

Aus der Perspektive eines triumphalistischen Laizismus sind Bismarck und Atatürk Helden; doch sind sie auch Vorboten jener Vergötzung des Staates, die in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts führte: in den Ersten Weltkrieg mit seinen Abermillionen, die der „Ehre der Nation“ geopfert wurden, und in die kollektivistisch-totalitären Modelle des Faschismus und Kommunismus.

Es mag verwundern, dass ein bekennender Atheist und ausgewiesener Papst-Kritiker wie ich Verständnis für den religiös motivierten Widerstand gegen staatliche Allmacht äußere. Doch Vorsicht! Was ich lobe, ist der Widerstand, nicht das Motiv. Was ich in Frage stelle, ist der staatliche Allmachtsanspruch, nicht den Staat.

Worum es mir geht, ist die Selbstprüfung der Laizisten. Es gibt einen Punkt, an dem die legitime und notwendige Verteidigung des Laizismus umschlägt in die unnötige und gefährliche Unterdrückung der Religion; an dem der Laizismus im Kampf gegen die Religion, die ja immer einen totalitären, also den gesamten Menschen erfassenden Aspekt hat, seinerseits tendenziell totalitär wird. Wenn in den Niederlanden ein Geert Wilders unter Hinweis auf bestimmte Koran-Stellen behauptet, Islam und Demokratie seien unvereinbar, so dass sich Muslime von ihrer Religion distanzieren müssten, um Zweifel an ihrer Staatstreue zu zerstreuen und das Bürgerrecht zu verdienen, so sind die Gedanken nicht mehr frei, sondern Gegenstand staatlicher Kontrolle und Sanktionen. Das ist Totalitarismus im Namen der Demokratie.

Und wenn etwa der von mir durchaus geschätzte Tilman Jens in der Verabschiedung eines Ausnahmegesetzes, das die Beschneidung in Deutschland gestattet, bereits den „Sündenfall der Demokratie“ erblickt, dann hat er nicht verstanden, dass umgekehrt eine Rechtslage, die jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland tendenziell verunmöglicht hätte, unmöglich als liberal und aufgeklärt gelten kann. Ja, manchmal besteht die Liberalität darin, Dinge zu tolerieren, ja zu verteidigen, die man als Liberaler fragwürdig findet. Jens beendet sein Buch netter-oder perfiderweise mit einem Zitat von mir, in dem ich nicht nur die Beschneidung, sondern auch die religiöse Indoktrination von Kleinkindern kritisiere; in beiden Fällen finde ein Eingriff in die personalen Rechte des Kindes statt, das dauerhafte Folgen hat. In der Regel richte die religiöse Unterweisung sogar  erheblich größeren, weil seelischen Schaden an als die Operation an der männlichen Vorhaut. Ich bin also als Liberaler – und Atheist – durchaus kein Freund der frühkindlichen religiösen Indoktrination. Sollte sich aber der Staat anmaßen, Eltern die Weitergabe ihres Glaubens zu verbieten, also Gedanken zu kriminalisieren, wäre ich der erste (hoffe ich), der sich solchem Totalitarismus entgegensetzen würde.

Die Kritik der Religion ist die Grundlage jeder Kritik; sie darf nicht mit windigen Argumenten wie „Rücksicht“ oder „Respekt“ eingeschränkt werden. Es gibt keinen Grund, die Religion zu „respektieren“, ob es sich nun um Judentum oder Christentum, Islam oder Mormonentum, Scientology, Druidentum oder Schamanismus handelt. Ich persönlich finde viele Schönheiten in den Religionen neben vielen Absurditäten; aber ich bringe ihnen keinen besonderen Respekt entgegen, und ich denke nicht, dass sie intellektuelle Schonung verdienen oder Schutz vor Spott brauchen. Im Gegenteil; zumindest in der muslimischen Welt sind es die Spötter, die Schutz brauchen. Noch einmal: die Religionskritik ist die Grundlage jeder Kritik, der Maßstab der Freiheit.

Allerdings ist die Freiheit der Religion die Grundlage jeder Freiheit. Denn diese Freiheit beinhaltet die Freiheit, einen Glauben zu bekennen, der nicht nur dem Atheisten, sondern den Angehörigen aller anderen Konfessionen als ausgemachten Blödsinn – wenn nicht als Gotteslästerung – erscheint. Die Freiheit der Religion – und zwar der Religionsausübung – ist die größte Herausforderung. Deshalb sind die Freiheit der  Religionskritik und die Freiheit der Religionsausübung nicht Gegensätze, sondern bedingen einander.

Manche Islamkritiker wollen uns einreden, der liberale Staat werde durch seine Nachsicht gegenüber dem Islam gefährdet, die Europäer würden vorsorglich vor der Intoleranz des Islam kapitulieren und sich selbst aufgeben. Es mag sein, dass es hier und dort solche Neigungen gibt, die meistens eher einer falsch verstandenen Romantisierung von Minderheiten entspringen als der Kapitulation vor der Intoleranz. Im Europa der Minarett-, Muezzin-, Burka-,  Kopftuch-, Schächt- und Beschneidungsverbote – von der NSU ganz zu schweigen – ist, scheint mir, die übergroße Toleranz gegenüber dem Islam nicht unser Hauptproblem.

Und was die „christlich-jüdische“ Tradition angeht, die angeblich unsere Kultur bestimmt, so mögen Vertreter der Kirchen in allerlei Gremien sitzen und Vertreter der Juden bei allerlei feierlichen Anlässen hofiert werden; jedoch kann von einer wirklichen Präsenz dieser Tradition in unserer Gesellschaft kaum die Rede sein. Die Kirchen gerieren sich zuweilen als moralische Anstalten oder reklamieren für sich einen besonderen Zugang zur Ethik. Auch als Reaktion auf diese Anmaßung darf man die Empörung über den „Protz-Bischof“ – und die Schadenfreude über eine alkoholisiert fahrende evangelische Bischöfin – verstehen. Die Kirchen mögen also als Machtfaktoren und Moralinstitutionen präsent sein, doch damit verraten sie genau jenes Erbe, das an ihrem Anfang steht: die Abkehr vom Staatskultus hin zur privaten Religion. Die Geschichten, die dieses Erbe transportiert hat, von Adam und Eva, Joseph und Moses, David und Salomon, den Propheten und den Makkabäern, von Maria und Jesus, Petrus und Paulus – diese Geschichten sind immer weniger Menschen präsent – selbst bekennenden Christen. Ich bin als Atheist altmodisch genug, das schade zu finden.

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74 Gedanken zu “Gegen einen totalitären Laizismus;”

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    „Nach jahrelangen, zum Teil gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen beiden gesellschaftlichen Lagern setzten sich die linken und liberalen Kräfte bei den Parlamentswahlen von 1902 durch. Die neue Mehrheit verabschiedete 1905 das Gesetz zur Trennung von Kirche und Staat. Der laizistische Charakter der heutigen Französischen Republik ist also eine direkte Folge der Dreyfus-Affäre und von Zolas offenem Brief.“

    http://de.wikipedia.org/wiki/J%E2%80%99accuse

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    Atatürk war 1915 Kommandeur der 19. türkischen Division in Gallipoli, weitgehend unbekannt und nie der Auffassung, dass Islam und Moderne unvereinbar seien. Allerdings gebe ich Ihnen recht, wenn Sie schreiben, dass ein „totalitärer Laizismus“ eher schadet. Wichtig ist es, eine gesunde Balance zu finden. In der BRD habe ich gelernt, die Religionsfreiheit zu verteidigen. Atatürk wiederum brachte mir die französischen Aufklärer und somit den Laizismus näher.

    Ein neugieriger Deutsch-Türke

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    „Die Religionsfreiheit ist die Grundlage aller Freiheit.“
    Da es meines Wissens keine Gesellschaft gibt, die frei von religiösen Bekenntnissen wäre, trifft es wohl zu, dass Gesellschaften nur dort als frei betrachtet werden können, wo diese ihrem Bekenntnis, bzw. ihren unterschiedlichen Bekenntnissen folgen können.
    Entscheidend dafür, dass diese Freiheit auch als solche wahrgenommen werden kann, ist die Nichteinmischung des Staates (der Staatsmacht) in die religiösen Belange der Glaubensgemeinschaften.
    Wo „Religion“ allerdings identisch mit „Staatsmacht“ sein möchte, also allgemeine Geltung für alle Teile der Gesellschaft beansprucht, befördert sie die Freiheit des Bekenntnisses in die Bekenntnis-Diktatur.Ist das jetzt „Laizismus“, oder „Säkularismus“ oder was?

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    EJ:„Ich halte nicht für ausgeschlossen, dass ich, eher traditionell fixiert, unter den “Spinnereien” und “Verrücktheiten”, die mir allerorten begegnen, lediglich den thematischen Wandel der Religion nicht erkenne.“
    Sie ahnen da was?

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    Das Individuum wird m.E. nicht (allein) durch Religion, nicht mal durch allgemeine religiöse Erfahrungen konstituiert. Es wird durch viele verschiedene Dinge konstituiert, insb. aber durch seine Sprache. „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt.“ Aber auch die Musik, der künstlerische Ausdruck, das Malen, wie ich es bei den KLindern sehe – all dieses bedeutet ihre Freiheit, ihre Selbstkonstituierung. Es ist nicht alles religiöser Natur.

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    …achso, KJN, der zweite Satz „Du sollst nicht stehlen“ ist zweifellos der bessere, der zu einem glücklicheren Menschen führt.

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    Ich möchte Punkt zwei oben illustrieren, damit man das besser verstehen kann. Ich kann mich an viele Situationen erinnern, die für mich eine Grundlage der Freiheit bedeuten. Jeder kann das vermutlich. In meinem Fal hat keine dieser konkreten Situationen etwas mit einer konkreten Reliogion zu tun.

    Schulfrei zu haben wäre ein Beispiel. Ich bin nicht gern zur Schule gegangen. Wir, 3-4 Freunde, sind am Nachmittag nach der Schule oft ins „Kirschenhain“ zu unserem „Gammelplatz“ gegangen, der ein kleiner Hügel war. Dort saßen wir und gammelten herum, d.h. taten nichts, oder spielten z.B. die „185 sensationellen Stunts & einmaligen Crashs“ aus der Werbung zum damals aktuellen Film Mad Max nach, indem wir uns spektakulär den Hügel runterkullern ließen, ganz wie der Wombat oder der Bilch aus dem Monolog des Prinzen von Hamburg.

    Dies würde ich als eine Grundlage meines persönlichen Freiheitsbegriffs begreifen. Eine Religion kann ich da nicht erblicken. Wenn die Religionen kommen und sagen, aber genau das ist ja unser Thema, dann habe ich das Gefühl, dass die Religionen wieder ihren großen Staubsauger angeworfen haben, mit dem sie alles Werthaltige an sich saugen (vom Geld hatten wir ja bereits im letzten Thread gesprochen). Aber vielleicht trügt dieses Gefühl, dann wäre ich u.U. bereit zu akzeptieren, dass solche kleinen, zahllosen und immer individuellen „Offenbarungen der Freiheit“ religiös genannt werden und entspr. die Religion für die Freiheit die Grundlage liefert, so dass man also sagen könnte: Die Religionsfreiheit ist die Grundlage aller Freiheit. Aber ich muss sagen, da knirscht es schon gewaltig im Gebälk der Begriffe.

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    Ich muss noch darauf eingehen, dass Sie und KJN ja noch viel mehr gesagt haben, welches Ihnen wahrscheinlich viel wichtiger ist. Inwiefern der Laizismus die Religionen austrocknet und damit uns ärmer macht. Der Laizismus, soweit ich ihn verstehe, nimmt doch eine sehr neutrale und zurückhaltende Position ein. Eine Art Aufseherrolle zwischen den Religionen. Er macht normalerweise gar nichts, sorgt nur in seltenen Fällen dafür, dass Religion 1 nicht Religion 2 die Köpfe einschlägt und dass es innerhalb einer Religion nicht zu Übergriffen kommt.

    Wenn dem so wäre, kann er für die in Frage stehende Austrocknung nicht verantwortlich sein. Wenn es wirklich eine Austrocknung gibt, hätte die andere Gründe. Möglicherweise den Grund, dass weder Religion 1 noch Religion 2 genügend Überzeugungskraft haben? Oder dass Religion 1 durch die reine Anwesenheit von Religion 2 entwertet/relativiert wird? Vielleicht auch, wie KJN vermutet, dass die Wissenschaft (die nicht mit dem Laizismus zu verwechseln ist) zu einer Religion 3 mit mehr Überzeugungskraft, aber weniger Sinnstiftung mutiert ist?

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    @EJ: Sie haben einen sehr interessanten Einwand gegeben, der mich zu später Stunde aus dem Wochenende an den Rechner zurücklockt. Falls ich den Einwand recht verstehe. Sie bezeichnen Religion als „den totalen Anspruch auf menschliches Leben und Zusammenleben“.
    Da gibt es kein Außerhalb – jeder ist religiös, denn auch nicht zu glauben wäre ein Glaube. Verstehe ich das richtig? Dann hätte jeder eine bestimmte Religion, d.h. Annahmen, die das menschliche Leben und das Zusammenleben betreffen.

    Dazu möchte ich zwei Sachen sagen.

    1.) Dies kann man so sehen, dann benutzt man allerdings die Bezeichnung „Religion“ als erweiterten terminus technicus für ein bestimmtes Set an Meinungen, die „das menschliche Leben und Zusammenleben“ bezeichnen. In diesem Sinne wäre jeder religiös. Selbst in der von mir angeführten Geschichte wären sowohl Vater als auch Sohn jederzeit in der Lage, ihre Meinungen zu diesen Themen zu sagen bzw., falls sie noch nie darüber nachgedacht haben sollten, zu entwickeln. Und wenn man jede Einstellung dazu als religiös einstuft, dann hat jeder eine Religion. Und dann könnte man in der Tat sagen, dass dieser Komplex an Meinungen grundlegend für die Freiheit ist.

    Das erste Gegenargument ist ganz einfach und technischer Natur: Dieses ist nicht unsere normale Auffassung von Religion. Wir bezeichnen sowas eher als Ethik, aber auch im Bereich der Ethik akzepzieren wir normalerweise, dass es Menschen gibt, die überhaupt keine Ethik haben. „Religionsfreiheit“ meint aber die Freiheit nicht aller ethischen und unethischen Positionen, sondern ganz bestimmter Religionen. Sie können ja Herrn Poseners Einwand zu Argument zur Witwenverbrennung oben nachlesen, falls Sie das bezweifeln. Witwen will keiner verbrennen lassen; es geht um ganz bestimmte Dinge (wie Beschneidung).

    2.) Ein grundlegendes Argument: Was ist eine Grundlage? KANN unsere allgemeine Freiheit überhaupt Grundlage für unsere konkreten Freiheiten sein? Oder verhält es sich nicht gerade umgekehrt?

    Ich will ohne zu fackeln bekennen, dass ich glaube, dass unsere konkreten Freiheiten die Grundlage für unser allgemeines Freiheitsverständnis bilden. Frei zu sein von einer bestimmten Pflicht – das ist die Grundlage, wenn wir überlegen, ob wir vielleicht sogar immer und grundsätzlich frei sind oder nicht.

    Ähnlich wie die Moral: nicht unser allgemeines Verständnis vom Guten bildet die Grundlage, wann wir etwas als „gut“ bezeichnen. Sondern erst bezeichnen wir etwas Konkretes als „gut“ (ein guter Fußballer, ein guter Koch, ein guter Sänger), und dann entsteht daraus unser allgemeines Verständnis von „gut“.

    Eine Begründung dafür kann ich nicht liefern. Aber meine Kindern lernen so ihre allgemeinen Begriffe. Ich glaube, dass es sich so verhält: dass unsere Freiheit, uns allgemein im Leben zu positionieren und einen allgemeinen, philosophischen, ethischen oder auch religiösen Standpunkt zur Freiheit zu entwickeln, abhängt von unseren ganz kleinen, konkreten, kindlichen, verschiedenartigen Freiheiten im Alltag. Und nicht umgekehrt.

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    @ Roland Ziegler: dass die Religion vom Staat eingeschränkt wird und dass das auch gut so ist.

    Ja. (Die „Kirchenhoheit“ des Staates wird in Deutschland durch Verfassung und Staatskirchenrecht gewährleistet.)

    Wäre das anders, würden wir wahrscheinlich noch auf einer Scheibe leben.

    Nein. Die „Scheibe“ ist eine Mittelalter-Projektion des der Romantik bzw. des 19. Jahrhunderts. Dass man im Mittelalter an die „Scheibe“ glaubte, war eher die Ausnahme. (Die „Kugel“ gibt einer geozentrisch gedachten Welt ja überhaupt erst eine „vollkommene“ Gestalt.)

    Jawoll: „Samstags gehört Vati mir!“ Ihnen und Ihrem Anhang ein schönes Wochenende!

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    Gegen einen totalitären Laizismus

    ‚Aus Sicht der Bürger Europas ist klar: Das ist keine Demokratie, sondern ein Funktionärs-Herrschaft. Die Macht in der EU geht nicht vom Volk aus, sondern von einer Feudal-Elite – die wild entschlossen ist, ihre Pfründe so lang zu verteidigen, bis der Mann an der Spitze aussieht wie Erich Honecker.‘

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    @Roland Ziegler: Religionsfreiheit kann man als Grundlage von Freiheit betrachten, wenn man historische Betrachtungen anstellt oder wenn man ungefähr so etwas meint wie Herr Gauck, wenn er von “Freiheit zu Verantwortung” redet (oder waren das die Grünen?).

    Sehe ich nicht so. Wenn Sie (mit APO) Religion als den totalen Anspruch auf menschliches Leben und Zusammenleben verstehen, konstituiert Religionsfreiheit einen Raum, in dem sich die Freiheit zur Religion mit der Freiheit von Religion kombinieren. Die Freiheit zur Religion gibt Ihnen jede Freiheit zur Religion, meine Freiheit von Religion verbietet Ihnen aber jeden religiös motivierten Übergriff auf mich. (Und selbstverständlich gilt das auch umgekehrt.) Damit konstituiert Religionsfreiheit die Freiheit des Individuums, genaugenommen überhaupt erst das Individuum. Wir dürfen glauben (und glaubend tun), was wir wollen, in den Grenzen, die Ihnen und mir solchen freien Glauben ermöglichen. – Worauf das politisch hinausläuft, liegt auf der Hand.

    APOs Sorge um ein Zuviel des (staatlichen und(!) gesellschaftlichen) Laizismus würde ich (bis zu einen gewissen Grade auch im Sinne KJNs) insofern teilen, als es womöglich die Tendenz gibt, das Individuum religiös verarmen und austrocknen zu lassen. Das hielte ich für eine katastrophale anthropologische Amputation und für eine potentiell tödliche Reduktion unseres Freiheits- und Gestaltungswillens. (Naheliegende Anspielung auf die entpolitisierte Kanzlerin, aber etwa auch auf das entpolitisierte, visionslose Europa, erspare ich mir.) Ich bin mir aber nicht wirklich sicher, ob es diesen Verarmungs- und Austrocknungsprozess tatsächlich gibt. Ich halte nicht für ausgeschlossen, dass ich, eher traditionell fixiert, unter den „Spinnereien“ und „Verrücktheiten“, die mir allerorten begegnen, lediglich den thematischen Wandel der Religion nicht erkenne.

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    Ich muss jetzt allerdings dringend ins Wochenende. Dazu, zur Jahreszeit und generell zur Freiheit ein passender Text von R. Gernhard

    Wie?
    Dürft ich nicht mehr, wie ich wollte?
    Ich wollt – und dürft es nicht?
    Dürfts nicht, obwohl –
    Ihr Götter!
    Ich es wollte?
    Ich dürfte nicht mehr? Wie ich wollte?
    Ich wollt – ein Beispiel nur,
    Eins unter vielen:
    Ich wollte beispielsweise dürfen –
    Und dürft es nicht?
    Dürft – Himmel! – dürfte nicht mehr dürfen?
    Wo doch der Hamster darf? Der Bilch?
    Der Wombat?
    Jedwede Kreatur?
    Ja, selbst die Haselmaus? Sie darf!
    Darf, wenn der Sinn ihr danach steht, zu wollen,
    Sich rücklings von der Hügel höchstem rollen,
    Darf wachen, lesen, lange Briefe schreiben
    Und hin und her durch die Alleen
    Unruhig huschen, wenn die Blätter treiben –
    Sie darf. Und ich dürft nicht?

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    @KJN: Ich will Ihnen da nicht widersprechen. In weitere Tiefen will ich eigentlich gar nicht vorstoßen, schon gar nicht am Wochenende, sondern nur das Offensichtliche feststellen: dass die Religion vom Staat eingeschränkt wird und dass das auch gut so ist. Wäre das anders, würden wir wahrscheinlich noch auf einer Scheibe leben.

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    @R.Z.
    „“Du kannst alles tun was du willst, du darfst dich nur nicht erwischen lassen.”
    vs.
    „Du sollst nicht stehlen.“
    Es geht also darum, Diebstahl zu vermeiden. Mit oder ohne Religion.

    Welche der beiden Leitsätze führt in der Erziehung angewendet – Ihrer Meinung nach – zu einem zielgerichteter handelnden, erfolgreicheren, selbstbewussteren, glücklicheren Menschen?

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    ..und wenn Bundespräsidenten von “Freiheit zu Verantwortung” schwurbeln, ist das genau die derzeitige staatstragende Stiftung von Verwirrung.

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    @R.Z.
    Sie laborieren immer noch an einer Beschränkung der „Freiheit“ von Religion, die Sie hierzulande für nötig halten. Die Zeiten sind aber schon länger vorbei. Heute ist es vulgärintellektueller Konsens, sich über religiöses lustig zu machen. Dabei verspielt man tiefere Einsicht. Es zeigt sich doch, daß der Staat, unsere Gesellschaft gar nicht in der Lage ist und in Zukunft noch viel weniger in der Lage sein wird, erforderliche moralische Orientierung zu liefern. Das beginnt bei Jugendlichen, die sich entweder „ritzen“ oder Extremisten anschließen und endet bei Wirtschaftsakteuren, die jegliche moralische Verantwortung vor der Drehtür ihrer Firma ablegen, sowie einer Politik, die sich vorwiegend mit Strategien für den eigenen Machterhalt befasst.
    Sie schreiben über Religion: „“Wir sind heilig, tastet uns nicht an!” Genau das tut aber ein wissenschaftlich-säkularer mainstream, wenn er seine „Glaubenssätze“ auf der Ebene von religiösen Glaubenssätzen meint diskutieren zu müssen. Etwa nach dem dämlichen Motto: Das kann ja gar nicht sein, daß Gott die Welt in 6 Tagen erschaffen hat. Ich habe stets am konservativen Katholizismus kritisiert, wenn er nach scholastischer Manier Gott wieder in die Wissenschaft einbauen will – ich halte das (mit den heutigen Kenntnissen), für intellektuell unredlich. Genauso intellektuell unredlich ist aber die Überheblichkeit vieler Naturwissenschaftler (vor allem der Fraktion der wissenschaftsgläubigen Jünger von Stiftung Warentest, Ökotest etc.), theologische Fragen naturwissenschftlich zu bearbeiten, was ich im harmlosesten Fall für Zeitverschwendung halte. Das ist Schach nach den Regeln von Mühle, also sinnlos. Aus dieser Sinn- und Geistlosigkeit erwächst aber eine Gefahr: Falsche Überheblichkeit, die uns in Form von Depression, Burnout, Kinderlosigkeit, kaputten Beziehungen, Lebensfeindlichkeit, einer komplett demoralisierten Bevölkerung, die sich in ihrer infantilen Debilität von einem „vernünftig handelnden“ alles organisierenden Nanny-Überstaat abhängig macht – und ein leichtes Opfer für eine andere vollreligiöse Alternativgesellschaft wird. So!

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    Um es explizit zu machen: Die beiden letzten Sätze hätten korrekt so lauten müssen: „Die [Religion] hat mit dieser Geschichte nicht das Geringste zu tun. Die Geschichte hat aber sehr viel zu tun mit Freiheit und Staat.“

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    @KJN: Weder Vater noch Sohn waren religiös. Eine Bank zu überfallen und eine Angestellte dabei zu erschießen ist zumindest nicht sehr chrisltich.

    („Der letzte Satz“ war einfach grammatikalisch missglückt und hatte einen falschen Bezug; mehr meinte ich nicht.)

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    @derblondehans

    … ooops? … Nachtrag:

    … Jesus selber in Johannes 14: ‚Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich.

    Wenn ihr mich erkannt habt, werdet ihr auch meinen Vater erkennen. Schon jetzt kennt ihr ihn und habt ihn gesehen.‘

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    Aber egal wie man zu den Grundlagen der Freiheit steht, in jedem Fall bedeuten die Antworten von Herrn Posener eine deutliche Einschränkung der Religion. Die Religion darf nicht (immer) so, wie sie (manchmal) gern will. Daran darf man sich nicht vorbeimogeln.

    Und dieses Bekenntnis zur notwendigen Beschränkung der Religion bedeutet umgekehrt auch nicht die Forderung nach Abschaffung der Religion. Sowohl der absolute Freiheitsanspruch der Religion („Wir sind heilig, tastet uns nicht an!“) als auch die Befürchtung, dass mit einer Einschränkung gleich ein „totalitärer Laizismus“ verbunden wäre, der religiöses Leben verunmöglichen würde, sind übertriebene Reaktionen, die in keinster Weise die gesellschaftliche Wirklichkeit hierzulande treffen.

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    Religionsfreiheit kann man als Grundlage von Freiheit betrachten, wenn man historische Betrachtungen anstellt oder wenn man ungefähr so etwas meint wie Herr Gauck, wenn er von „Freiheit zu Verantwortung“ redet (oder waren das die Grünen?).

    „Freiheit zu Verantwortung“ ist aber kein einfacher Ausdruck, sondern zweigeteilt: erst bin ich frei, und dann kann ich, sofern ich will, verantwortlich sein. So ähnlich wie wenn ich sage: Ich bin frei zum Gitarrespielen. Das bedeutet, ich WILL eigentlich Gitarre spielen (oder verantwortlich handeln), habe aber im unfreien Zustand keine Möglichkeit dazu. Erst wenn ich frei bin, d.h. kein entgegengesetzter Zwang herrscht, kann ich Gitarre spielen (oder Verantwortung ausüben).

    Im Prinzip ist „Freiheit zu Verantwortung“ genauso sinnvoll oder sinnlos wie wenn man sagt: „Freiheit zu Verantwortungslosigkeit“. Ein tatsächlicher (gelegentlicher) Wunschtraum vieler Eltern. Und das beweist, dass Freiheit mit Verantwortung nichts zu tun hat (und dass es „Freiheit zu“ strenggenommen nicht gibt).

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