Bundespräsident Christian Wulff hat endlich sein Thema gefunden: Freundschaft. „Ich möchte nicht Bundespräsident in einem Land sein, in dem man sich bei Freunden kein Geld leihen kann“, hat er bei seinem gestrigen Interview verkündet.
Klingt logisch, dachte ich mir. In so einem Land möchte ich auch nicht leben, dachte ich weiter. Aber weil ich schon am Denken war, stellt sich eine Gedankenschraube in meinem Gehirn quer. Alarmglocken läuteten, und auf meinem Display erschien die Frage: „Was erzählt der Mann da? Darum geht es doch gar nicht!“
Es geht darum, dass ein führender Berufspolitiker (Ministerpräsident, Bundespräsident), wenn er sich von Freunden Geld leiht, dies transparent machen muss, statt immer gerade an der Wahrheit vorbei zu schrammen. Aufklären statt tricksen, die Dinge klarstellen statt vernebeln.
Darum geht es. Aber Christian Wulff hat auch für dieses Verhalten eine Erklärung. Er sei noch nicht wirklich Bundespräsident, sondern Bundespräsident-Lehrling.
Diese Behauptung stimmt tatsächlich. Er entspricht immer noch nicht den Anforderungen des höchsten Staatsamtes. Nun ist auch dieses Argument ein Schein-Argument, also wieder Nebel.
Nicht ein politikferner Mensch ist plötzlich ins Schloss Bellevue eingezogen. Der könnte sich vielleicht mit diesem Argument retten. Sondern ein jahrzehntelang erfahrener Berufspolitiker, der immerhin Ministerpräsident eines wichtigen Bundeslandes war.
Ach ja, bevor ich es vergesse: Christian Wulff hat gestern klargestellt, er steht für die Pressefreiheit. Na sowas, dachte ich mir, welch eine grandiose Aussage. Und entschuldigt habe er sich immerhin auch beim Bild-Chefredakteur.
Er habe sich als Opfer gefühlt. (Nanu, dachte ich mir). Immerhin wollte er doch nur, dass der Bild-Artikel einen Tag verschoben wird. Was muss ich ein paar Stunden später aus der Chefredaktion der größten Tageszeitung Deutschlands erfahren? Wulff hat auf der Mailbox nicht auf einen Tag gekämpft, sondern um das Verschwinden des ganzen Artikels.
Jetzt bin ich also wieder traurig. Hat mein Bundespräsident ein so schlechtes Gedächtnis oder ist er gar ein Lügner?
Andererseits freue ich mich über seine nächsten Fernsehauftritte, wo er wieder mir und der ganzen Welt erklären wird, dass er ein Opfer ist. Völlig missverstanden wird, aber dass er sich bei dieser Gelegenheit für sich und alle die ihn schlecht behandeln, mal wieder entschuldigt.
@Kerstin: Mehr Zivilcourage zu fordern ist ja gut, aber wenn es nicht klappt, d.h. im Ernstfall niemand aufsteht und hilft, dann wirkt es hilflos, über das schweigende Kollektiv zu schimpfen. Zivilcourage ist ein schwieriges soziales Verhalten, das eine Risikoabschätzung voraussetzt. Es ist nicht sinnvoll, unausgebildet einzugreifen, wenn vier Glatzköpfe in einer fast leeren S-Bahn einen Fahrgast mit Baseballschlägern attackieren. So etwas muss trainiert werden, am besten in der Schule.
Was die Fußballweltmeisterschaften angeht: Wenns Spaß macht, soll jeder gerne herzlich hupen und mit den Fahnen wedeln. Ich selber sitze lieber in der Fußballkneipe und nehme am kollektiven Besäufnis vor der Großbildleinwand teil. Wenn dann der Kater kommt, geht mir das Rumhupen und Fahnenwedeln auf die Nerven, und ich frage mich wieder einmal, warum ich in der Großstadt wohne. (Eine Antwort gibt mir dann ein Erholungsausflug in die Brandenburger Dörfer…) Andere stellen sich mitten in die 1000köpfige Meute vor das Brandenburger Tor und erleben ein sehr enges „Wir-Gefühl“ 🙂 Ist Geschmackssache, aber eigentlich kein Problem.
@BlonderHans: Wenn der Hohe eriedrigt und der Niedrige erhöht wird, ergibt sich doch irgendsowas wie Sozialismus. Denke ich. Oder? 😉
@Roland Ziegler: Die Sache mit dem schweigenden Kollektiv und deren Auflösung ist ein wenig wie beim Fußball und den Standardsituationen. Im Training werden mögliche Angriffs- und Verteidigungssituationen geübt, diese werden möglichst automatisiert, vor allem auch das Bewusstmachen von Problemsituationen. Ich hatte mich ein wenig mit Gruppenverhalten beschäftigt, ich wollte wissen: Warum gibt es die schweigende und zum Teil mitmachende Masse wider besseren Wissens? In der DDR konnte ich dies ja auch an mir beobachten. Dies erklärt sich für mich mit Ideologie und der Angst durch die Drohung von Repression. Wir haben damals als Schüler das Prinzip der schweigenden Gruppe trainiert, auch als Teil einer schuldig gewordenen Gruppe.
Im Fernsehen habe ich dann eine Sendung über Zivilcourage gesehen, man hat Schülern erklärt, wie solche Situationen, wie im Zug, funktionieren und was man unternehmen kann, um sich selbst möglichst nicht zu gefährden. Wenn der Einzelne nicht aus der Masse heraustritt und versucht die Masse zu mobilisieren, werden sich die Angriffe auf andere oder einen selbst fortsetzen. Gleichzeitig bringen die Medien aber auch Geschichten über Verletzte und sogar Tote in solchen Situationen. Ich hatte richtig Angst, gleichzeitig wollte ich einmal nicht feige sein und er ging ja weiter.
Die Fußballweltmeisterschaft 2006 fand ich im Übrigen toll, obwohl ich mich nicht für Fußball interessiere. Überall diese Lebensfreude und auch die Fahnen störten mich nicht. Nach der deutschen Einheit mochte ich die deutsche Fahne und Nationalhymne überhaupt nicht, während ich in der DDR überhaupt kein Problem hatte, mich mit der Fahne und der Nationalhymne der DDR zu identifizieren.
Nachtrag:
… möchte damit sagen, der ‚Stärkere‘ muss nicht zwangsläufig der ‚Stärkere‘ sein. Und das ist auch gut so. Bei den Christen geht das so: Lukas 14; 11 Denn wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt, und wer sich selbst erniedrigt, wird erhöht werden. 😉
Lyoner: 9/11?
… ein ‚System‘ überhöht sich selbst … oder Dschihad – wie sie ’s selber nennen …
@derblondehans: Es sollte ein Familienausflug nach Babelsberg werden: 2 Kinder, die Oma und ich. Ich habe gedacht: Warum ich? Das auch noch mit 2 Kindern. Dann habe ich die Szene verfolgt, zunächst war mir nicht klar, ob es nur ein Gespräch war, der Inhalt war dann doch eindeutig, außerdem wurde er immer lauter. Irgendwie habe ich ihn dann angesprochen und gebeten weiter zu gehen. Gleichzeitig war jemand etwas weiter weg aufgestanden und hat sich nach meiner Reaktion sofort wieder hingesetzt. Er versuchte eine Diskussion mit mir anzufangen, es ging irgendwie um eine Demo in Leipzig. Zusätzlich musste ich meine Mutter beruhigen, die zunehmend wütend wurde. Ich wollte nur dass er weit wegging. Als er endlich fort war, stellte sich bei mir das Programm: Selbstrettung ein. Der Ausflug war dann soweit o. k. Eine Weile habe ich mich gefragt, ob man wirklich ein hebräisches Buch im Zug lesen sollte. Ja, warum eigentlich nicht.
@Roland Ziegler und EJ: Zweite Variante: Bei manchem Schüler kann sich diese Art der Konfliktlösung zu einer Problemlösungsstrategie entwickeln, eventuell mit immer niedrigerer Hemmschwelle.
@Roland Ziegler und EJ: Um auf ihr Beispiel Kollektiv (Internat) zurückzukommen. Für mich gibt es einen Zusammenhang zwischen schweigendem und rasendem Kollektiv. Ich denke, die ohnmächtige Wut wurde aufgestaut durch ein allseitiges Schweigen. Die Schüler erdulden, die Behandlung durch den Lehrer, weil sie Abhängige sind bzw. es nicht anders kennen. Jeder hofft nicht der Nächste zu sein, wobei ja allen die gleiche Behandlung blüht, es scheint normal. Der Lehrer ist die Autorität. Dann regiert ein Schüler (das Individuum) spontan und die auch bei allen anderen aufgestaute Wut entlädt sich. Die Schüler, die ihr Fehlverhalten erkennen (unmenschlich?), können sich nicht vom moralischen Druck befreien und ordnen sich wieder den alten Bedingungen unter. Wenn keine Hilfe von außen kommt, funktioniert das System weiter.
@Kerstin 13. Januar 2012 um 09:40
… und Sie? was haben Sie getan?
@Kersin: so ist es. Alle Leute im Zug sind dann von derselben Angst gelähmt, sie werden von ihr beherrscht, die Angst fügt sie zu einem Kollektiv des Schweigens zusammen. Es wäre schön, wenn jemand den Mut fände, aus diesem Kollektiv aussteigen, aber das ist schwer, aus zwei Gründen: Erstens ist es mit einem erheblichen Risiko verbunden, dass man selbst ins Visier der Angreifer gerät, und zum zweiten ist man als Mitglied eines solch „engen Kollektivs“ nicht mehr im Besitz all seiner Eigenschaften, z.B. seiner Urteuilsfähigkeit: Man hat nur noch Angst und sieht das Geschehen mit Tunnelblick.
@Roland Ziegler: Ein locker verbundenes Kollektiv von Individuen – wie EJ’s Ansammlung individueller Schüler – kann sprunghaft in ein engeres Kollektiv von Elementen übergehen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden. (Ihre Quelle)
Ein Kollektiv kann auch in ein Kollektiv des Schweigens übergehen. Meine größte Furcht war einmal, dass ich in einem öffentlichen Verkehrsmittel Zeuge einer Belästigung von Personen werde. Wie werde ich dann reagieren? Werde ich die Situation erkennen? Kann ich mich erinnern, was man im Fernsehen erzählt hat? Dann ist es passiert im Zug Berlin-Potsdam: Ein Mann hat ein hebräisches Buch gelesen und wurde daraufhin mit antisemitischen Parolen belegt. Ein lockeres Kollektiv der Reisenden: nichts sehen, nichts hören, nichts sagen. Angst.
Dabei kann es zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen kommen, weil die Kontrollinstanz des Individuums weggeschaltet wird. Was bleibt sind elementare Kräfte, die evt. entfesselt werden. (Ihr Zitat) Ich denke es ist ohnmächtige Wut, die sich dabei entlädt.
@Jean-Luc Levasydas: Die sophisticated Methoden werden wohlgemerkt VOR dem Spiel, im Training angewendet. Sie dienen dazu, Spielprozesse zu automatisieren, wa snichts anderes heißt, als dass diese OProzesse im spiel automatisiert ablaufen sollen. was bedeutet, dass die spieler nicht denken, sondern einfach machen sollen. Es sind Methoden der Abrichtung, die darauf abzielen, dass etwas „verinnerlicht“ wird.
Man sagt ja so schön: „Wichtig ist auf dem Platz“. Dort stehen höchst trainierte Mannschaftselemente, die ihr Programm – sie nennen es „Leistung“ – „abrufen“ sollen. Natürlich gibt es auch strategische Genies, die komplexere Überlegungen während des Spiels aufführen müssen. Diese Überlegungen beziehen sich aber nicht auf da sWelt-, sondern nur auf das Spielgeschehen; auch bei den „Führungsspielern“ erfolgt also eine Reduktion des Bewusstseins.
Ich meine das übrigens weder kritisch noch distanziert. Das Ganze ist ein Spiel der besonderen Art, und weil es ein Spiel ist, liebe ich es in seiner Art.
Ich möchte die Überlegungen zum „Selbsthass der Deutschen“ noch etwas fortführen. Was könnte das heißen, die Deutschen würden sich hassen? Gemeint ist offenbar nicht, dass sich die Deutschen jeder für sich hassen würden. Oder wenigstens ein gemäßigtes Bild von sich und seinen Fähigkeiten hätten. Das wäre ja gar nicht so schlecht, Bescheidenheit ist ja nichts Unsympathisches. Nein, sie hassen sich nicht, sie lieben sich sogar, sie halten sich für gerecht, schlau und jederzeit schlecht behandelt. Eher trifft also das Gegenteil zu, bzw. sogar beide Gegenteile von Selbsthass: Selbstliebe und Fremdenhass.
Der „Selbsthass der Deutschen“, wenn er denn überhaupt etwas bedeutet, bezieht sich also auf etwas anderes: aufs Kollektiv. Die Deutschen lehnen ihr Kollektiv – im Sinne von „Volk“ – mehrheitlich ab. Und dies ist ungefähr das Sympathischste, was man von ihnen sagen kann und was sie tatsächlich anderen Nationen, die sich etwas darauf einbilden, voraus haben.
Es geht um die gemeinsame Schublade, die Kategorie, die das Kraut mit den Rüben zusammenpackt. Für diese kategoriale Skepsis gibt es die verschiedensten Gründe. Die Kleinstaaterei der Urzeit, der gigantische Schiffbruch während der Nazizeit, die Heterogenität der Bevölkerung in der multikulturellen Gesellschaft von heute und nicht zuletzt die Hässlichkeit der „Leitkultur“, d.h. der kulturellen Vorstellungen der größten indigenen Bevölkerungsgruppe, sofern es da eine Einheitlichkeit gibt.
Was ist denn der Stil dieser Leute, wenn es einen Stil und nicht Stillosigkeit gibt? Als ich im Sommer durch die ländlichen Gebiete am Schwarzwald in Richtung französische Grenze gefahren bin, bot sich mir das gleiche Bild, wie ich es aus meiner niedersächsischen Heimat kenne, sogar noch verschärft. Ein Fanatismus in der Kleingärtnerei, bei der jedes überstehende Blatt, jeder Grashalm auf das Säuberlichste getrimmt ist, die Straßen geleckt sind, die Menschen bei der Arbeit, jedes Geräusch verursacht misstrauische Blicke, man bekommt ein schlechtes Gewissen, ohne etwas getan zu haben außer mit lärmenden Kindern und einem Riesenhund durch „ihre“ Straßen zu gehen. Wenn man dann über den Rhein nach Frankreich fährt, ist es, wie wenn ein Schalter umgelegt wird: Plötzlich sind die Gräser hoch, die Leute bunter gekleidet, sogar Unkraut ist zu sehen. Man bekommt das Gefühl, dass sogar die Luft sich freier und angenehmer atmen lässt, was natürlich nicht stimmt: Die Luft in Süddeutschland ist frei und angenehm, die deutschen Weinberge sind schön, die Sonne meint es gut, alles wäre wunderbar, wenn nur diese Leute nicht wären, die Deutschen mit ihrem akribischen Fleiß, ihren komischen Vorstellungen, ihrem Unterwerfungswillen im Kleingarten und daneben die begradigte, beschnittene, vergewaltigte Natur, die so schön hätte werden können, wenn man sie frei ließe.
Wie gesagt: Nicht immer und überall ist es so, bei weitem nicht: Wir haben inzwischen eine Heterogenität, eine Multikulturalität, eine Freiheit auch bei den sog. Biodeutschen, die einem das Leben hier angenehm macht. Da sist da sbeste hier, und das sorgt gleichzeitig dafür, dass es ein Kollektiv, das man lieben könnte, nicht mehr gibt, sondern nur einen lockeren Verbund, einen demokratischen Staat. Ich bin sehr froh darüber.
@Roland Ziegler
Ist es tatsächlich beim (Profi)Fußball Instinkt? Wenn ich mir anschaue welche sophisticated Methoden mittlerweile bei Fußball eingesetzt werden, habe ich zunehmend Zweifel ob der Instinkt tatsächlich noch so ein großes Gewicht hat.
Aber das kann uns als Zuschauer sicherlich Klinsmann oder Löw besser sagen
@Lyoner
sorry aber ich spielte nicht auf andersrassige etc Personen an, sondern darauf das ein Individuum ohne ersichtlichen Grund ein anderes Individuum zusammenschlägt.
ob das ein deutsche Individuum ist ist völlig belanglos siehe auch meinen Text!
Dies war als Gegensatz zu „kollektiven Handeln“ gemeint
Was führen Sie sonst auf, um „Volk“ zu charakterisieren? Ich gehe es mal durch, wir haben ja Zeit:
Solidarstruktur: das ist doch der Sozialstaat? Oder vielleicht noch die Familie.
Geschichte: die Geschichte Bayens? Oder die Mecklenburg-Vorpommerns?
Charakterzüge: der Michel? Wen bildet dieses Bild ab? Wen nicht – und schließt ihn damit aus?
Lieder, Gesänge: deutsche Volkslieder? Wer singt die denn? (Ich gelegentlich, es gibt sehr schöne.) Oder Deutschpop, Volksmusik, klassiche Musik? Das ist so unterschiedlich wie nur irgendwas.
Ein kollektiver Mut: ist der Mut vieler Einzelner. Die Angst steht gegenüber und neutralisiert ihn.
Zuversicht: Pessimismus steht gegenüber und neutralisiert sie.
Liebe: zum Ehepartner, zur Familie, zum Auto, zum Hobby…?
Spielanlage: Die von Özil? Oder die von Lahm?
…um einem möglichen logischen Einwand zu begegnen zur Präzisierung: Die Passage mit dem Dreisatz ist kein formallogisches Argument, sondern soll klarmachen, dass „ich“ – als Bestandteil des Kollektivs „Deutschland“ – jederzeit auf Distanz gehen kann zu „meinem“ Kollektiv. Ich kann über das Kollektiv urteilen, ohne über mich zu urteilen. Erst wenn eine signifikante Mehrheit von Menschen nicht das Kollektiv, sondern sich selber hassen würde, könnte man sinnvoll von „selbsthassenden Deutschen“ sprechen.
@Lyoner: Ihrer Beschreibung der Fußballkultur kann ich folgen, wobei ich den Fußball selber, d.h. die veränderlichen Zustände beider Kollektive auf dem Platz, wo die Wahrheit liegt, plus der Position des Balles nicht aus der Betrachtung herauskürzen würde. Sie beschreiben eigentlich nur das Drumherum, nicht das Spiel und seine Spieler. Vielleicht ist das ja auch das Problem Ihres Begriffs „Volk“. Beachten Sie in diesem Zusammenhang auch, dass die Spieler jede Saison auf dem internationalen Transfermarkt ausgetauscht werden.
Vieles andere von dem, was Sie sagen, erscheint mir falsch bzw. verstehe ich nicht. Da ist zunächst die ewige Wiederkehr des Gleichen: der „selbsthassende Deutsche“. Mag sein, dass wir grämlich und muffelig sind, vielleicht liegts am Wetter oder an unseren unangenehmen Eigenschaften. Aber Selbsthass ist das nicht. Ich bin kein besonderer Freund der Deutschen, vieles der Kulturen anderer Länder spricht mich viel eher an (wobei ich mich hier zuhause fühle). Nun bin ich aber selber Deutscher. Der Dreisatz, den Sie aus diesen Aussagen gewinnen, geht so: „Ich mag Deutschland nicht. Ich bin selber Deutscher. Also mag ich mich selber nicht.“ Dieser Dreisatz ist kurz gesagt falsch. Drehen Sie ihn um, dann haben Sie: „Ich finde mich super. Ich bin Deutscher. Also finde ich die Deutschen super.“ – eine offenbare Sophisterei.
Zu den Schlägern, die andere grundlos zusammenschlagen: DerblondeHans hat recht, das ist Machtausübung, und zwar vom Archaischsten. Ein Rausch, meist in der Kleingruppe, wo wir unser „enges Kollektiv“ wiederfinden. So etwas passiert auch in Kriegen, in allen Kriegen übrigens; es ist eine Form der Entmenschlichung. Nationalen Schlägern können Sie natürlich vorhalten, sie wären eine „Schande für die Nation“. Das wird sie aber wenig beeindrucken, da sie eine ganz andere Vorstellung von „der“ Nation haben als Sie, in der Sie, die ihnen diese Vorhaltung machen, entweder gar keine oder eine stark untergeordnete Rolle spielen. Was Sie durch einen unmittelbaren Angriff handfest vermittelt bekämen.
Die verschiedenen Vorstellungen von „Nation“ oder „Volk“ passen also nicht zueinander. Es ist daher besser, man bleibt beim lockeren Kollektiv und nennt es „Staat“ und sich selbst einen „Staatsbürger“. Sollte sich irgendein „Volk“ in kollektiver Form irgendwo zeigen, ist es das beste, in Deckung zu gehen. Die Vorstellung von „Volk“ als etwas Homogenes, das nachts herumgespenstert und sich bei Gefahr im Verzug wie ein Untoter formiert, sollte nicht in den Diskurs reintegriert, sondern in die Mottenkiste zurückgelegt werden.
@ Lyoner Ist es nicht auch etwas uns vor-gegebenes (dabei will ich keineswegs ethnische Reinheit anzielen), eine Solidarstruktur
Sie kommen zum Punkt. – Ich kann „etwas“ solidarisch geben. Nicht aber einen Teil meiner vollen Bürgerrechte, nicht mein Recht „nein“ zu sagen. Und der ethnische Begriff „Volk“ verlangt genau das, Gemeinschaft, dass ich Ihnen näher bin als meinem „fremdstämmigen“ Mitbürger. Kulturell bin ich das vielleicht sogar. Politisch nicht. And that’s the point.
@ Jean-Luc Levasydas gemeinsame (kollektive) Bewirtschaftung
Genau. Das passt gut. – Ich nehme das mal, wie oben zitiert, ohne „Wald“.
Es gibt nach deutschen Recht u.a. zwei Möglichkeiten der gemeinsamen Bewirtschaftung: Per Eigentümergesellschaft, sie ist (voll) rechtsfähig. Oder per Eigentümergemeinschaft ist nur teilrechtsfähig. Der Embryo ist ebenfalls nur teilrechtsfähig. Und es liegt auf der Hand, warum. – Mitglieder einer Gesellschaft sind mit vollen Rechten ausgestattet, Mitglieder einer Gemeinschaft nicht.
Ich würde, in dieser Diskussion jedenfalls, „Kollektiv“ im Bereich der Gemeinschaft ansiedeln.
Das Mitglied der Gemeinschaft hat, anders als das Gesellschaftsmitglied, nicht das volle Recht „nein“ zu sagen. „Nein, ich mache nicht mit!“ ist ein gemeinschafts(zer)störender Satz und bedeutet den („automatischen“) Ausschluss aus der Gemeinschaft. Das Gesellschaftsmitglied hingegen bleibt Gesellschaftsmitglied, auch wenn es „nein“ sagt. Zwischen Gesellschaftsmitgliedern besteht ein allseits symmetrisch-gleichmäßiger Abstand, zwischen Gemeinschaftsmitgliedern, stellen Sie sich eine Familie mit kleinen Kindern vor, nicht.
Kompensiert wird/ werden kann die Teilrechtsfähigkeit der Gemeinschaft bzw. der asymmetrische Abstand zwischen den Gemeinschaftsmitgliedern durch Leistungen, die nur in besonderer – rational nicht wirklich auflösbarer – Symbiose der Gemeinschaftsmitglieder möglich sind. Denken Sie an die enge Mutter/Eltern-Kind-Beziehung, an Liebe, aber auch an das von Roland Ziegler beschriebene (gelungene) Mannschaftsspiel.
Ein gelungener historischer Witz bzw. eine Ironie der Geschichte ist es, dass die kühle, „rationale“ Abstands-Gesellschaft, in der jedermann über den gleichen Freiheitsspielraum verfügt, durch eine besondere, hochemotionale symbiotische Gemeinschaftsleistung entstanden ist, die (gewaltsam) alle historisch etablierten asymmetrischen Abstände hinweggefegt hat.
@ Jean-Luc Levasydas: Warum werden e.j. in Deutschland (auch anderswo) Menschen überfallen und zusammengeschlagen ohne einen Grund?
Mit der Bitte, richtig verstanden zu werden (ich will hier überhaupt nicht den Sozialarbeiter geben – ich meine es politisch):
Die Schläger sind Typen, die nicht gelernt haben, aus der Gemeinschaft heraus in der Gesellschaft hinein zu kommen, in ihr zu leben. Sie sind zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft gelandet. Sie suchen (im Gewaltrausch) den Weg zurück in die Gemeinschaft, die sie (wie rudimentär auch immer) kennen gelernt haben. Sie suchen Nähe, Symbiose. Mit ihren Schläger-Kumpeln, aber auch mit ihren Opfern, die sie (wie die ganze Welt der übrigen Menschen) als zu weit entfernt empfinden.
@ derblondehabns
9/11?
@ Roland Ziegler
Das von Ihnen so hoch geschätzte „Individuum“ ist nicht per se ein „Unschuldslamm“, das nur durch das Kollektiv toxisch wird. Es gibt Stinker und Stinkefinger. Sie können jedoch erzogen werden („führt Liebe sie zur Pflicht“); das zeigt exemplarisch die Fürsorge des FC Bayern für Spieler wie Ribéry und Breno.
@ Jean-Luc Levasydas
Sie schreiben „Warum werden e.j. in Deutschland (auch anderswo) Menschen überfallen und zusammengeschlagen ohne einen Grund?“
Wenn Sie darauf anspielen, dass andersrassige, andersartige Menschen fremdenfeindlich (bzw. auch deutschfeindlich: „Kartoffeln“ etc.) angegriffen werden, dann würde es nach der oben skizzierten Theorie am mangelnden bzw. schlechten Training und einer schlechten Fankultur liegen. Warum sollte man z.B. Schlägern, die sich „national“ nennen, nicht sehr deutlich zu erkennen geben, dass sie eine Schande für die Nation sind anstatt bei jedem Arschloch an seiner Nation zu verzweifeln („der Schoß“ etc.)? Warum sollte auf der anderen Seite die Nation nicht einen Thymos, einen Stolz haben, auf den Zuwandernde sich beziehen, sich verlassen, an ihm messen können? Was würden die an „selbsthassenden Deutschen“ denn gewinnen?
Das Beispiel Fußball hat natürlich seinen heurisitschen Wert. In diesem Falle fehlt nicht die rationale Planung, dafür sind die Trainer, Scouts, Analytiker etc. zuständig sowie Spieler, die für die Umsetzung auf dem Platz, wo die Wahrheit liegt, zuständig sind. Das rationale Ziel ist zu gewinnen, an die Tabellenspitze zu kommen bzw. nicht abzusteigen, sich zu qualifizieren usw. Das Kollektiv ist in einem Agon, einem Wettstreit; es gewinnt nicht immer der beste, Spielglück gehört dazu; dass jeder Chancen hat, das macht die Faszination des Spiels aus. Über die Mannschaften hinaus ist dann die Fankultur faszinierend; hier finden sich Stämme mit Flaggen , Fanschals, Gesängen, weiteren Ritualen. Regelrechte Stammeskulturen, die z.T. regional z.T. überregional sind. Dabei kommt es bei der Loyalität weniger auf das Gewinnen an, sonst wären wohl fast alle Bayern-Fans, sondern auf einen ganz bestimmten Charakter oder sagen wir Mythos des Clubs, der auch die Spieler „vergeistigt“, ergreift, so z.B. die Fankultur von Sankt Pauli. Dass der Fußball von solchen sehr „individuellen“ Kollektivkulturen lebt, hat Hoeness und der FC Bayern begriffen, die Sankt Pauli unterstützt haben. Eine Ebene höher ist dann die Fußball“national“mannschaft und die Identifikation mit ihr. Cum grano salis will ich sagen, dass Deutscher ist, wer die deutsche Fußballnationalmannschaft unterstützt, zu ihr hält in Schön- und Schlechtwettersituationen. Als Student habe ich noch in der Fußballkneipe mit dem bezeichnenden Namen „Reichsadler“ erlebt, wie es noch nahezu verpönt war, die eigene Nationalmannschaft zu unterstützen; meine Volksgenossen haben, manchen sah man das contre coeur richtig an, dagegen Brasilianer oder Holländer unterstützt, weil diese schöner spielten.
Nun meine ich aber doch, dass dieses Kollektiv in Bewegung, dieses agonistische Team, den Begriff eines Volkes, das ja nicht nur Bewegung in der Latenz ist, nicht erschöpft. Ist es nicht auch etwas uns vor-gegebenes (dabei will ich keineswegs ethnische Reinheit anzielen), eine Solidarstruktur, die auch ihren schwächeren Mitgliedern zugute kommen kann, ein Namen, an den sich eine Geschichte, Charakterzüge, Lieder, Gesänge, ein kollektiver Mut, Zuversicht, Liebe, Spielanlage knüpfen können. Warum sollte man das nicht auch „trainieren“?
Warum werden e.j. in Deutschland (auch anderswo) Menschen überfallen und zusammengeschlagen ohne einen Grund?
… und das ausschließlich am/an ‚Schwächeren‘. Es ist eine Form der Machtausübung. Wie Kindesmissbrauch auch. Ein Überfall, oder Missbrauch am/an ‚Stärkeren‘, findet nicht statt. Das kann man in die Politik übertragen. Meine ich.
…interessant ist es auch, vor diesem Hintergrund über die Gewaltausbrüche beim Fußball nachzudenken. Rudelbildung, Tätlichkeiten, Blutgrätschen – alles wird möglich, weil das Individuum im „engen“ Kollektiv des Spiels ausgeblendet wird. Nach dem Spiel lockert sich das Kollektiv wieder, alle machen Trikottausch und geben sich die Hände. Und auch die Fans auf den Rängen schließen sich beim Anblick des Spiels gleichfalls zum engen Kollektiv zusammen und machen archaische Erfahrungen.
… in Sepp Herbergers: – der Ball ist rund – steckt mehr Weisheit, als in der hier behaupteten ‚Erkenntnis‘ – Beim Fußball kommt es auf Instinkt und Automatismen an …. Eine Erkenntnis, die keine ist. Meine ich.
@EJ: Ich würde sagen: in Situationen, in denen nur eine Revolution oder ein Krieg für eine Lockerung des Kollektivs sorgen kann. Hoffen wir, dass wir sowas bei uns fürs erste hinter uns haben, vertrauen wir auf die Kräfte der Evolution, lockern wir die „zu engen“ Kollektive anderswo z.B. mit den Mitteln des Marktes und schauen wir ansonsten Fußball.
@EJ Ganz direkt:Versuchen sie die Frage des “ irgendwie “ nicht zu sehr von ihrem Erlebnis in der Klosterschule anzuleiten?
Und dadurch das kollektive Handeln sehr kritisch zu betrachten ?
Für mich stellt sich auch oftmals die Frage nach dem
“ irgendwie “ beim Individuum?
Warum werden e.j. in Deutschland (auch anderswo) Menschen überfallen und zusammengeschlagen ohne einen Grund?
Wenn sie so etwas wie die gemeinsame (kollektive) Bewirtschaftung eines Waldes nehmen “ Allmende “ ist dies doch eine rationale Planung eine Handlungsablaufs (zwar nicht kurzfristig, sondern langfristig)
Fehlen uns da auch die „Kategorien“ der Beurteilung
Vielleicht finde sie ihr “ Irgendwie “ bei Mancur Olson ?
http://de.wikipedia.org/wiki/Mancur_Olson
EJ: Für ein genaueres Durchdringen des “Irgendwie” fehlen uns die Kategorien.
… uns? … mir fehlt nix.
@ Roland Ziegler: … Beim Fußball kommt es auf Instinkt und Automatismen an …
Sehr gute Beschreibung! Einschließlich des – nicht zufällig politisch inkorrekten – (biologischen/ biologistischen) „Instinkts“.
Und wenn wir ihre Beschreibung wieder in politischen Zusammenhang bringen (das ist unser Job hier): Bei welchen Gelegenheiten ist das instinktiv handelnde Kollektiv gefragt?
@ Jean-Luc Levasydas: verstehen sie unter kollektiven Handeln nur ” Revolutionen ” oder solche Ereignisse, die selber im Kloster erlebt haben?
Ohne dass ich eine erschöpfende Definition geben könnte: Kollektivem Handeln fehlt die (rationale) Planung eines Handlungsablaufs bzw. es geht wesentlich über alle Planung hinaus. Dennoch findet irgendwie ein kohärentes Handeln statt. Für ein genaueres Durchdringen des „Irgendwie“ fehlen uns die Kategorien. Das Fußballspiel, auch in seiner Emotionalität, ist kein schlechtes Beispiel.
Man muss zwischen Kollektiven unterscheiden und vergleichen. Ich denke, dass ein Organismus ein sehr enges Kollektiv von Zellen darstellt, in der jede Zelle seine Funktion durch den Organismus erfährt. Das Gleichnis vom Ameisenstaat zeigt ein vergleichsweise lockeres Kollektiv, obwohl dort die Elemente (von Individuen kann man noch kaum sprechen) in ihrem Verhalten noch sehr direkt determiniert sind. Bereits hier ist es eigentlich nur metaphoriosch zu verstehen, wenn man dem Ameisenstat als Kollektiv einen Zustand wie „Angst“, „Freude“ oder gar einen bestimmten „Charakter“ zuspricht.
Kollektive, die als Elemente Menschen haben, – also Organisationen – sind normalerweise noch viel lockerer, weil sie aus denkenden, selbstbewussten Individuen bestehen. Aber nicht immer. Es gibt Kollektive, die eine stärkere Beziehung zwischen ihren Elementen benötigen, und dabei denke ich nicht gleich an die Nazis, sondern zunächst mal an die viel angenehmere Fußballmannschaft. Damit solche „engen Kollektive“ mit menschlichen Individuen funktionieren, müssen wesentliche Eigenschaften der menschlichen Individualität temporär ausgeblendet werden. Beim Fußball kommt es auf Instinkt und Automatismen an; der passgebende Spieler muss instinktiv wissen, wo sich sein Partner befindet und wo er gerade hinläuft; er muss geradezu vorbewusst eine Karte der Positionen abrufen, auf denen die Gegner stehen, usw.; er muss also sein komplexes Bewusstsein drosseln (Nach dem Motto: Wer beim Elfmeter denkt, verschießt). Erinerungen, Gefühlslagen, überhaupt alles, was nicht direkt etwas mit der Situation zu tun hat, muss so komplett wie möglich ausgeblendet werden. Eine bemerkenswete Leistung.
Ein locker verbundenes Kollektiv von Individuen – wie EJ’s Ansammlung individueller Schüler – kann sprunghaft in ein engeres Kollektiv von Elementen übergehen, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt werden. Dabei kann es zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen kommen, weil die Kontrollinstanz des Individuums weggeschaltet wird. Was bleibt sind elementare Kräfte, die evt. entfesselt werden.
Wann ist sowas möglich? In EJ’s Fall werden diese Bedingungen zum einen durch das Internat gestellt, eine Organisationsform, die gewalttätige Lehrerexistenzen ermöglicht, möglicherweise sogar fördert, zum anderen aber – und in erster Linie – durch den individuellen Lehrer, der durch seine vorgängigen Taten Schuld hat. (Natürlich haben sich in der Folge auch die besinnungslos tretenden Schüler schuldig gemacht, weil sie ihre Individualitäöt in einer Situation herabdrosselten, in der sie gefordert war.)
@ Lyoner: Bezeichnend vielleicht, dass sich diese Gegen-Gewalt nicht gegen das gewalttätige System, die Ordnung gerichtet hat, sondern gegen eine Personifizierung der Ordnung, die eine Willkür, einen Sadismus der Ordnung (Kant mit Sade) deutlich macht.
Ja, es war ein spontaner Aufstand, eine Revolte, ohne „politisches Konzept“. Gruppe ist dadurch meiner Erinnerung nach insofern erzeugt worden, als einige Kinder, die, statt zu treten, auf den Liegenden mit der Hand geschlagen hatten, als Feiglinge galten.
Wenn Sie auf meine verstreuten Sätze zu Revolution in diesem Thread achten, werden Sie bemerken, dass politisches “Volk” mich keineswegs horrifiziert. Im Gegenteil. Es aht meine Hochachtung. – Hätte Deutschland eine Idee vom Bürger-Volk und von der Bürger-Nation gehabt, hätten wir uns den ethnischen Scheiß, das „Volk“ widerwärtigerweise zu Zuchtstuten und Zuchthengsten zu machen, sparen können.
@EJ/Lyoner: Ja, kollektives Handeln in Ihrem Sinn ist ein alltägliches Phänomen. Das Fußballbeispiel von Lyoner ist sehr gut, weil es ohne den anderen bestimmenden Aspekt im Beispiel von EJ (nämlich das ambivalente Verhältnis von Gerechtigkeit u. Gewalt) auskommt. Was bedeuten Sätze wie „Die Mannschaft hat sich nie unterkriegen lassen, bis zuletzt gekämpft und an den Erfolg geglaubt und wurde dafür am Ende belohnt.“? Wer ist hier „Die Mannschaft“? Und wer belohnt oder bestraft sie?
Einerseits natürlich sind es zunächst mal die Beteiligten, die auf dem Platz stehen und kicken. Sie sind es auch, die die Prämien kassieren. Andererseits entwickelt „die Mannschaft“ regelrechte Charaktereigenschaften, die eigentlich nur Individuen zugesprochen werden und jedem Fußballfan bekannt sind.
@EJ
.. Sie widerlegen sich selber, bzw. – outen sich.
Das ‚handelnde Kollektiv‘ in ‚Ihrem‘ Internat ist vom ‚System‘ im Grunde genommen genötigt worden – ’schuldig‘ zu werden. Und hat sich an einem ‚Opfer‘, das, wie Sie schreiben, das Kollektiv sehr wohl ‚provozierte‘, gerächt.
All das vergleichen Sie mit dem National-SOZIALISTISCHEN System? mit einer gleichen, ähnlichen Begründung? mein lieber Scholli.
Alles in allem, kann ich, wenn ich von einer überzogenen Reaktion des ‚handelnde Kollektivs‘ absehe, keine Schuld am Kollektiv erkennen. Erst recht nicht – an einer Schuldvererbung.
Daher bleibt – Schuld ist individuell.
@EJ
Warum fehlen uns die Kategorien über kollektives Handeln zu urteilen?
Mr. Berger hat hier einmal die Diskussion zum Thema Allmende begonnen und Ellinor Ostrom erwähnt.
Governing the Commons: The Evolution of Institutions for Collective Action
Wird in dieser “ Gesellschaftsform “ nicht laufend
“ geurteilt “ oder verstehen sie unter kollektiven Handeln nur “ Revolutionen “ oder solche Ereignisse, die selber im Kloster erlebt haben??
In dem Zusammenhang ist Robert Axelrod und seine Evolution der Kooperation zu erwähnen:
http://de.wikipedia.org/wiki/D.....ooperation
@ Roland Ziegler
Uns fehlen die Kategorien, über kollektives Handeln zu urteilen. Trotzdem ist kollektives Handeln eine Tatsache. (Viele Handlungen sind nur kollektiv ausführbar.) Ich sehe da ein Desiderat. Das war aber an dieser Stelle für mich gar nicht das Problem. Ich habe auch andere Möglichkeiten genannt, sich dem Kollektiv zu nähern, psychologische.
Wir sprachen von Volk. Eigentlich, ohne zu wissen, was das genau ist, das Volk. Mir ging es in dem gegebenen Zusammenhang (Direktwahl) nur darum, den enormen politischen Unterschied zwischen einer Ansammlung von Individuen („Bevölkerung“) und dem Kollektiv samt seinen „Ambivalenzen“ aufzuzeigen.
@ EJ
Sie schreiben „So genau will das aber niemand wissen. Massen-, Gruppenpsychologie – vielleicht kann Lyoner was dazu sagen.“
Ob man das nicht wissen will, ich weiß nicht; es gibt da eher methodologische Probleme der Untersuchung. Soweit ich weiß, sind alle massenpsychologischen „Untersuchungen“ (Theorien, Spekulationen), die von LeBon, Freud, Reich bis zu Elias Canetti, bei dem ich die Ausdrücke „Hetz- und Todschlagmeuten geborgt habe, mehr oder weniger umstritten. In Ihrem Beipiel scheinen ja alle Ingrdienzien für die „spontane“ Meutebildung gegeben gewesen zu sein; ich kann mir auch durchaus vorstellen, dass aus diesem Erleben nicht nur ein persönliches Hochgefühl entstanden ist, sondern auch eine „Kameradschaft“, ein corps d´esprit, der sich auf diesen Ur-Sprung bezieht. Bezeichnend vielleicht, dass sich diese Gegen-Gewalt nicht gegen das gewalttätige System, die Ordnung gerichtet hat, sondern gegen eine Personifizierung der Ordnung, die eine Willkür, einen Sadismus der Ordnung (Kant mit Sade) deutlich macht. – Ein anderer Fall ist die Massenbildung, die durch einen „Führer“ (Volkstribun) in „Bewegung“ gehalten wird, weswegen Sie immer so sehr von „Volk“ horrifiziert sind. Ich glaube, es ist jedoch ein gutes Zeichen, dass der Typus „Magath“ (Quälix) durch den Typus „Löw“ oder „Kopp“ (Motivator mit sozialen Kompetenzen), und nicht durch den Typus „Daum“ (manipulativer Trickster) ersetzt wird.
@ EJ: „Das handelnde Kollektiv, die eigene Qualität kollektiven Handelns ist Realität. Sittlich verantwortlich handelt angeblich aber nur das Individuum.“
Ist das nicht gerade der Sinn von Demokratie, dass mehrere eigenverantwortliche Individuen zusammen zu sittlich verantwortlichen Entscheidungen kommen? Sie wollen doch nicht etwa rechtfertigen, dass der Lehrer verprügelt wurde? Unser Modell war bedeutend besser, finden Sie nicht auch? Unser Modell verlangte eine Mehrheit. Um einen Lehrer zu verprügeln, braucht es nur zwei starke Schüler. Oder einen, wie es in der Rütlischule üblich war, der mit Drohungen und Klappmesser kommt. Demokratie ist schwieriger. Übrigens sagte bei beiden Lanzsendungen zusammen die Mehrheit, Wulff solle zurücktreten. Somit verhält er sich undemokratisch. In einem privaten Unternehmen ist man nach kurzer Zeit weg vom Fenster. Sarrazin hat sich etwas mehr Zeit gelassen, ist aber schließlich auch zurückgetreten. Die Mehrheit wollte Wulff nicht. Schon jener Vorgang war undemokratisch. Wenn Politiker nicht nach bestem Wissen und Gewissen abstimmen, sondern zunehmend nach Stallorder, kann man nicht mehr uneingeschränkt von Demokratie sprechen.
In den beiden sehr intelligenten Lanzsendungen zusammen wurde 7:2 gestimmt. Alexandra von Rehlingen habe ich nicht mitgezählt, weil sie sichtlich eigene Interessen vertrat. Es wäre doch sehr interessant, herauszufinden, ob sie bei der Veranstaltung des Hamburger Abendblatts, wo B. Wulff „mit jedem sprach“, dieser einen Beratervertrag angeboten hat. Das wäre dann ‚alles beim Alten‘.
@EJ: Es ist unklar, was der Begriff „Sittlichkeit“ bedeuten könnte, wenn er nicht aufs Individuum bezogen wird. Die Sittlichkeit eines Kollektivs, was könnte das sein? Die sittliche Qualität einer bestimmten Organisation ist nicht gemeint. Wie appelliert man an ein kollektives Gewissen, gibt es ein kollektives Gedächtnis, ein kollektives Bewusstsein, und wenn ja, wieviele? 😉
Ich wüsste nicht, was das bedeutet. Unser individuelles Bewusstsein, unsere Sittlichkeit, unser Bewusstsein und unser Gedächtnis entstehen jedoch im Zusammenschluss mit anderen, z.B. mit unseren Eltern, so das ein kollektiver Aspekt vorhanden ist. Der Mensch ist ein soziales Wesen.
Es gibt ja das Gleichnis vom Ameisenstaat, der ähnlich wie die Neuronen des Gehirns eine kollektive Intelligenz realisiert, mit der sich in gewisser Hinsicht sogar kommunizieren lässt. Getragen von dem Zusammenschluss der einzelnen, reflexhaft agierenden, dummen Ameise. Wenn man aber dieses Gleichnis nicht z.B. auf die Gehirnstruktur, sondern auf den Menschen bezieht, ergibt es keinen Sinn.
@ Roland Ziegler: Natur des menschlichen Kollektivs, die man aber, wenn man genug darüber wüßte, voraussagen könnte
So genau will das aber niemand wissen. Massen-, Gruppenpsychologie – vielleicht kann Lyoner was dazu sagen. Ich habe es oft mit der Kollektivschuldthese versucht. Das handelnde Kollektiv, die eigene Qualität kollektiven Handelns ist Realität. Sittlich verantwortlich handelt angeblich aber nur das Individuum: Das (handelnde) Kollektiv ist plötzlich, gleichsam aus dem Nichts „da“, schafft Realitäten, und löst sich in Individuen auf, die – was habe ich damit zu tun? – fröhlich auf den kollektiv geschaffenen Realitäten leben.
Vermutlich ist das in Deutschland besonders ausgeprägt. Und dabei muss man gar nicht nur an das Verhältnis von Nazi-Deutschland und Deutschland denken. Ich kenne CDU- und FDP-Leute, die Hass-Ausbrüche bekommen, wenn man die Französische Revolution oder etwas wie Bürgerliche Revolution nur erwähnt. Gleichzeitig sind die heiligsten Kühe eben dieser CDU- und FDP-Leute „revolutionäre Errungenschaften“ genau der Bürgerlichen bzw. Französischen Revolution, in der sie nur Mord und Totschlag erkennen können – Nation und Privateigentum etwa.
@ EJ: Wir hatten keine prügelnden Lehrer, aber einen, der Schüler so quälte, dass er alle, die eine Meinung hatten, in denNoten um 2-3 degradierte. ich selbst rutschte dabeivon 1auf 4. Wir waren ca. 2/3 der Klasse. Wir boykottierten seinen Unterricht dauerhaft, das Grundprinzip eines Streiks. Es gab eine Elternversammlung, die Eltern bestanden darauf, dass der Lehrer entfernt wird. Die ganze Sache kam vor den Schulrat. Der Lehrer, etwas über 60, musste in Frührente gehen. Ich finde das Vorgehen besser, es war aber auch ein Massenphänomen. Wenn die Eltern nicht geschlossen gestimmt hätten, wäre nichts passiert.
Wollten Sie den Politikern andeuten, dass sie eines Tages verprügelt werden?
Das wäre schlecht. Der Königs- und Königinmord in Frankreich führte nur zu weiteren Morden. Wie oft haben wir massive Aggressionen gegen ungerechte, schlecht gelaunte Vorgesetzte oder Politiker? Es ist ein Fortschritt, dass wir sie nicht ausleben. Sonst wäre schon mancher Fernseher zu Bruch gegangen.
@ Lyoner: Stefan Zweig dagegen, ein anderes Kaliber als Milton, humanistisch, fand den Mord an Mary Stuart abscheulich.
Formatierungsfehler! Ab „Wörtlichst!“ Kursive wegdenken, bitte!
@ Lyoner Was Sie schildern ist das Entstehen einer Hetz- und Todschlagmeute.
Wörtlichst! Sicher. Ohne jeden Zweifel. – Aber es war (und ist bis heute) für mich auch ein Sieg, eine Wiederherstellung der Gerechtigkeit. Wie gesagt: Eine (höchst) ambivalente Angelegenheit.
(Erst viel später ist mir aufgefallen, dass wir (jedenfalls ich nicht) keinerlei Zusammenhang hergestellt haben, zwischen dieser Aktion und den „üblichen“ Prügeln, die wir sonst und, wenn ich mich richtig erinnere, auch weiter bezogen haben. Der geprügelte prügelnde Lehrer wurde sang- und klanglos entfernt, eine Untersuchung des Vorfalls fand (jedenfalls bei uns jüngeren Schülern) nicht statt, aber geprügelt wurden wir weiter. Und ich glaube, wir fanden das „normal“, ich jedenfalls fand das „normal“, denke ich. )
Ich will nicht schwülstig werden (führt aber keine Weg dran vorbei 😉 Dieser Vorfall hat Bedeutung für mein ganzes Leben: Ich weiß, dass ich/ „wir“ dergleichen notfalls(?!) kann/ können. Ein gutes Gefühl. Ein Gefühl, dass Angst nimmt und selbstbewusst macht. Ich weiß aber auch, dass dergleichen nahezu völlig unvorhersehbar und überraschend möglich ist, womöglich auch gegen mich bzw. „uns“. Das erzeugt politische Vorsicht.
@Lyoner
… EJ gehört zum ‚System‘.
@EJ: Sie schildern die Spontaneität einer kollektiven Raserei und ihre moralische Ambivalenz zwischen Gerechtigkeit und Gewalttätigkeit als erschütternd, fast als göttliche Offenbarung. Sie sagen Sie konnten gar nicht so schnell gucken, wie es passierte. Und doch ist es nicht aus heiterem Himmel passiert; die Gewalt, die da im Namen der Gerechtigkeit explodiert ist, ist durch das Verhalten des Lehrers vorher aufgestaut worden, und der Explosion selber muss ebenfalls ein Anlass, ein schneller Spannungsanstieg, vorausgegangen sein, so wie bei einem Gewitter, das sich auch nicht aus heiterem Himmel ereignet. Es ist wie eine unheimliche Naturkatastrophe, die Natur des menschlichen Kollektivs, die man aber, wenn man genug darüber wüßte, voraussagen könnte, oder auf die man sich wenigstens vorbereiten kann: Gespenster vertreibt man am besten mit Licht.
Ihre Szene erinnert mich ein bisschen an die Geschichten von Heinrich von Kleist. Mittlerweile haben wir übrigens die 200er-Marke gesprengt, der Lyoner fängt wieder mit Israel an, für mich ist es Zeit zu schlafen.
zurückgehalten
@ EJ
P.S. wie können (und sollen) sich Schüler gegenüber dem Gewalttäter wehren, wenn er vom „System“ nicht zurgehalten, reguliert wird?
@ EJ
Was Sie schildern ist das Entstehen einer Hetz- und Todschlagmeute. Ich kann Ihr Entsetzen verstehen. Das finden Sie doch auf jedem Level sozialer Organisation, religiöse Meuten, Meuten von Fans, Meuten beim Mobbing gegenüber „Loosern“, natürlich auch auf der Ebene von „Völkern“ … Sie schildern ja gerade den Aggregatszustand von heterogenen, individualisierten „Kollektiven“, die sich homogenisieren, zusammenschließen, nicht eine Meute, die aus einem homogenen Kollektiv kommt.