Angenommen, die Gesellschaft ließe sich analysieren wie ein Mensch. Dann möchte ich – als Biologe – ihr für eine grandiose Verdrängungsleistung gratulieren. Wir alle haben das eigentliche Thema des G20-Gipfels in Hamburg beiseite gewischt. Wir mussten den realen Welt-Schmerz nicht an uns heranlassen. Als wäre dieses Land ein aufgewühlter Teenager, drehte es sich tagelang nur um sich selbst und seine Peergroup. Es verletzte sich. Es spürte sich so gut wie lange nicht mehr. Damit griff diese Gesellschaft auf ein verstörendes Handlungsmuster zurück, das bei ihren eigenen Jugendlichen erschreckend weit verbreitet ist: Deutschland hat sich geritzt.
Weil es beim G20-Gipfel in Hamburg vor allem um Multilaterales ging, um fremde Menschen, verworrene Konflikte, internationale Wirtschaftsbeziehungen und abstrakte Probleme – nicht um uns selbst, um Deutschland und seine Binnenthemen – wand sich die Öffentlichkeit schon im Vorfeld vom eigentlichen Gipfel ab. In unserer Egozentrik bedroht und größtmöglich gelangweilt, bastelten wir uns unsere ganz eigene, nicht minder fürchterliche, knallende, brennende, knisternde und wasserspeiende Konfliktwelt.
Also ließen wir es so richtig krachen. Die Schanze – das mittlerweile international bekannte Hamburger Schanzenviertel – musste „bluten“. Die Gesellschaft erzeugte ihren eigenen Schmerz, riss eigene Wunden auf. All das mit dem Ziel, sich bloß nicht mit dem Anderen auseinanderzusetzen. Blut sollte sickern, damit wir unsere Grenzen spürten, das individuelle Ausmaß, die persönliche Dimension. Die Abgrenzung. Uns selbst.
Aber die deutsche Gesellschaft ist doch kein bedauernswertes, womöglich therapiebedürftiges Geschöpf, das sich ritzen muss, um endlich ein heftiges Gefühl des Selbst zu empfinden? Wir sind eine reife Demokratie. Wir sind leidlich integrationsfähig. Wir sind sogar – wie man so schön sagt – im Wahlkampf, sollten also tendenziell problemorientiert und diskussionsbereit sein. (Ich weiß: ein frommer Wunsch.) Dennoch spricht im Zusammenhang mit G20 kaum jemand über die Themen, deretwegen sich die führenden Politiker aus aller Welt trafen. Fast niemand diskutiert das Gefälle zwischen arm und reich auf dieser Welt, prangert den Klimawandel an oder die vielen Stellvertreterkriege, fordert mehr Bildung, Nahrung und medizinische Grundversorgung für diejenigen, die das Pech hatten, nicht in einem der wohlhabenderen Länder geboren zu sein.
Egal ob in Talkshows oder Kommentaren: Alle reden und schreiben von den Gewaltexzessen auf Hamburgs Straßen. Sind diese denn wirklich bedeutsamer als beispielsweise der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich? Sind zwei geplünderte Supermärkte und zig brennende Autos wichtiger als millionenfache 30 Jahre zusätzliche Lebenszeit?
In Zentralafrika beträgt die mittlere Lebenserwartung für Neugeborene derzeit um die 52 Jahre. In Deutschland sind es knapp 81 und in Japan sogar 85 Jahre. Der britische Genetiker Steve Jones vom University College London spricht deshalb so gerne über Glasgow: Dort betrage „der Unterschied in der Lebenserwartung zwischen den ärmsten und den reichsten Stadtteilen unfassbare 28 Jahre.“ Auch in Deutschland beeinflusst kaum etwas so sehr die durchschnittliche Lebenserwartung wie der soziale Status und der Wohlstand. Die Differenz in der Lebenserwartung zwischen Arm und Reich schwankt je nach Studie und Geschlecht zwischen sieben und elf Jahren.
„Wir ändern wir wir leben – nicht, wie wir sind.“
Der Biologe Jones fordert also aus gutem Grund etwas, was viele Soziologen sofort unterschreiben würden: Man solle endlich mehr in Wohlstand und Bildung für alle investieren. Fragt ihn jemand nach dem vielversprechendsten Weg in eine Zukunft mit möglichst vielen möglichst gesunden Menschen, antwortet er mit einer simplen Formel: „We don`t change the way we are. We change the way we live.“ Wir sollten also ändern wie wir leben – nicht, wie wir sind.
Auch Mikko Myrskylä vom Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock kam gerade per Auswertung einer Langzeitstudie zu dem Resultat, dass sich ein gesunder Lebensstil auszahlt: Wer niemals raucht, kein starkes Übergewicht kennt und nur in Maßen Alkohol trinkt, lebt rein statistisch sieben Jahre länger als der Durchschnitt. Frauen, die derart gesund leben, sterben im Mittel zwölf Jahre später als solche, die sich an alle drei grundsätzlichen Gesundheitsregeln nicht halten.
Dass aber gerade die klassischen Ungesundheits-Faktoren Übergewicht (sprich Bewegungsarmut und zu kalorienreiches Essen), Nikotin- und übermäßiger Alkoholkonsum bei armen und ungebildeten Menschen gehäuft sind, ist schon lange bekannt. Es wird ja auch durch immer neue Statistiken betätigt.
Gerade jetzt in Wahlkampfzeiten muss man sich also fragen, warum wird nicht mehr über die wichtigsten Maßnahmen für die Gesundheit und das Wohlbefinden der Bevölkerung von Morgen gesprochen? Warum traut sich kaum eine Partei, offen und deutlich gegen Armut und für soziale Ungleichheit einzustehen. Angewiesen auf Wählerstimmen hofieren fast alle Politiker – auch diejenigen, die es wirklich gut mit dieser Gesellschaft meinen – die Mittelschicht, die Empfänger solider Einkommen, das gute alte Bildungsbürgertum. Kein Wunder, dass diesem Land angesichts eines solchen inneren Widerspruchs das Gefühl für die eigene Verfasstheit verloren geht, dass die Sehnsucht nach realem Schmerz wächst.
„Gesundheit ist viel mehr als Medizin.“
Es sind die gleichen Denkmuster, es ist die gleiche abstumpfende Zerrissenheit, die sich im globalen Maßstab wiederfindet: Detlev Ganten, Gründungsdirektor des Max-Delbrück-Centrums für Molekulare Medizin sowie Gründer und Präsident des Weltgesundheitsgipfels, World Health Summit, sagte den Zeitungen der Funke-Mediengruppe in einem der wenigen Interviews rings um G20, die nicht um die Krawalle an der Schanze kreisten, es sei „eine nicht akzeptable Situation“, dass „fünf oder sechs Milliarden Menschen nicht oder nur kaum“ vom wissenschaftlichen Fortschritt profitierten. „Die reichen Länder denken medizinisch krankheitsverhindernd“, sagt Ganten. „Aber Gesundheit ist viel mehr als Medizin“.
Genau so ist es. Gesundheit ist ein Prozess, der uns unsere Krankheiten und Widrigkeiten besser ertragen lässt, der uns hilft, länger fit zu bleiben und länger zu leben. „Gesundheit ist die Fähigkeit, sich anzupassen“, hat der französische Medizinphilosoph Georges Canguilhem vor langer Zeit formuliert. Besser kann man es nicht ausdrücken. Das heißt aber auch, wer Gesundheit fördern möchte, muss beim Kampf gegen Armut und Unwissenheit anfangen.
Egal ob innerhalb unseres reichen Landes oder in der Zusammenarbeit mit den ärmsten Ländern dieser Welt: Es ist wie mit dem G20-Gipfel, dessen wirkliche Themen wir gerade erst so erfolgreich beiseite geritzt haben. Die Lösung der grundliegenden Probleme ist schmerzhafter als ein Kratzer. Sie erfordert sehr viel Demut, Geld und Zeit. Wer wirklich will, dass es den Armen besser geht, muss wohl noch ein bisschen stärker bluten.
na ja, klingt wie: „hör auf Dich zu ritzen und löse endlich die wirklichen Probleme“. Zweifellos wäre das die Lösung, aber das ist offenbar nicht so einfach. Das Bild mit der individuellen und der kollektiven Störung hat mir gut gefallen, aber wie kann man die Symptome kurieren und die Blockade der Selbstheilungskräfte lockern, das ist die Frage.
Was meinen Sie mit „in manchen Punkten vielleicht etwas anders“?
Bitte, liebe Frau Frommel, wie gesagt: nicht diese Diskussion. Warum nicht, das habe ich in meinem Beitrag ja wohl ausführlich genug begründet.
Nun ja, wer ist „die Gesellschaft“? In einer Stadt wie Zwickau gelingt es nicht, das Politiker-Stalking durch Rechtsextreme zu beenden. In einer Stadt wie Hamburg wird von vielen Bürgern und auch in der Presse immer noch über „strukturelle Polizeigewalt“ gerätselt, obgleich es mittlerweile – nach allem, was wir wissen – eigentlich klar sein müsste, dass die Krawalle organisiert waren (zwar sollten sie – so RA Blechschmidt – nicht im Schanzenviertel stattfinden), aber „welcome2hell“ war die gezielte Organisation von Blockade und Krawall. Wer ist nun die „Gesellschaft“, die schweigt? Da gibt es einiges zu lernen, und zwar für viel Verantwortliche in ihren jeweiligen Funktionen.
Ja, das mag alles so sein – ich lebe in Hamburg, habe einiges miterlebt und denke in manchen Punkten vielleicht etwas anders – aber gerade um diese Diskussion sollte es hier ja NICHT gehen.
Ich stimme dem Autor zu: es war fatal, dass sich die Debatte auf den krawall reduziert hat. Aber das ist das Zeil dieser „interventionistischen Linken“ Hamburg und anderswo. Sie haben nicht die Geduld und wollen ihre Zeit und ihre Krft nicht in die Analyse der wirklichen Probleme und der möglichen Lösungen investieren, sondern schrill sein und als ewige Teenager Parolen herumgrölen.
Danke für die Zustimmung, aber ich gklaube kaum, dass es sich um gezielte Ablenkungsmanöver handelte. Es ist die Gesellschaft, die sich ablenken lässt.