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8. Mai 45: Kein Tag der Befreiung

Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. Am 8. Mai dann ganz Deutschland. Die Daten so nebeneinander zu halten heißt erkennen, wie unsinnig es war, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor nunmehr 30 Jahren in seiner Rede zum Kriegsende behauptete, der 8. Mai sei für die Deutschen ein „Tag der Befreiung“.

Befreien kann man nämlich nur Menschen, Völker, Nationen, die unterdrückt wurden. Auschwitz wurde befreit – die Insassen kamen frei. Frankreich, Belgien, Holland und andere Nationen Westeuropas wurden befreit. Aber die Deutschen waren nicht unterdrückt worden. Sie machten den „Führer“ in freien Wahlen zum mächtigsten Politiker der Republik. Ihre politische, militärische und wirtschaftliche Elite bot ihm die Macht an. Die Parteien des Bürgertums wählten ihn in offener Abstimmung zum Diktator und lösten sich dann selbst auf. Die Deutschen haben diese Diktatur und ihre Maßnahmen immer wieder in Volksabstimmungen gebilligt. Die Österreicher bejubelten den „Anschluss“. Deutsche und Österreicher hielten ihrem Führer bis zum bitteren Ende die Treue.
Die Deutschen – und die Österreicher – wurden besiegt und besetzt, nicht befreit. Es folgten Demontagen und Demütigungen, Vergewaltigungen und Vertreibungen. Im Osten blieben die Deutschen besetzt und unfrei bis zum Tag der Befreiung am 9. November 1989. Im Westen durften sie sich nach und nach selbst vom Nationalsozialismus befreien. Aber der Prozess dauerte lange und ist noch nicht abgeschlossen.
Er setzte ja voraus, dass sich die Deutschen mit ihrer Rolle ehrlich auseinandersetzten. Aber das ist nicht geschehen. Abstrakt verurteilte man den Nationalsozialismus. Konkret war man bemüht, die eigene Rolle zu kaschieren. Das galt auch für die Folgegeneration, die 68er, die zwar abstrakt die Väter- und Tätergeneration verurteilte, aber eigentlich nur, um sie in toto politisch zu desavouieren und den eigenen moralischen Anspruch zu begründen. Konkret war man erstens selten willens, das Schweigen der Väter und Mütter zu hinterfragen und zweitens umso schneller bereit, anderen Mächten – insbesondere den USA und den Israelis – zu unterstellen, sie würden das Gleiche wie die Nazis planen oder tun: „USA – SA – SS!“
In Götz Alys neuem Buch, „Volk ohne Mitte“, finden sich viele solche Beispiele. Hans-Magnus Enzensberger etwa, der keinen Unterschied zwischen Adolf Eichmann und dem amerikanischen Mathematiker Hermann Kahn sah, der die Opferzahlen verschiedener Atombombenangriffe durchrechnete – außer dass Eichmann gelegentlich seinen Opfern ins Gesicht sah. Enzensberger behauptete, mit seinen Eltern Glück gehabt zu haben, weil sie ja von den Nazis nichts gehalten hätten. Er vergaß zu erwähnen, dass sein Vater seit 1933 Mitglied der NSDAP gewesen war. Beate Klarsfeld, die Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit ohrfeigte, entblödete sich nicht, von ihren Eltern zu behaupten, sie hätten zwar die Nazis gewählt, seien aber keine Nazis gewesen. Von der persönlichen Verstrickung von Günter Grass, Walter Jens, Heinrich Böll und anderen Moraltrompetern jener Zeit ganz zu schweigen.
Oder von Richard von Weizsäcker, der seinen in Nürnberg wegen Beteiligung an Judendeportationen nach Auschwitz angeklagten Vater mit dem Argument verteidigte, er habe von nichts gewusst, und der das Urteil gegen den Vater – fünf Jahre Haft – als „historisch und moralisch ungerecht“ bezeichnete.

Richard von Weizsäcker hatte gewiss viele Verdienste. Seine Rede vom 8. Mai 1985 gehört nicht dazu.

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88 Gedanken zu “8. Mai 45: Kein Tag der Befreiung;”

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    APO: Ja klar […] ist das Blog eine Form des Personenkults.

    Na, so klar ist das nicht.

    Eine Reihe von Jahren habe ich an Schauspiel und Oper, dann ausschließlich an der Oper gearbeitet. Damals bin ich immer wieder Interpreten begegnet, die meinten, das Publikum käme nur ihretwegen. (Und das mag für mindestens einen Teil des Publikums auch zutreffend gewesen sein.) Ich dagegen wollte immer das Stück sehen – das aufzuführende, das aufgeführte und die Differenz zwischen beiden. Heißt: Auf dem Blog geht es Ihnen vielleicht nicht, dem einen oder anderen der Kommentatoren vielleicht aber doch um (Sach-)Diskussion. Mir jedenfalls ging es darum.

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    Arbeiten Sie sich doch auch an Rainer Werner ab.

    Ups! „Abarbeiten an …“ – ziemlich asymmetrische Kommunikations-Situation. Oder?

    Das Blog als Form des Personenkults? 😉

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      Ja klar, Edmund Jestadt, ist das Blog eine Form des Personenkults. Am Ende lesen Sie es, weil Sie die Meinung dieser Person interessiert. Informationen sachlicher Art gibt’s woanders.

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    @Alan Posener

    Lohnt sich das Abarbeiten bei Rainer Werner???

    Im Gegensatz zu Ihnen gibt es hier keinen Dialog.

    Welchen Beruf hat eigentlich Rainer Werner 🙂

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    Apocalypso, (Debatte), Poseners Blattkritik, starke-meinungen.de – was auch immer der (vielleicht) nichtige Anlass war – ziemlich genau 10 Jahre sind Grund genug, etwas anderes zu versuchen, denke ich.

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      Muss ja nicht Posener sein, lieber EJ. Arbeiten Sie sich doch auch an Rainer Werner ab. Und: Gibt es ein Verfallsdatum auf Interesse an anderen Menschen und ihren Ansichten? Bei mir nicht.

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    Wichtiger finde ich die Umsetzung von jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen bei Entfaltung der Fähigkeiten und Bedürfnisse, statt der Zerstörung von Fähigkeiten und Bedürfnissen, als antibürgerlich-bürgerlicher (Ex)Kommunist werden sie mir da sicherlich zustimmen. ^^

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    ohh, sein letzter Kommentar klingt gar nicht so.

    ja, klingt anstrengend, ich wollte sie nicht hetzen.
    Es klingt aber hart, was sie über ihre Mutter sagen, auch wenn es der Wahrheit entsprechen mag. Daher ihre Beschäftigung mit Maria? Das „auf dem Klavier, steht ein Glas Bier, und wer daraus trinkt, der … riecht“ kenne ich aber auch, wichtig wichtig…

    1. avatar

      Lieber Lucas,

      ich habe heute einen Leitartikel geschrieben, eine dienstliche Reise nach London für morgen organisiert und ein Kind im Krankenhaus besucht. Jetzt ist es 18:30, und ich bin ziemlich ausgepowert. Darum nur kurz:
      1. Edmund Jestadt: ich will nicht für ihn sprechen, habe Ihre Anfrage an ihn weiter geleitet. Er fühlt sich anscheinend von mir schlecht behandelt, vielleicht stimmt das auch. Wie gesagt, er kann das hier jederzeit selbst erklären, ich kann das nicht. Ich kann nur sagen, dass ich ihn auch vermisse.
      2. Meine Eltern: Mein Vater war ein antibürgerlicher Bürgerlicher, wie ich es wohl auch geworden bin. Meine Mutter war eine missratene Tochter aus einer Familie, die sich wohl für vornehmer hielt als sie wirklich war. Über meine Großmutter habe ich mal einiges geschrieben:
      http://www.welt.de/print-welt/.....onien.html

      Über meine Mutter schreibt meine Schwester, die Fotografin und Tierschützerin Jill Posener, immer wieder sehr gute Sachen auf Facebook; sie hat über unsere Mutter aber auch im Sammelband „Death of a Mother“ einen exzellenten Aufsatz geschrieben. Leider hat sie Ihr Blog nicht weiter geführt: http://jillposener.blogs.com/

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    Lieber Herr Posener,
    In Ihrem Artikel über den 8. Mai 1945 stört mich die Tatsache, dass sie Holland und Belgien zu den befreiten Nationen zählen, aber Luxemburg nicht erwähnen. In diesem Lande gab es 1942 einen Generalstreik gegen die Naziregierung, welche den allgemeinen Wehrdienst in der Wehrmacht für die jüngere Generation anordnete. Die Unterdrückung dieser Aktion verlangte ihre Todesopfer. Mir als 1944 geborenem Luxemburger fällt diese Auslassung in manchen deutschen Artikeln unliebsam auf.

    Mit freundlichen Grüßen,
    Jacques Wirion

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      Sie haben Recht, Herr Wirion. Ich entschuldige mich. Dafür haben Sie jetzt den Kommissionspräsidenten.

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    Lieber Klaus J. Nick, lieber Alan Posener,

    Für die von Ihnen beschriebenen Verhaltensweisen, der „obstruktiv-pragmatischen Verwaltungspraxis des Standesamts“ sowie den Hinweis des Notars an Ihre Großmutter1938 führte M. Broszat den Begriff der „Resistenz“ ein, mit dem die Grauzone zwischen Anpassung und Widerstand im „Dritten Reich“ beschrieben werden sollte und der aufgrund seiner Schwammigkeit kritisiert worden ist. Auf die von Ihnen beschriebenen Beispiele ist er jedoch durchaus anwendbar.

    Danke für Ihre sehr persönlichen Beiträge (auch an Herrn Ziegler). Ich habe viel daraus gelernt.

    Mit besten Grüßen

    Stefan Trute

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    Lieber Alan Posener, danke für die Würdigung meines ‚Falles‘. Ich war mir tatsächlich etwas unsicher, das hier zu veröffentlichen – aus bereits genannten Gründen. Die Interpretation scheint mir schwierig, sicher auch weil ich in der Kürze nicht alle Einzelheiten präzise geschildert habe. Auch Sie folgern aus ‚Der Registereintrag enthält keine Religionsangabe‘, daß die damaligen Betreiber der Kirchenregister meinen Vater bzw. seine Familie nicht genügend geschützt hätten. Njein: Was ich versäumt habe, zu schildern und was Sie daher nicht wissen können, ist, daß in den Dokumenten alle in Frage kommenden Personen mit diesem Vermerk versehen wurden, auch die katholischen, also wo (mir) Familienbücher mit entsprechenden Einträgen vorliegen. Es ist vielleicht von mir zu subtil interpretiert, aber wenn bei meinem Urgroßvater der Eintrag ‚röm. katholisch‘ gestanden hätte und bei der Urgroßmutter ‚kein Eintrag‘, dann hätte die damalige Dienststelle meines Vaters eher unter dem Druck gestanden, eine rassistisch begründete Verfolgung einzuleiten. Also sozusagen eine obstruktiv-pragmatische Verwaltungspraxis des Standesamtes, wo die Anfrage bearbeitet wurde. Sicher, mit ‚Widerstand‘ hat das nur wenig zu tun.
    An das andere, was Sie schildern und widerfahren ist, nämlich, daß die deutsche Alltagskultur noch von den nationalsozialistischen Wertvorstellungen geprägt war, kann ich für die späten 60er und frühen 70er noch bestätigen. Ich hatte noch einen Lehrer (Geschichte und Religion), der sich darin gefiel, zu behaupten, die teuersten Grundstücke in Köln würden alle Juden gehören. Aber es gab Ausnahmen: Ich hatte 2 Lehrerinnen, die in Israel waren und ganz anderes thematisierten.

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      Irre Geschichte, Klaus J. Nick, das mit der Verweigerung der Konfessionsangaben, und ich würde das durchaus als „Widerstand“ einstufen. Hätte es nur mehr davon gegeben! Ich schildere hier noch ein Beispiel: Als meine in Deutschland verbliebene Großmutter 1938 gezwungen wurde, ein der Familie gehörendes Grundstück in Berlin-Mitte „arisieren“ zu lassen, ließ der Notar im Protokoll der Verkaufsverhandlung festhalten: „Die Veräußerer sind darauf hingewiesen worden, dass der vereinbarte Preis erheblich unter dem Marktwert liegt.“ Auch das werte ich als Widerstand – auch wenn der Notar sich möglicherweise nur absichern wollte für den Fall, dass einmal rechtsstaatliche Verhältnisse wieder in Deutschland herrschen sollten.

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    @ dbh

    Von mir aus können die bleiben. Sie glauben doch wohl nicht, dass Deutschland voll wehrfähig ist? Unsere Illusion – kein Krieg nirgends – ist, was sie ist. Ukraine, islamistischer Terror, kaum Ruhe in Sicht.

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    … tja, bleibt die Frage, wann die Amerikaner und andere, nebst etwa 50’000 Soldaten, Panzern und Atomraketen, nun nach 70 Jahren Besatzung, ich denke dabei auch u.a. an Artikel 120 GG, Deutschland verlassen und Deutschland seine somit volle Souveränität wieder erlangt.

    Die bleiben doch nicht etwa wegen ‚Parisien‘? Oder?

    Übrigens, die Russen sind schon Anfang der ’90er nach Hause gegangen.

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    @ Alan Posener

    Das Zitat ist von Descartes, wie Sie vergessen haben.

    Aufschlussreich:
    „Islamhasser“ statt Islamkritiker
    „Israelkritiker“ statt Antisemit
    „Klimaleugner“ statt Kritiker des geltenden Klimakonsens oder auch Klimaskeptiker

    Der Krieg wurde nicht für mich geführt. Er wurde bekanntlich von Adolf Hitler begonnen und von den Allierten zum Glück gewonnen. Keineswegs dürften sie dabei einmal an Meinungsfreiheit gedacht haben, sondern an Befreiung ihrer Länder, außerdem Rettung der in den KZ’s befindlichen restlichen Überlebenden.

    Sie sind ein bisschen schwülstig. Außerdem rechthaberisch wie immer, gelernt bei Linksintellektuellen.
    Weizsäcker war Präsident aller Deutschen und hatte zweifellos für die später Geborenen recht. Und Sie liegen verkehrt mit Ihrer Kritik, ganz einfach. So pauschal kann man seine Passage nicht verurteilen. Sie wissen sehr wenig von uns in diesem Land, sehr sehr wenig. Und selbst unser Gefühl von Freiheit, unsere subjektive Dankbarkeit, unser Chapeau! an Alliierte und Israelis (im frühen Entgegenkommen) wollen Sie uns versalzen. Das ist inakzeptabel.

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    @lucas
    Ich bin Ihnen sehr dankbar für diese Passage (vom 13. Februar 2015 um 15:04)..

    „Über ihn habe ich vielleicht jüdische Vorfahren, wobei die Unterlagen darüber verschollen (worden) sein sollen und mehr als “vielleicht, vielleicht” laut Aussage meines Vaters aus niemandem herauszukriegen war/ist. Mögliche Erklärungen sind für mich, dass diese, meine Familie sich schützen wollte. Oder Görings “Wer Jude ist, bestimme ich!” Oder er und seine Familie waren Nazis und sie ließen deshalb Unterlagen verschwinden. Oder er wollte irgendjemandem etwas beweisen. Oder er hat sich das als hübsche Identität zugelegt. Ich weiß es nicht. Nach dem Krieg arbeitete er als Angestellter im Bauamt und soll als Mitglied eines Siedlungsvereins Kontakt zu kibbutzniks aufgenommen und sich mit ihnen ausgetauscht haben.“

    ..dachte ich doch, so etwas gäbe es nicht, dürfe es nicht geben angesichts der monströsen Singularität des staatlich organisierten Holocausts. Weswegen ich zögerte, das hier anzumerken:

    Mein Vater hat sich mit 17, 1942 freiwillig zur Kriegsmarine (Lehrgang als Marinefunker, Aurich) gemeldet und ist zunächst U-Boot gefahren (sie waren vor New York). ‚Man‘ hatte wohl mehr mit ihm vor (ob Offizierslaufbahn und/oder SS, weiß ich nicht) weswegen ein ‚Arierausweis‘ bei meiner Großmutter angefordert wurde, die diese Anfrage an die zuständigen Stellen an der Mosel (wo der größere Teil meiner Vorfahren her stammte) weitergab. Sie erhielt mehrere Dokumente mit dem Eintrag „Der Registereintrag enthält keine Religionsangabe“, womit eine ‚höhere Laufbahn‘ meines Vaters wohl erledigt war. Die Dokumente liegen mir noch vor – sowie viele Erinnerungsfragmente aus der Kinder-/Jugendzeit über Erzählungen meines Vaters, die Nachfrage eines jüdischen Mitschülers ob wir vielleicht sogar „verwandt“ wären, auch der etwas schwierige Besuch bei (so vermute ich) jüdischer Verwandtschaft, ein altes Ehepaar in Koblenz, ich glaube 1970. Ich meine ebenfalls, mich erinnern zu können, daß meine Mutter meinte, sie hätte bei dem Besuch „auf heißen Kohlen gesessen“ und an die Frage, ob die beiden denn auch im „einem KZ“ waren, bejahte das mein Vater. Als ich etwa 6, 7, oder 8 war, schärfte mir mein Vater ein, daß wir ‚arisch‘ seien und bezog sich auf den dokumentierten ‚arischen Stammbaum‘ den der Vater meiner Mutter – wohl aus verschiedenen Gründen – erstellen ließ.
    Mein Vater tat nach, glaube ich, zwei U-Boot-Fahrten Dienst auf einem Schnellboot, welches im Schwarzen Meer versenkt wurde und kam dann im Winter 1943 (?) in den Kaukasus und ist wohl mit einem der letzten Fährprahme aus Sebastopol oder Feodosia der Einkesselung entgangen (ich gebe hier die Erzählungen meines Vaters wider). Vorher hat er zwei russische Panzer abgeschossen und ist dafür mit einem EK dekoriert worden. Achja, in Finnland war er auch und hatte dort eine Freundin. Später ist er nach Kurland gekommen und ist auch dort einem Kessel entkommen – wieder nach Finnland. Die Familie seiner Freundin hat ihn (1945) als Taubstummen ‚deklariert‘ und über Schweden und Dänemark nach Schleswig-Holstein geschleust, wo er wohl ‚pünktlich‘ zu Kriegsende ankam und sich nach Köln zu seiner Mutter durchschlug. Sein glückliches Leben begann nach dem Krieg, als er wg. der damaligen Zucker-Rationierung zwar seinen erlernten Beruf als Konditor nicht ausüben durfte und in der Folge zur Kölner Polizei gegangen ist. Dort hat er den Polizeifunk mit aufgebaut und das was er von dort schilderte, war immer interessant, oft Zeitgeschichte – er konnte wenn Besuch da war und das war oft, Abende damit bestreiten. Ich weiß nicht was bei ihm Verdrängung von Schuldgefühlen war, was ggf. erfunden usw., was natürlich immer etwas quälend ist. Er hat viele Fotos in Russland und Finnland gemacht – auch von der Front und einige wenige auch in Lemberg/ heute L’vov, wo ein deutscher Stützpunkt war und er bei der Fahrt an die Front nach einem ‚Fronturlaub‘ wohl Halt machte.
    Meine Großeltern lebten zu der Zeit in Bonn-Kessenich und sie ließen sich 1939 wg. dauernder Streitigkeiten scheiden. Das Geld verdiente damals meine aus Ostfriesland stammende Großmutter und es liegt mir eine Begründung für die damals zuständige Behörde vor, in der von Zerrüttung die Rede ist. Mein Großvater hatte eine Gärtnerei in Bonn in der Gronau, aber fast keine Arbeit, handelte in den 30ern wohl noch mit Schafen und Ziegen und die Stimmung zwischen den Eheleuten war wohl recht gespannt. Meine Großmutter habe ich noch sehr gut kennengelernt, sie war sehr fürsorglich und tüchtig und hat mit 70 noch gearbeitet. Mein Großvater schlug sich wohl die letzten Kriegsjahre als Landstreicher durch und mein Vater sah in das letzte Mal bei irgend einem Fronturlaub. Er starb 1946 in einem Männerwohnheim in Bielefeld. Ich habe nur zwei Fotos von ihm, sowie ein kleines ‚Moseskörbchen‘ aus Leder, aus dem mein Vetter als Kind in den 70ern den Moses geklaut hat. Mein Vater erzählte nur einmal (!) – ich war vielleicht 6 oder 7 – daß es „eine Zeit gab“ in der Juden (oder wie auch immer er sich ausdrückte) umgebracht worden wären, aber daß ‚wir‘ nun sicher wären, da meine Großmutter bei der Eheschließung 1922 meinem Großvater (ein Taufschein lag nicht vor) das Wort abgeschnitten hätte und ‚evangelisch‘ angegeben hätte. (Ohne einen latenten Antisemitismus bereits damals, vor dem vielleicht damit geschützt werden sollte, auch nicht denkbar).

    Die monströse Schuld des deutschen Staatsvolkes scheint mir eine Triebfeder zu sein, die Verklärung fördert (ich habe mich das bei der Bewertung meiner eigenen Erinnerungen und Interpretationen oft gefragt und in jüngeren Jahren mit sehr viel Abwehr auf das Thema reagiert). Umso schwieriger scheint mir die eigene Positionierung in einer Diskussion, wie dieser, die eben durch die Schuldfrage emotional aufgeladen ist, denn jedes Argument, jedes Erinnerungsfragment läuft Gefahr, in einer Weise genutzt oder bewertet zu werden, die man nicht will. Beispiel, überspitzt: Ah, ja – auch Juden in der Wehrmacht.. (vieles andere denkbar). Das ganze ist ein sehr glattes Parkett.

    Es geht mir (auch mit meinen Beiträgen in diesem Blog) nicht um eine irgendwie geartete ‚Entschuldung‘ der Deutschen o.Ä., sondern die Kenntnisnahme dessen, was wirklich war. Eine irgendwie (auch) jüdische Herkunft ‚entschuldet‘ da doch keineswegs. Sie sollte m.E. auch nicht ‚genutzt‘ werden, um irgendeine Legitimation für irgendwas zu erhalten (pro / contra Israel, für / gegen Muslime usw., @Parisien, als Denkanstoß), sondern sie sollte Klarheit schaffen, auf der etwas neues aufgebaut werden kann. Auch von daher finde ich Weizsäckers Rede von „Befreiung“ problematisch – wenn auch politisch, wie ich hier anhand einiger Kommentare gelernt habe, wahrscheinlich zu jener Zeit richtig.
    Mein Sohn machte mich aber vor einiger Zeit mal darauf aufmerksam, daß ein ‚othering‘ (ich bin anders, ich habe mit allem nichts zu tun, z.B. qua Abstammung oder ‚Gnade der späten Geburt‘) psychologische Entlastungsfunktion hat – und ich möchte ergänzen: daher mit Vorsicht zu genießen ist. Andererseits sollte man sich nicht in einer (Fremd)Schuld suhlen und depressiv werden. Es war wie es war und wir sollten es akzeptieren und anders machen.

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      Lieber Klaus J. Nick, vielen Dank für diese Schilderung der verworrenen und verwirrenden Verhältnisse in Ihrer Familie. Dass man sich in den 1950er, 1960er Jahren noch der jüdischen Verwandtschaft schämte, erinnert mich daran, dass nach Angaben meiner Frau ihre Mutter ihr damals (ca. 1967) verbieten wollte, „den dreckigen Juden“ (mich) nach Hause zu bringen. Man schämte sich auch der Widerständler in der eigenen Familie, wie ich erst vor einigen Tagen von einer alten Freundin erfuhr, deren Großvater an hervorgehobener Stellung in Berlin sich Anweisungen der Nazis zur Rassentrennung widersetzte und sich anschließend selbt umbrachte, vermutlich um der Verhaftung zu entgehen. Schließlich fand ich folgende Bemerkung bei Ihenn besonders aufschlussreich: „(Die Großmutter) erhielt mehrere Dokumente mit dem Eintrag ‚Der Registereintrag enthält keine Religionsangabe‘, womit eine ‘höhere Laufbahn’ meines Vaters wohl erledigt war.“ Aber natürlich hatte der Nationalsozialismus nichts mit dem Christentum zu tun …

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    Ich denke, diese Diskussionen bringen relativ wenig, wenn jeder glaubt, dem Gegenüber erklären zu können, wie dieser mit der Geschichte umzugehen, wie er sich dazu zu verhalten und welche Schuld er wie zu tragen hat.

    Unabhängig davon, was man von und über Ken Jebsen liest und von ihm halten mag, hat mich folgendes Interview, das Ken Jebsen mit Sally Perel geführt hat, oft an die hier geführte Diskussion erinnert und mich so manche Argumente, die hier gewechselt wurden, in einem anderen Lichte erscheinen lassen:

    https://www.youtube.com/watch?v=KhHU_eK233o

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    Die Headline:
    „Er war ein sehr fleißiger und begabter Schüler“

    Und dann das:
    Der mutmaßliche Attentäter von Kopenhagen war erst vor wenigen Wochen aus dem Gefängnis entlassen worden. Der 22-Jährige wurde verurteilt, weil er ein Jahr zuvor in einem Kopenhagener Bahnhof einen 19-Jährigen ohne erkennbaren Grund niedergestochen hatte. Er soll dafür im Dezember 2014 zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, aber im Januar dieses Jahres schon wieder entlassen worden sein, weil er so lange in Untersuchungshaft gesessen hatte.

    Die Polizei bestätigte die Informationen zunächst nicht, sagte jedoch der 22-Jährige habe mehrere Gewalttaten auf dem Register und habe gegen Waffengesetze verstoßen. Er habe zudem Kontakte zu kriminellen Banden gehabt. Laut einem Bericht gehörte der junge Mann einer Gang namens „Brothas“ im Stadtteil Nörrebro an. Dort war er nach den Angriffen vom Wochenende von Polizisten erschossen worden.
    http://www.welt.de/politik/aus.....ueler.html

    Eines der probleme liegt ja wohl in der Rechtssprechung, der Kürze der Strafen. Ein weiteres insolchen Headlines.

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    @ Alan Posener
    Den Ausdruck „Arier“ habe ich bislang nur bei Ihnen gelesen. Desgleichen den Ausdruck „Gesocks“.
    Autochthone kann man nicht ausweisen, aber genauso lange inhaftieren.
    Sie wollen nicht verstehen.
    Unterstellen aber tun Sie gerne.

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      Lieber Parisien, wenn der Zweite Weltkrieg für irgendwas gekämpft wurde, dann für den Grundsatz: „Ich bin absolut gegen Ihre Meinung; aber ich würde mein Leben dafür hingeben, dass Sie sie äußern dürfen.“ Woraus folgt, dass ich gerade die Meinungsfreiheit der Islamhasser, Antisemiten, Israelkritiker, Kommunisten, Nationalisten, Klimaleugner usw. verteidigen muss. Wenn Sie das nicht begriffen haben, wurde der Krieg, was Sie betrifft, umsonst gekämpft.

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    @ Alan Posener
    Ich wollte Sie nur ganz bescheiden daran noch erinnern, dass ich es auch nicht war. Ich bin ein Kind, das unter Helmut Kohls Stern der „Gnade der späten Geburt“ an diesem Ort, der BRD, geboren wurde. Trotzdem trug ich die Kollektivschuld staatsbürgergrößenmäßig souverän mit. Echte Wortschöpfung. Dennoch hat mich jeder Israeli, jeder Jude, jeder Brite, jeder Franzose, jeder Amerikaner in der Begegnung und im Gespräch individuell davon befreit.
    So muss ich darauf bestehen, dass Einwanderer, egal woher sie kommen, diese Staatsschuld mit tragen und auf unserem Boden nicht neuerliche antisemitische Gelüste ausjohlen oder in Synagogen- und Friedhofsschändungen oder Angriffen auf Rabbiner in Frankfurt oder Berlin oder auch auf Demonstranten mit Israelflagge ausleben. Wenn sie das doch möchten, könnten sie in ihre eigenen Länder zurückgehen. Alternativ bieten sich zehn Jahre Knast an. Zu hoch? Nein! Zu gering, wie wir heute auf unsere alte Massivschuld juristisch reagieren.

    1. avatar

      Also, Parisien, ist es OK, wenn Arier jüdische Friedhöfe schänden usw.? Ausweisung und ggf. Entzug der staatsbürgerlichen Rechte nur bei Semiten (Arabern) und anderem Gesockse? Wie gesagt: Befreit sind Sie noch lange nicht.

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