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8. Mai 45: Kein Tag der Befreiung

Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz befreit. Am 8. Mai dann ganz Deutschland. Die Daten so nebeneinander zu halten heißt erkennen, wie unsinnig es war, als Bundespräsident Richard von Weizsäcker vor nunmehr 30 Jahren in seiner Rede zum Kriegsende behauptete, der 8. Mai sei für die Deutschen ein „Tag der Befreiung“.

Befreien kann man nämlich nur Menschen, Völker, Nationen, die unterdrückt wurden. Auschwitz wurde befreit – die Insassen kamen frei. Frankreich, Belgien, Holland und andere Nationen Westeuropas wurden befreit. Aber die Deutschen waren nicht unterdrückt worden. Sie machten den „Führer“ in freien Wahlen zum mächtigsten Politiker der Republik. Ihre politische, militärische und wirtschaftliche Elite bot ihm die Macht an. Die Parteien des Bürgertums wählten ihn in offener Abstimmung zum Diktator und lösten sich dann selbst auf. Die Deutschen haben diese Diktatur und ihre Maßnahmen immer wieder in Volksabstimmungen gebilligt. Die Österreicher bejubelten den „Anschluss“. Deutsche und Österreicher hielten ihrem Führer bis zum bitteren Ende die Treue.
Die Deutschen – und die Österreicher – wurden besiegt und besetzt, nicht befreit. Es folgten Demontagen und Demütigungen, Vergewaltigungen und Vertreibungen. Im Osten blieben die Deutschen besetzt und unfrei bis zum Tag der Befreiung am 9. November 1989. Im Westen durften sie sich nach und nach selbst vom Nationalsozialismus befreien. Aber der Prozess dauerte lange und ist noch nicht abgeschlossen.
Er setzte ja voraus, dass sich die Deutschen mit ihrer Rolle ehrlich auseinandersetzten. Aber das ist nicht geschehen. Abstrakt verurteilte man den Nationalsozialismus. Konkret war man bemüht, die eigene Rolle zu kaschieren. Das galt auch für die Folgegeneration, die 68er, die zwar abstrakt die Väter- und Tätergeneration verurteilte, aber eigentlich nur, um sie in toto politisch zu desavouieren und den eigenen moralischen Anspruch zu begründen. Konkret war man erstens selten willens, das Schweigen der Väter und Mütter zu hinterfragen und zweitens umso schneller bereit, anderen Mächten – insbesondere den USA und den Israelis – zu unterstellen, sie würden das Gleiche wie die Nazis planen oder tun: „USA – SA – SS!“
In Götz Alys neuem Buch, „Volk ohne Mitte“, finden sich viele solche Beispiele. Hans-Magnus Enzensberger etwa, der keinen Unterschied zwischen Adolf Eichmann und dem amerikanischen Mathematiker Hermann Kahn sah, der die Opferzahlen verschiedener Atombombenangriffe durchrechnete – außer dass Eichmann gelegentlich seinen Opfern ins Gesicht sah. Enzensberger behauptete, mit seinen Eltern Glück gehabt zu haben, weil sie ja von den Nazis nichts gehalten hätten. Er vergaß zu erwähnen, dass sein Vater seit 1933 Mitglied der NSDAP gewesen war. Beate Klarsfeld, die Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit ohrfeigte, entblödete sich nicht, von ihren Eltern zu behaupten, sie hätten zwar die Nazis gewählt, seien aber keine Nazis gewesen. Von der persönlichen Verstrickung von Günter Grass, Walter Jens, Heinrich Böll und anderen Moraltrompetern jener Zeit ganz zu schweigen.
Oder von Richard von Weizsäcker, der seinen in Nürnberg wegen Beteiligung an Judendeportationen nach Auschwitz angeklagten Vater mit dem Argument verteidigte, er habe von nichts gewusst, und der das Urteil gegen den Vater – fünf Jahre Haft – als „historisch und moralisch ungerecht“ bezeichnete.

Richard von Weizsäcker hatte gewiss viele Verdienste. Seine Rede vom 8. Mai 1985 gehört nicht dazu.

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88 Gedanken zu “8. Mai 45: Kein Tag der Befreiung;”

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    Ach, wissen Sie, Herr Posener, deutsche Staatsräson scheint doch inzwischen auch zu sein, über antisemitische Vorfälle hinwegzusehen, wenn sie nicht von den allein stinkenden autochthon deutschen Ultrarechten kommen. Also gibt es eine Verbalräson und anscheinend eine der Situation angepasste ausgeübte Räson, die der Verbalbeteuerung widerspricht. Wobei es möglicherweise gefährlich ist, diese Aussage nicht noch einmal zu treffen und um europäische Juden zu erweitern. Hier Ihr Kollege Böss:

    Wer in Anschlägen auf jüdische Gotteshäuser keinen Antisemitismus sehen kann, ist ein glücklicher Mensch. Dann gibt es nämlich keinen Antisemitismus mehr. Wer aber so glücklich ist, sollte kein Richter sein. Nicht in einem Land, in dem jüdisches Leben mit der Waffe in der Hand von Polizisten verteidigt werden muss. Und nicht auf einem Kontinent, den Juden wieder aus Angst um ihr Leben verlassen.

    Anschläge auf Synagogen sind also nicht antisemitisch motiviert, wenn die Täter erwähnen, dass sie damit eigentlich nur auf den Gaza-Konflikt hinweisen wollten. Dem Gericht fällt schlicht nicht auf, dass dieses Motiv Antisemitismus in Reinform ist. Offenbar sind Angriffe auf jüdische Gotteshäuser für manche deutschen Richter nur eine etwas wüstere Israelkritik, die sich im Ton vergreift. Klartext mit dem Molotowcocktail. Aber kein Antisemitismus, nirgendwo.
    http://www.achgut.com/dadgdx/i.....itismus_ab

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    @ Alan Posener
    Ist nicht nur unsere Staatsräson, sondern auch meine Überzeugung.

    Aber echt frei heute: 2xRobben, 2xMüller, 2xGötze, 1xLewandowsky, 1xRibéry. Holland, Polen, Frankreich, Deutschland, all inclusive, gegen die Jungs von der Waterkant. Beileid.

    Wie war das jetzt genau: Möchten Sie uns von Israel befreien oder habe ich da was missverstanden?

    Die Freiheit, von der ich sprach und vielleicht auch Weizsäcker,ist längst zu Ende. Haben Sie von dem Attentat in Kopenhagen gehört? Lars Vilks war anwesend.

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    Ich muss abschließend noch ein paar Korrekturen anfügen, weniger um die arg verhaltene Diskussion hier voranzutreiben als um die Geschichte meines Opas richtigzustellen. Wenn ich sie schon unautorisiert erzählt habe.

    Ich habe inzwischen mit meiner Mutter gesprochen; sie sagte, mein Großvater wäre nicht in der NSdAP gewesen. Er hätte aber ihrer Ansicht nach schon antisemitische Einstellungen gehabt, über die er später nie mehr sprechen wollte. Über diesen Punkt und über sein vorgebliches Unwissen gab es Streitereien mit meinem Vater, der wie sein Vater ein überzeugtes SPD-Mitglied gewesen war. Dieser Familienzweig aus Schlesien wusste durchaus, was in den KZs geschehen ist, und mein anderer Opa bestritt dieses Wissen. Mein Vater glaubte seinem Schwiegervater nicht und stellte die naheliegende Frage, was denn zum alltäglichen Abtransport der Juden am Familientisch gesagt wurde, und die unbefriedigende Antwort war, dass dazu gar nichts gesagt worden wäre.
    Mein Opa mütterlicherseits sei durchaus politisch interessiert gewesen, sagte meine Mutter. Er habe jenem SS-Mann nicht, wie ich oben geschrieben habe, „die Tür vor der Nase zugeschlagen“; das hätte er sich nie getraut und es wäre auch unsinnig gewesen. Er war ohnehin ein ängstlicher Mensch, aber die von mir angesprochene Einschüchterung durch die SS hat es auch für Deutsche gegeben.
    Zum Schluss der hier entscheidende Punkt: Das Kriegsende hätten alle als Niederlage empfunden. Die totale Zerstörung und das viele Leid hätten gar keine andere Sicht möglich gemacht, sagte meine Mutter. Die Erkenntnis, dass es auch eine Befreiung war, hätte sich erst wesentlich später, ca. 15 Jahre nach Kriegsende, eingestellt. Hier muss ich also Herrn Posener recht geben, was meine Familie mütterlicherseits betrifft. Aber meine Mutter bestätigt, dass sie zum Zeitpunkt der Weizsäckerrede das Kriegsende längst als Befreiung zu sehen gelernt habe.

    Die Familie väterlicherseits habe die Nazis gehasst. Mein Opa hat – entgegen meiner Behauptung – doch, in späten Kriegsjahren, trotz seiner Arbeitsverletzung als Soldat kämpfen müssen. Er ist dabei in russische Gefangenschaft geraten und musste sich nach Kriegsende mit seiner Familie, d.h. meinem Vater, auf eine fürchterliche Flucht aus Schlesien zum Ort meiner Mutter begeben, wo die beiden sich trafen, verliebten und heirateten.
    Womit dann ungefähr meine eigene Geschichte beginnt.

    Inwieweit diese nachträgliche Korrektur oder vielmehr Erweiterung (denn eine Niederlage kann wie gesagt immer auch eine Befreiung sein) nun in Anbetracht der „wirklichen“ Opfer und Sieger verlogen ist oder nicht, möchte ich dahingestellt sein lassen. Meine eigene Sicht habe ich dargestellt. Für mich ergibt sich, bezogen auf alle Deutsche, ein durchbrochenes Bild von einer Niederlage, die für die einen nichts als eine Niederlage, für die anderen auch eine Befreiung war, für weitere später zu einer Befreiung wurde und für wieder andere nichts als eine Befreiung war. Weizsäckers Satz von der Befreiung für alle, wie anfangs gesagt, war wohl etwas pauschal und vereinfachend. Aber keinesfalls total falsch, und was will man von einer Präsidentenrede erwarten.

    Und damit will ichs bewenden lassen.

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      Lieber Roland Ziegler – und wenn mein Beitrag nur dazu geführt hat, dass Sie Ihre eigene Familiengeschichte ein wenig genauer kennen gelernt haben, dann hat sich doch das Schreiben geohnt. Finde ich jedenfalls. Vielen Dank fürs Aufschreiben und Mitteilen.

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    Lieber Roland Ziegler,
    man sollte sich nicht zerreden lassen, dass man das Gefühl einer Befreiung in zweiter und dritter Generation hatte. Die Geschichte, die Eltern und Lehrer vermittelten einem das gut genug.
    Die deutsch-französische Freundschaft, angefangen von de Gaulle/Adenauer, weitergeführt von Schmidt/d’Estaing, war ein Juwel, viele von uns lernten französisch und Frankreich kennen.
    Die Briten fingen im Laufe der Jahre an, zu sagen, sie hätten auch ihre Fehler. Die Israelis streckten die Hand aus. Wir haben unendliches Glück gehabt, und im Endeffekt ist es daher wichtig, eine gewisse Dankbarkeit dafür zum Ausdruck zu bringen und, wie ich finde, eine Grenzlinie zu ziehen zwischen mehr oder weniger gelungener Nachkriegspoltik in Deutschland und desaströser Politik in diesem Jahrhundert in Nordafrika und ME.
    Befreiend war auch für uns spätere Generationen, dass die Juden insgesamt die Bereitschaft zeigten, uns, den Jüngeren nichts vorzuwerfen, was ich für eine Folge ihrer überragenden Religion mit eingebauter Verzeihlichkeit und ihrer absolut gutmütigen Wesensart, die immer am ehesten sie selbst gefährdet, halte.
    Bezug nehmend auf letzteren Satz muss ich daher konstatieren, dass die israelische Politik für mich nachvollziehber ist, hier besonders die Erkenntnis einer permanenten spezifischen Gefährdung, nur weil man jüdisch ist, und die daraus abgeleitete Verabschiedung von gutmütiger Naivität.
    Wir Deutschen tun nicht genug gegen Antiisraelismus und Antisemitismus. Inzwischen sind wir Meister der Lippenbekenntnisse und bringen es tatsächlich fertig, eine Antisemitismuskommission ohne jüdische Beteiligung zuzulassen. Ich nehme an, Sie haben davon gehört, ansonsten achgut oder Deirdre Berger.
    Wir machen es offensichtlich in der Öffentlichkeitsarbeit nicht klar genug, dass Deutschland eine besondere Verantwortung für Juden und Israel trägt und jemand, der diese nicht teilen will, in unserem Land nichts zu suchen hat und – ich gehe noch darüber hinaus – deswegen ausgewiesen werden sollte.
    Daraus dürfen Sie entnehmen, dass ich den Alliierten und Israel absolut dankber bin für Nachsicht und relativ unbeschwerte jüngere Jahre. Und dass Richard von Weizsäcker, aus ähnlichem Holz wie ich geschnitzt, das auch war und Recht hatte mit seinem Satz.
    Wünsche ein gutes WE!

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      Lieber Parisien, Sie schreiben: „Deutschland (hat) eine besondere Verantwortung für Juden und Israel trägt und jemand, der diese nicht teilen will, (hat) in unserem Land nichts zu suchen und – ich gehe noch darüber hinaus – (sollte) deswegen ausgewiesen werden.“ Sehen Sie, und so lange in Deutschland so gedacht wird – wer die Staatsräson nicht teilt, gehört nicht dazu -, so lange sind Sie nicht befreit worden.

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    Richard v. Weizsäcker war ein harmoniebedürftiger Mensch, der die innerdeutschen Gräben zuschütten wollte. Deswegen sagte er, der 8. Mai 45 habe uns alle befreit.

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    Zum Thema „Gemeinschaft mit den Vätern“:

    http://www.faz.net/aktuell/syr.....26948.html

    Wenn die Griechen bis zu einem Friedensvertrag warten sollen, bis sie Reparationszahlungen erhalten bzw. den Zwangskredit zurück bezahlt bekommen, würde ich als griechische Regierung vorschlagen, die Rückzahlung der EU Kredite „ruhen zu lassen“, bis eine Friedensvertrag mit Deutschland geschlossen worden ist.

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    Die Umdeutung der Niederlage in eine Befreiung war doch ohne Frage der Ausdruck (des Versuchs) einer neuen Konstituierung des deutschen Volkes, also dessen, was Reaktionäre die Bunte Republik nennen. Wenn die Reeducation Wirkung zeigen sollte, war doch klar, dass dieser Satz irgendwann fallen musste. Wobei sich mir die Frage stellt, ob es die Reeducation oder eine Deklination der internationalen Postmoderne war. Sei`s drum: Ich habe diese Aussage nie als eine Umdeutung der Täter gesehen (in der NSDAP, aber kein Nazi – klar), sondern als Klarstellung, auf welcher Seite wir heute stehen (oder in den 80ern standen).
    Mir hat dies geholfen, die Jugo-Kriege zu überstehen, ohne mich mit „meiner Seite“ zu gemein zu machen. Ich habe mir vom ganzen Herzen gewünscht, dass die Republika Srpska gestoppt wird und der Verlust des Kosovo war für mich einer meiner schönsten Tage. Ich fühlte mich im Recht, gerade weil ich Serbe bin. Ich würde lügen wenn ich behaupten würde, dass Weizäcker und die Umdeutung der Niederlage in eine Befreiung keinen Einfluss darauf gehabt hätten. Pride-Parade in Belgrad…ohne Niederlage keine Freiheit keine Befreiung. I feel like I win when I loose.

    Wie gesagt, vielleicht hatte ich ihn falsch verstanden, aber ich kenne viele, die dies auf die gleiche Weise taten und letztlich zählen die Ergebnisse, isn`t it? Also, nochmal ein herzliches Danke an Weizäcker.

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    Mit Verlaub: Die wirkliche Linke war eine Minderheit im politischen Spektrum dessen, was man in den 80ern die Linken nannte. Die Mehrheit war jugendliche Subkultur und so war das Sprühen von USA/SA/SS ein Ausdruck der Rebellion. Für eine fundierte kritische Reflektion reichten weder Wand noch Sprühdose.
    Wenn es wirklich eine Gnade der späten Geburt gibt, dann ist der Umstand, sich in den 80ern Links nennen gekonnt zu haben, ohne Marx&Co verstanden oder überhaupt gelesen zu haben, auf jeden Fall eine Gnade. „Macht kaputt, was euch kaputt macht“ hatte bestimmt mehr Einfluss auf diese Generation, als ein (who the fuck is..) Rudi Dutschke, Cohn-Bendit oder Enzensberger, Grass etc. Der kleinbürgerliche Hedonist hatte Weizäcker auf seine Art verstanden, was man nicht von jedem politischen Redner behaupten kann.

    Ja, komplett off-topic zu 45, aber die Rede war ja auch 85. Und für die 80er war sie ein Verdienst.

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    Ohne Frage haben das Reich und seine Wehrmacht verloren. Die Generation, die von Reaktionären als drogensüchtig, pädophil und im besten Fall nur homosexuell beschrieben wird, kann diesen Tag nicht als Niederlage empfinden. Ob „45 Befreit“ der richtige Begriff dafür ist, sei mal dahingestellt, auf jeden Fall war die totale Niederlage des Reiches die Bedingung für das Entstehen dieser Generation. Obwohl SchwarzRotSenf natürlich aufgezwungen war, identifizieren sich heute doch eine überwältigende Mehrheit mit dieser Republik. Ohne die Niederlage/Befreiung gäbe es uns heute nicht. ABBA: I feel like I win when I lose. Weizsäckers Verdienst war es, dies mal laut gesagt zu haben. Also keine neue Richtung, eher eine Feststellung. Ich weiß nicht mal, ob er das damals so gemeint hat, aber ich kann mich noch gut an die Aufregung erinnern. Es war ein Bruch der Postmodernen mit den Vorfahren und damit auch die Auflösung des völkischen Konzeptes. Wenn das Reich Deutschland war, dann sind wir nicht mehr Deutsche. Die Redewendung „Ich fühle mich nicht als Deutscher“ kam in Mode. Kann sein, dass das alles schon 68 gesagt wurde, in der Kleinstadt am Rhein, in der ich Aufwuchs, wurde dies erst durch Weizäcker zu Mainstream.

    Kann auch aus sein, dass dies damals unausgegorener Blödsinn war, von Weizäcker und auch von uns. Ich kann mich nur noch erinnern, dass diese Rede die Siegesparade der Moderne und die Verbannung der Reaktionären in die Schrulligkeit war. Fiel mir als Gastarbeiterkind deswegen auf, weil zum Deutschsein eben kein Großvater in Stalingrad mehr dazugehörte, es also für mich einen Platz gab. Die Frage, auf welcher Seite man gestanden hätte, war geklärt. Wir wären alle auf der selben gewesen und die Erkenntnis hatte verbindende Wirkung. Der Grundstein für die Bunte Republik. Wie gesagt, bei uns, in unserer Kleinstadt.

    Natürlich können gelehrtere und informiertere Menschen die Nase rümpfen, besonders weil Weizäcker intellektuell hier unter seiner Gewichtsklasse boxte. Sollte man den Wert einer Rede nach ihrer Wirkung bemessen, yo, die hat was bewegt. Zumindest uns damals Pubertierende. Das kann man ihm/ihr nicht absprechen. Da nehme ich ihm die historischen Unschärfen nicht übel. Die Wertung als Befreiung sagte mehr über das Lebensgefühl der 80er, als über 45.

  10. avatar

    Meine Eltern haben mir von von Weizsäckers Vater erzählt (aber nicht, dass er diesen verteidigte).

    Wo Roland Ziegler über seine Familie erzählt, in meiner gibt’s alles mögliche:
    Mein Urgroßvater war in der Wehrmacht, aber ließ sich vom Kriegsdienst bis kurz vor Kriegsende freistellen, Freimaurer und nationalliberalkonservativ. Er war Schlossermeister und da das ja irgendetwas mit Metall zu tun hatte, konnte er bei entscheidenden Stellen eine Freistellung vom Kriegsdienst durchbekommen. Wenn der Krieg nicht zu ihm vor die Haustür gekommen wäre, hätte er wohl seinen Betrieb stark ausbauen können, so wie sein sehr guter Freund im deutschen Ausland mit seinem getan hat, mit dem er auch während des Krieges Kontakt hielt und Ideen austauschte. Im Betrieb und in Häusern der Familie sollen Polen aus der Umgebung unter normalen Bedingungen gewohnt und gearbeitet haben. Er kam in sowjetische Kriegsgefangenschaft, in der er verstarb.
    Seine Tochter, meine Großmutter erlebte die Rote Armee als freundlich. Sie war nicht im BDM, sondern stattdessen beim Roten Kreuz.
    Mein Großvater war bei der SS. Ich gehe davon aus, dass er als Mitglied dieser Organisation persönlich Täter war, obwohl er es nicht sein soll.
    Über ihn habe ich vielleicht jüdische Vorfahren, wobei die Unterlagen darüber verschollen (worden) sein sollen und mehr als „vielleicht, vielleicht“ laut Aussage meines Vaters aus niemandem herauszukriegen war/ist. Mögliche Erklärungen sind für mich, dass diese, meine Familie sich schützen wollte. Oder Görings „Wer Jude ist, bestimme ich!“ Oder er und seine Familie waren Nazis und sie ließen deshalb Unterlagen verschwinden. Oder er wollte irgendjemandem etwas beweisen. Oder er hat sich das als hübsche Identität zugelegt. Ich weiß es nicht.
    Nach dem Krieg arbeitete er als Angestellter im Bauamt und soll als Mitglied eines Siedlungsvereins Kontakt zu kibbutzniks aufgenommen und sich mit ihnen ausgetauscht haben.
    Er wurde früh aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen.
    Kennenlernen konnte ich ihn nie, er ist vor meiner Geburt verstorben.

    Der andere Großvater war zu jung, aber, so meine Vermutung Zwangsmitglied(?) in der Hitlerjugend, wie meine andere Großmutter respektive im BDM. Beide waren in Bunkern bzw. in der Kinderlandverschickung. Die Eltern meiner Oma haben soweit ich weiß eine ähnliche Geschichte wie die von Roland Ziegler.
    Diesen Opa habe ich auch nie wirklich kennengelernt und kaum, ich war einfach zu jung, aber in guter Erinnerung.

    Das menschenverachtende System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft wurde von „uns allen“ getragen, nämlich den Deutschen, wie meinem SS-Großvater, meinem Wehrmachts-Urgroßvater, meinen Bunkerbewohnern, meinen Vertriebenen, usw.

    „Soll, könnte, Fragezeichen“ Was von dem ganzen nun stimmt und was nicht, weiß ich nicht, würde es gerne mal wissen, aber habe es bisher nicht überprüft.

    Mein Vater (der Sohn meines SS-Opas) hatte auf jedenfall nicht geläuterte Lehrer (der Schulleiter war glücklicherweise Sozialdemokrat) und bekam noch Jahrzehnte nach 1945 „Dich hätten wir vergast“ zu hören.

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      Lieber lucas, auch Ihre Geschichte: hoch interessant, nicht zuletzt das „soll“, „könnte“ usw.; man fragt zu spät nach, und dann sind die Geschichten weg. Danke fürs Mitteilen.

  11. avatar

    Das rationale, einfach zu verstehende und wichtige Argument von „IrgendWem“ kann man mit zwei weiteren Überlegungen ergänzen. Zum Einen bedeutet besagter „erdrutschartiger Zuwachs“ von 18,3% auf 37,4% nicht, dass die Differenz – fast 20 % – alle in der Wahlperiode zu Nazis mutiert wären. Wir haben hier vielfältig über die AfD diskutiert, und da hat sich herausgestellt, dass viele, die sich hier auf dem Blog als AfD-Wähler erklärten, eine gehörige Skepsis gegen diese Partei beibehielten, die sie freilich nicht davon abhielt, diese Partei zu wählen. Dasselbe gilt für die Wähler der Linken und alle möglichen Protestwähler; dasselbe muss man auch für die damaligen NSdAP-Wähler unterstellen (für mich ein Grund, nie aus Protest irgendeine Partei, der ich eigentlich misstraue, zu wählen).
    Wenn man sich zudem das publizistische Klima der Weimarer Republik anguckt, wo einem auf tausenden von Flugblättern aller möglichen Parteien (auch z.B. der SPD) die übelsten Parolen entgegengeschmettert werden, dann trägt dieses Klima das ihrige dazu bei. Ich hätte mich vermutlich mit Grausen von jeglicher Parteipolitik abgewendet; andere wurden von der durchsichtigsten Schmierenkomödie aller Zeiten (aus heutiger Sicht) eingeseift und gaben Hitler ihre Stimme. Daneben gab es natürlich auch echte Hardcore-Nazis, aber es waren sicher weniger als jene 37,4 %. (So dass es gar keinen Grund gibt, wie ich mir selber sagen muss, zu befürchten, dass meine eigene Geschichte irgendwie vor dem Vorwurf der Verlogenheit beschützt werden muss. Ich hatte Großeltern, die keine Nazis waren; so einfach ist das. Die waren ,mit ihrer Haltung sogar in der Mehrheit: mit 62,6 % Stimmanteil der wählenden Bevölkerung. Von den Nichtwählern – zu denen sie möglicherweise zählten; ich weiß es nicht – ganz zu schweigen.)

    Der zweite Aspekt ist eine raum- und menschengreifende Verschüchterung; eine Paralyse. Es ist überall auf der Welt zu sehen, wie Gruppen von agressiven Männern ganze U-Bahn-Ladungen, Flugzeugpassagiere, Staaten und Völker in ihre Gewalt bringen. Einfach durch ihr aggressives Verhalten. Die Leute senken den Blick, starren auf den Fußboden und gefrieren innerlich. Wer hier Vorwürfe äußert, versteht das nicht und sollte erstmal unter Beweis stellen, dass er wirklich anders handeln kann.

    Das trifft nicht auf alle zu, ich weiß. Aber auf viele, von denen oft keine Rede ist, vielleicht weil sie nicht besonders spektakuläre Biografien haben. Und auch heute würde ich eine Gemeinschaft mit Gruppen, die mir unangenehm sind – Pegida als Beispiel – einfach verweigern. Wir sind gemeinsam Staatsbürger eines Staates, mehr aber nicht. Und was soll mich jetzt ausgerechnet mit jenem SS-Trottel verbinden, dem schon mein Opa seinerzeit die Tür vor der Nase zugeschlagen hat? Wenn mich schon (leider) nichtmal etwas Nennenswertes mit meinem Opa verbindet?

  12. avatar

    Dear Apo,

    >Diese Befreiung schloss die Reeducation mit ein, die Entnazifizierung und so manche andere Maßnahmen, die notwendig waren, damit sich dieses Volk aus der Unmündigkeit entlassen werden konnte – und das nur im Westteil.<

    Sie wissen doch das die reeducation verlogen war oder haben sie das vergessen ??

    Wieviel SS-Personen waren wohl in der German public administration?

    Und was war mit Wernher von Braun ?

    Und mit Klaus Barbie?

    Und en passant,

    Hermann Kahn war Physiker, kein Mathematiker.

  13. avatar

    Lieber Alan Posener,

    Daß die Deutschen in ihrer übergroßen Mehrheit das Kriegsende nicht als Befreiung, sondern als Niederlage empfunden haben, ist wohl eine historische Tatsache. Daß ein westdeutscher Bundespräsident 40 Jahre später dieses Kriegsende als Befreiung der Deutschen bezeichnet, ist demgegenüber kein Widerspruch. Da würde ich Per Leos Argumenten folgen.

    Weizsäckers Rede ist eben ein Zeitdokument, gehalten in einem Klima vergangenheitspolitischer Auseinandersetzungen, die sich mit der Kanzlerschaft Helmut Kohls verschärften und schließlich im “ Historikerstreit“ mündeten.

    Sie haben recht, wenn Sie der deutschen Gesellschaft in toto nach 1945 einen pragmatischen – besser: verlogenen Umgang mit ihrer Vergangenheit attestieren. Spuren davon finden sich auch noch in Weizsäckers Rede, wenn er zum Beispiel sagt, die Verbrechen seien von Wenigen begangen worden. (Christian Streits Buch „Keine Kameraden“ über den verbrecherischen Umgang der Wehrmacht mit den sowjetischen Kriegsgefangenen wurde schon 1976 publiziert.) Jurisprudenz, Diplomatie oder Geschichtswissenschaft waren noch lange nach 1945 durchsetzt von Leuten, die keine Rechenschaft über ihr Tun im „Dritten Reich“ ablegen wollten, konnten oder mussten. Ich denke, auch sie meinte Weizsäcker als er mahnte, „der Wahrheit ins Auge zu blicken“.

    Die Deutschen sind 1945 befreit worden. In dem Sinne, daß sie die – in vielen Fällen unverdiente- Chance auf einen Neuanfang geschenkt bekommen haben.

    Mit freundlichen Grüßen

    Stefan Trute

  14. avatar

    Hallo,

    der NSDAP gelang es am 14.9.30 erstmals einen bedeutenden Stimmenzuwachs (nämlich auf 18,3%) zu bekommen. Am 31.7.32 gelang dann der fast erdrutschartige Zuwachs auf 37,4%. Wenig beachtet wird, dass dieser Zuwachs am 6.11.32 bereits wieder etwas abschmolz – auf 33,1%. Bei den ersten (und letzten) Wahlen, die unter dem Faschismus am 5.3.33 stattfanden, erreichte die NSDAP 43,9% der Stimmen. Inwieweit diese Wahlen noch als frei zu bezeichnen waren, sei dahingestellt. Selbst, wenn man diesen ‚Höhepunkt‘ als Maßstab nimmt, wählten 56% der Deutschen Hitler NICHT – ein einfaches und nicht wegzudiskutierendes Faktum, das aber immer wenig beachtet wird. Nehmen wir das beste Ergebnis der freien Wahlen, so wählten sogar 62,6% der Deutschen Hitler NICHT.
    Dass diese Deutschen (wie beim ‚deutschen Michel‘ üblich) nach der Machtübernahme ihren Mund hielten und sich weitgehend anpassten, ist ein bekanntes Faktum der Geschichte – sie waren feige Mitläufer und nur eine Minderheit bestand aus aktiven Tätern. Dennoch kann anhand der Fakten niemand behaupten, DIE Deutschen hätten Hitler gewählt – es war zu keinem Zeitpunkt eine absolute Mehrheit vorhanden. Unter dem Eindruck des Bombenterrors dürften viele (auch wenn sie weiterhin den Mund hielten) innerlich gehofft haben, dass dieser Krieg (und das war gleichbedeutend mit dem der diesen Krieg begonnen hatte) endlich vorübergehen möge. Ich schätze, dass für viele ursprüngliche ‚Hitlerfans‘ der 8.Mai insofern ein Tag der Befreiung war, als der Krieg mit all seinen Folgen endlich aufhörte. Natürlich konnten viele das nach Außen nicht zugeben und der Verlust aller Illusionen wog schwer aber innerlich war es m.E. so.

  15. avatar

    Ein paar Einzelheiten zur „Verweigerung der Gemeinschaft mit den Vätern“, was in meinem Fall nur „Großväter“ bedeuten kann. Ich kann auch hier nur für mich selbst, also privatim, sprechen, was bereits damit begründet werden kann, dass ich ja wie gesagt sowieso jene mysteriöse Gemeinschaft verweigere. Im Fall meiner Großväter wäre das aber gar nicht nötig, weil ich sowieso keine Beziehung zu ihnen hatte, aus der irgendeine tiefergehende Gemeinschaft erwachsen könnte. Sie haben sich kurz gesagt nicht für mich und ich nicht für sie interessiert, und irgendwann, als ich noch klein war, sind sie gestorben.

    Nun möchte ich den Verdacht der Verlogenheit noch einmal bestärken und berichten, was mir berichtet wurde: dass beide Großväter sich ordentlich verhalten haben. Mir ist bewusst, dass dies die meisten Nachgeborenen für ihre Väter und Großväter in Anspruch nehmen, oft ganz unberechtigt. Ich stelle es trotzdem auch in Anspruch oder vielmehr: Ich sehe keinen Anlass, daran zu zweifeln, was mir berichtet wurde. Meine Großväter waren im ideologischen Sinne keine Nazis (ihre Parteizugehörigkeit kenne ich allerdings nicht). Sie waren auch keine Soldaten, kämpften also (um Ihr Fragezeichen zu beantworten) nicht in der Wehrmacht (dies tat ein Großonkel, der auch in Gefangenschaft geriet und später als Kriegsversehrter heimkehrte. Für diesen kann ich nicht sprechen). Der eine Großvater war invalide aufgrund eines Arbeitsunfalls (er war Setzer in einer Druckerei), der andere wurde offenbar wegen seiner 10 Kinder vom Einsatz ausgeschlossen, die er und meine Oma unbeschadet durch die Zeit gebracht haben und die allesamt noch leben. (Das empfinde ich übrigens als bewunderungswürdige Lebensleistung meiner Großeltern.) Als Inhaber eines Lebensmittelgeschäftes – für das er sich gleichfalls nicht interessierte – hatte er es einfacher als andere, unbeschadet durch die Zeit zu kommen. Für Politik interessierte er sich nicht; mir ist er als Mensch in Erinnrung, der sich jenseits des Familiären für Schach (er spielte vereinsmäßig und statt am Verkaufstresen zu stehen saß er lieber im Hinterzimmer vor einem Schachbrett), Fußball und Eishockey interessierte.
    Wegen der vielen Kinder war er offenbar vom Kriegsdienst befreit worden, und mir wurde erzählt, dass der großen Familie von den Nazis ein aus Russland deportiertes Mädchen überstellt wurde, als eine Art Arbeitssklavin. Dieses Mädchen wurde von meinen Großeltern gleichberechtigt in die Familie aufgenommen und so versorgt und behandelt wie die 10 Kinder. Mein Großvater wurde eiens Tages deswegen vom ortsansässigen SS-Mann zur Rede gestellt: dem passte es nicht, dass ein solches Mädchen gemeinsam am Küchentisch mit Deutschen saß. Dies hat sich mein Großvater verbeten und dem SS-Mann – so wurde mir erzählt – die Tür vor der Nase zugemacht. Im Alltag habe er mit „Guten Tag“, nicht mit „Heil Hitler“, gegrüßt. (Ich weiß nicht, ob das durchgängig stimmt; ich kann mir gut vorstellen, dass er im Zweifelsfall auch „Heil Hitler“ gesagt hätte, wenn es ernsthafte Probleme gegeben hätte.)

    Es waren „kleine Leute“ und dies alles keine Heldentaten. Mir gefällt es trotzdem. Das russische Mädchen hat Jahrzehnte nach ihrer Rückkehr nach Russland die neue Adresse meines Großvaters recherchiert (was einen gewissen Aufwand dargestellt haben muss) und ihm einen Brief geschrieben, in dem sie sich für den Schutz und die Menschlichkeit bedankt.

    Soweit wurde es mir berichtet, und ich sehe keinen Anlass, daran zu zweifeln. (Den Dankesbrief habe ich jedoch nicht gelesen und ich habe auch sonst keine Beweise. Ich werde mal interessehalber bei Gelegenheit versuchen, ihn zu beschaffen.) Meine Großeltern waren keinen Helden im Befreiungskampf, aber eben auch keine üblen Nazis. Sie sind definitiv mit dem Kriegsende befreit worden; diesmal nicht in einem so nebulösen Sinn wie ich, sondern direkt.

    P.S. Diese Geschichte sollte auch ein Gegenbeispiel zu den vielen üblen SS-Großvätern geben, die es natürlich gab und deren Geschichten immer häufiger – und auch zurecht – erzählt und bis ins Kleinste dekliniert und analysiert werden. (Der andere Großvater aus Schlesien war nach Stand der Dinge ebenfalls kein Nazi, aber ich will hier nicht weiter meine Privatgeschichten ausbreiten.)

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    Ich bleibe dabei, Alan Posener, ein Präsident spricht nicht als Repräsentant eines empirischen Volkes, meinetwegen einer Nation, sondern eines fiktiven Staatsvolkes. Und im Fall der Bundesrepublik war die Identifikation mit den Opfern eine notwendige Gründungsfiktion, Hans Blumenberg würde sagen: ein Staatsmythos. Verlogen wäre das doch nur, wenn dieser Staat nicht zugleich die Rechtsnachfolge seines verbrecherischen Vorgängers übernommen hätte. Aber psychologisch ist die »Verweigerung der Gemeinschaft mit den Vätern« ein interessanter Punkt, weil er an den Grund der Verdrängung rührt. Genau das hatten ja die Mitscherlichs gemeint, als sie die »Unfähigkeit zu trauern« NICHT – wie fast ausnahmslos überall behauptet wird – auf die ermordeten Opfer, sondern auf den traumatischen Verlust des geliebten Führers bezogen. Zugespitzt gesagt war es Weigerung der Deutschen, sich weiterhin mit dem Täter zu identifizieren, die ihnen den Blick auf sich selbst als enttäuschte Liebende und als Komplizen des Geliebten – und erst damit auch auf ihre Opfer – verstellte. Ein sehr subtiles Argument, aber plausibel. Wenn ich Sie richtig verstehe, behaupten Sie nun, dasselbe gelte abgeschwächt auch für Nachfahren der Täter. Und wenn Sie es so meinten, hätten Sie recht, denn die Krokodilstränen, die etwa Rainer Höss in den Armen israelischer Jugendlicher in Auschwitz vergossen hat, sind an Verlogenheit nicht zu überbieten. ABER: Auch wir sind nicht nur Enkel realer Vorfahren, sondern auch Bürger eines fiktiven Staates. Wir SIND (fiktive) Sieger und (real) Besiegte zugleich, andernfalls wären wir Geiseln der Geschichte. Dialektik, lieber Herr Posener, Dialektik.

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    Nach dem Lesen vieler Kommentare verstärkt sich mein Verdacht, dass die Sprache eher dazu taugt, sich nicht zu verstehen, einander vorbeizureden. Schade! Es gibt viele kluge Gedanken, sowohl auf der Pro- als auch auf der Kontraseite.
    Die Verführbarkeit des Meschen, vor allem des intelligenten Menschen, zu einfachen Ideologien, die über Leichen gehen, (Kommunismus, Nationalsozialismus, Islam …. ) führt auch nach Auschwitz zu den entsetzlichsten Verbrechen. Befreiung vom sogenannten Guten! Es lebe der Zweifel!

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    …und zum Opferthema: Ist es so, dass nur Opfer befreit werden können, wie Sie sagen?

    Eine andere Rechfertigungsmöglichkeit als über Sprachlogik für fällt mir zu dieser These nicht ein. Ich befinde mich ja als Nachgeborener wie gesagt in der Rolle eines Profiteurs, dem man normalerweise nicht attestieren würde, Opfer zu sein.

    Wie sieht es also sprachlogisch bei anderen Formen der Befreiung aus? Befreiung eines Täters aus der Haft. Ist der Täter hier Opfer? Wohl kaum. Befreiung von einer Pflicht. Ist der Befreite ein Opfer?

    Befreiung setzt auch sprachlogisch keineswegs eine Opferrolle voraus.

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    Jede solcher Erinnerungsreden muss etwas Persönliches im Zuhörer ansprechen, nur dann verkommt sie nicht zur Farce. Und ich habe nicht das Gefühl, durch das Kriegsende eine Niederlage erlitten zu haben. Ist das schade? Es ist zunächst mal so. Ich habe aber auch nicht das Gefühl, ein Sieger geworden zu sein. Wie auch – dazu hätte ich „kämpfen und bluten“ müssen, was ich wahrscheinlich vermieden hätte.

    Nun sagen Sie, diese Haltung wäre verlogen. Ich kann mir nur denken, dass ich Ihrer Ansicht nach eben doch eine Niederlage eingesteckt habe, die mir bislang entgangen ist bzw. die ich in meiner Verdrängungskunst nicht wahrhaben will. Was dann bei etwas ungnädiger Betrachtung auf eine Verlogenheit hinausliefe. So wie der Irre mit der Pappkrone sich als König wähnt, so wähne ich mich als nicht siegreich und unbesiegt.

    Naja. Ich bleibe bei meiner Haltung und nehme den Verdacht auf Verlogenheit hin.

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    Herr Posener: zum Opfer oder zum Sieger werde ich doch nicht, weil ich das damalige Kriegsende als eine Befreiung von einem möglichen üblen Schicksal ansehe. Ein Profiteur ja, aber ein Opfer? Wer tut mir denn Böses? Und ein Sieger? Wen besiege ich denn?

    Aber bei der Verweigerung mit einer solchen Gemeinschaft haben Sie recht: Ja, die verweigere ich. Soweit ich mir das aussuchen kann. Was ist daran verlogen? Was nicht heißen soll, dass ich die Verantwortung, die mir als Staatsbürger erwächst, nicht wahrnehmen will. Das muss jeder Staatsbürger.

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    Prima Text Herr Posener! Ich erinnere mich, wie wir ab den 60ern krampfhaft nach „moralischen Instanzen“ gesucht haben, die 33-45 kein Wässerchen getrübt hätten. Wir fanden sie in den von Ihnen genannten Personen. In dem wir diese Personen, die sich Ihren eigenen Realitätsverlust sicher schwer erarbeiten mussten, idealisierten, versuchten wir uns selbst von dem zu befreien, was unsere Eltern und Großeltern angerichtet hatten. Von all diesem Unsinn ist nicht viel Vernünftiges ausgegangen. Viele dieser „moralischen Instanzen“ verstehen nicht, dass sie unerträglich sind, wenn sie sich auch noch als solche zelebrieren.

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    In diesem Sinne sagte ja Johannes Rau zurecht – der nichts lieber wollte als Präsident werden (und dem böse Zungen den Beinamen „Johannes der Täuscher“ gaben): „Versöhnen statt spalten“. Ein typisch präsidialer Satz, ein moralischer Satz. Ein Publizist würde das Gegenteil fordern.

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    Präsidentensätze sind keine Aussagesätze mit Wahrheitsanspruch (wie Per Leo ausführte), sondern sie sind in erster Linie moralische Sätze, die man, wie man hier sieht, teilen kann oder auch nicht. Oft versuchen sie, im Gegensatz zu Publizistensätzen, eine so weite Klammer zu bilden, dass sich sehr viele Angesprochene mit der Bewertung angesprochen fühlen können. Publizistensätze sind ebenfalls Einordnungen und Bewertungen, versuchen aber im Gegenteil, wie man ebenfalls hier sieht, zu polarisieren. D.h. sie wollen geradezu Widerspruch erzeugen und eine Grenze ziehen, die die eigene Position von der des anderen trennt.

    Sätze haben gedanklich immer einen absoluten Anspruch, ob es den Wahrheitsrelativisten gefällt oder nicht. Aussagesätze erheben einen absoluten Wahrheitsanspruch (der gerne geäußerte Satz „Es gibt keine Wahrheit“ stellt einen Selbstwiderspruch dar) und moralische Sätze erheben eben einen absoluten Geltungsanspruch. Wenn ich meiner Tochter „Man darf nicht hauen!“, dann meine ich nicht, dass nur sie nur in dieser Situation nicht hauen soll, sondern dass niemand hauen soll, zu keiner Zeit und in keiner Situation (abzüglich Ausnahmen).

    Und genau so bewertet R.v.W. das Kriegsende nun als Befreiung von Deutschland, was eben nur bedeuten kann: „für alle“. In erster Linie ist das ein positives absolutes Werturteil: dass Deutschland damals den Krieg verloren hat, war GUT. Diese Aussage steckt überall in seiner Rede, und er sagt, dass trotz des vielen anschließenden Leids das Kriegsende trotzdem gut war und eben nicht die Ursache dieses anschließenden Leids. Gut im moralischen, d.h. absoluten Sinn. Eine Befreiung ist gut; das Gute steckt im Begriff Befreiung mit drin. Eine Niederlage ist nie gut, es sei denn, dass sie eine Befreiung/Chance/vebrorgene Erfolgsperspektive enthält. Wenn man nur sagt: „Dies war ein Tag der Niederlage“, dann befindet man sich schnell auf der Seite von Revanchisten und Nationalisten, die genau dies meinen: eine Niederlage, die man am besten durch einen nachträglichen Sieg kompensieren müsste.

    Deswegen ergänzen pädagogische Leute die Niederlage der Deutschen immer mit weiteren Hinweisen (vgl. Poseners längerer Alternativvorschlag oben). Zurecht, weil in jeder Niederlage ein negatives Werturteil steckt. Man sollte aber nicht den Leuten sagen, dass es schlecht war, dass Deutschland den Krieg verloren hat; sonst wollen einige wieder damit anfangen. Sondern dass es gut war. (Gut und schlecht im üblichen, d.h. absoluten Sinn.) Und hier bietet sich der positive Begriff der Befreiung an, die übrigens jede Niederlage – und sei sie noch so schwerwiegend – in irgendeinem Sinn bedeuten kann.

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      Lieber Roland Ziegler: DIESEM Satz – „dass Deutschland den Krieg verloren hat, war GUT“ – stimme ich natürlich vorbehaltlos zu; DIESEN klaren Satz aber finden Sie in der ganzen Rede nicht. Stattdessen das verquaste Wort von der Befreiung auch aller Deutschen.

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    Lieber Alan Posener,

    „Konkret war man erstens selten willens, das Schweigen der Väter und Mütter zu hinterfragen“

    http://keinverlag.de/texte.php?text=301749

    Kann ich für mich so nicht bestätigen. Als unser Dozent für die Vorlesungsfreie Zeit die Fleißaufgabe erteilte, ein Portrait zu schreiben, wollte ich das unbedingt machen. Lange dachte ich nach, über wen ich schreiben sollte.

    Es gab in meiner Familie einen dunklen Punkt. Meinen Großvater väterlicherseits. Über ihn sprach mein Vater praktisch nie. Wenn Sie das verlinkte Portrait lesen, verstehen Sie sicher, weshalb.

    Dieser Großvater war ein unberechenbarer teilw. extrem gewalttätiger Soziopath, dessen Stimmungsschwankungen von einer auf die anderen Sekunde stattfinden konnten.

    Von Weizsäcker endete mit den Worten: „Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.“ Das klingt menschlich. Vielleicht war es doch eine gute Rede?

    Herzlich
    Dieter Wal(lentin)

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    Es ist doch gerade Aufgabe eines Präsidenten, nicht für die Damaligen zu sprechen und deren Befindlichkeit zu analysieren, sondern für alle und ganz besonders für die Heutigen und die Zukünftigen. Ich möchte keinen Präsidenten, der stundenlang über seine eigene Rolle, die seines Vaters und dessen Generation räsonniert. Der Präsident hat die Heutigen und die Zukünftigen angesprochen. In diesem Sinne sagte er, dass die Niederlage, die das Kriegsende bedeutete, „für uns alle“ ein Tag der Befreiung war. Und er hat Recht.

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    Ich kann nur noch einmal sagen, dass der Präsident mich nicht angesprochen hätte, wenn er das gesagt hätte, was Herr Posener gerade vorschlägt: “ “Der 8. Mai war der Tag der Niederlage“ – für uns alle, wie man ergänzen muss, wenn man diesen Satz gegen den kritisierten austauschen will. (Ansonsten trifft man nur eine uninteressante historische Feststellung.)

    Aber gerade diesem Satz würde ich widersprechen: Für mich gilt das nicht. Ich fühle mich nicht besiegt. Ich habe an diesem Tag keine Niederlage erlitten. Für mich eröffnete dieser Tag stattdessen die Möglichkeit von Freiheit, die ich heute genieße. Es war ein Tag der Befreiung. Wie der Präsident sagte.

    Wenn das für andere noch anders ist, dann mag das so sein. Aber ich glaube, es ist für viele genau so wie für mich. Deshalb ist „für uns alle“ vielleicht etwas zu optimistisch, aber nicht falsch. Vielleicht hätte er sagen sollen, dass dieser Tag nicht ein Tag der Befreiung ist, aber als ein solcher gesehen werden sollte. Als eine präsidiale Empfehlung, sozusagen, an unsere heutigen Perspektive. Und eben nicht (mehr) als Tag der Niederlage.

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      Schön, Roland Ziegler, wenn Sie sich gleichzeitig nicht zu den Besiegten zählen, sondern zu den Siegern der Geschichte, und außerdem noch zu den Opfern, da sie ja „befreit“ wurden. Und GENAU DA liegt die Verlogenheit. Die Verweigerung der Gemeinschaft mit den Vätern, die gekämpft und verloren hatten. Die Assoziation mit den Siegern, die gekämpft und geblutet haben. Ich bin moralisch kein Deut besser als Sie, weil mein Vater in der britischen Armee und Ihr Großvater (?) in der Wehrmacht gekämpft hat. Aber es gibt einen Unterschied im Gedächtnis der Völker und Nationen, und den gilt es festzuhalten. Sonst verkommt die Mahnung zur Erinnerung zur Farce.

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    Wenn man Ihren alternativen Redenentwurf liest, lieber Alan Posener, könnte man fast bedauern, dass Sie damals nicht Bundespräsident waren. Ich meine das nicht halb so spöttisch, wie es klingt. Das sind gute, angemessene Sätze von präsidialem Format. Aber sie sind auch 30 Jahre nach dem hier diskutierten Zeitpunkt formuliert worden. Es ist ja in den letzten Wochen immer wieder behauptet worden, Weizsäckers Rede sei, wo nicht falsch, so doch banal gewesen. 1985 war sie es nicht. Man muss sich einfach immer wieder klar machen, was damals selbstverständlich war und was nicht. Und da es hier nicht um Nuancen, sondern um die historische Würdigung geht, würde ich sagen: Ja, heute sind wir klüger, heute können wir es differenzierter sehen – im übrigen hat auch die historische Forschung zum NS in weiten Teilen erst in den 1980er Jahren begonnen –, aber damals war das geschichtspolitisch ein großer Schritt nach vorne. Damit das keine billige Behauptung bleibt, müsste man sich aber v.a. die Wirkungsgeschichte der Rede ansehen. Hat sie, das würde ich vermuten, eher zu genauerer Forschung und präziserem Reden über den Nationalsozialismus ermutigt oder zu weiterem Verdrängen und Beschwichtigen? Also, Kompromissvorschlag: Ihr Redentext ist besser als der von Weizsäckers, aber damals war es der beste, den wir hatten.

  28. avatar

    Zwar kann ich mir ein „Befreitsein“ am 8. Mai vorstellen, dennoch greift die Kritik an Weizsäckers Aussage. Denn die Rede hat auch performativen Charakter gehabt, nicht nur rein meditatorischen oder gar informativen. Insofern muss ich AP Recht geben, die Rede ist zu Unrecht in diesem Satz gelobt worden.

    Diese Unterscheidung zwischen Motivation einer Aussage und der rein inhaltlichen Betrachtung, die ist doch relevant. Insofern sind die Rechtfertigungen, dass es DOCH Befreiungen gab (für einzelne selbst verfolgte Deutsche, für viele Kriegsmüde, für einige sich noch deutsch fühlende echte Opfer usw) zu kurz greifend.

  29. avatar

    Nachtrag an dbh: Ja, Ultramontanismus wäre sicher auch eine Lösung – anstatt Ungehorsam. Hat nur damals nix genützt.

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    @R.Z. u.a.
    Vergewaltigung von deutschen Frauen und Kindern, gezieltes Verbrennen ganzer Städte sowie das Schicksal der Sudetendeutschen der sind keine ‚Befreiung‘ und Auschwitz wäre nicht möglich gewesen, wenn die ‚Befreiten‘ vor ihrer ‚Befreiung‘ nicht kräftig dabei mitgeholfen hätten oder weggesehen hätten.
    Auch hier gilt: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst bzw. anders herum: Wer sich selbst nicht liebt, kann auch andere nicht lieben. Aufgesetzte „Gedenkkultur“ (um die uns die Welt angeblich beneidet) nützt niemandem – sich persönlich zu fragen „wie hätte ich selber damals gehandelt und warum so und nicht so usw.“ allerdings schon. Meine ich.
    Und genauso wenig, wie ich möchte, daß dieser Zivilisationsbruch vergessen wird, möchte ich, daß er „Bestandteil deutscher Identität“ wird, wie unser Bundespräsident das offensichtlich will. Ich wünsche mir eher, daß so etwas nicht mehr geschieht, z.B. aufgrund von Ungehorsam.

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    Kann man so sehen, lieber Alan Posener, aber es gibt gute Gründe, es anders zu sehen. Nicht nur ist es immer problematisch, eine Aussage von ihrem Kontext zu isolieren, vor allem ist Text nicht gleich Text. Ein Liebesgeständnis, ein wissenschaftlicher Aufsatz, eine Fatwah, ein Blogeintrag, ein theologischer Kommentar, ein Gerichtsurteil – alles sprachlich verfasste Äußerungen, aber jede funktioniert anders, jede ist Teil eines eigenen Sprachspiels. Was ist eine Präsidentenrede? In welchem Sprachspiel konstituiert sich ihr Sinn? Fangen wir damit an, was sie nicht ist. Sie weder eine wissenschaftliche Abhandlung, noch ist sie die Äußerung einer Privatperson.

    Auch wenn es komisch klingt, heißt das, dass Präsidentensätze, erstens, nur bedingt wahrheitsfähig sind. Ok, sie sollten keinen offensichtlichen Unfug behaupten, auch ein Bundespräsident macht die Erde nicht zur Scheibe. Aber davon abgesehen geht es nicht in erster Linie um Wahrheit. Das hat zunächst mit seiner Autonomie zu tun, seinem Rang als Verfassungsorgan. Wahrheit ist die Domäne der Wissenschaft, deren überlegener Autorität sich der Präsident als Urheber wahrheitsfähiger Sätze beugen müsste, was seiner Rede aber die Autonomie nähme. Nehmen wir einen so berühmten Satz wie »Der Islam gehört zu Deutschland«. Müsste man sich festlegen, ob dieser Satz wahr oder falsch ist, würde man schnell merken, dass das gar nicht zu entscheiden ist, weil er, gelinde gesagt, ziemlich schwammig ist. Als These einer Doktorarbeit müsste man ihn wegen seiner Unfalsifizierbarkeit zurückweisen. Trotzdem ist es ein geradezu idealer Präsidentensatz, denn die Auslegungsbedürftigkeit gehört zum präsidialen Text dazu. Gleichwohl kann man über eine Präsidentenrede natürlich unterschiedlicher Meinung sein. Aber das Beurteilungskriterium ist schwächer, es geht nicht darum, ob das Gesagte richtig oder falsch, sondern eher ob es angemessen ist oder nicht. Nehmen wir nun den Satz, um den es hier geht: Der 8. Mai 1945 sei für Deutschland ein Tag der Befreiung gewesen. Man kann es drehen und wenden, wie man will, auch er bleibt vage und damit auslegungsbedürftig. Der Satz, am 8. Mai 1945 sei Deutschland besiegt worden, den Sie als angemessener vorschlagen, muss dagegen nicht ausgelegt werden. Er spricht ein unbestreitbares Faktum aus, weswegen er aus dem Munde des Präsidenten unangemessen banal gewesen wäre. Die deutsche Niederlage war ja völlig unstrittig. Höchst umstritten waren dagegen 1985 immer noch die Folgen dieser Niederlage. Die Rede hat darum auch einen klaren, wenn auch unausgesprochenen Adressaten: das rechtskonservative Lager. Dort gab es revanchistisches Ressentiment, und es gab, mehr oder weniger ausgesprochen, Restitutionsansprüche. Und vor allem gab es den Wunsch, nicht mehr an die »deutsche Schmach« – sprich: die unstrittige Niederlage – erinnert zu werden. All dem nimmt der Befreiungssatz den Wind aus den Segeln, indem er das negative Vorzeichen des gemeinten Ereignisses in ein positives verwandelt. »Konservative, hört auf, über etwas Gutes zu jammern! Dass ihr heute jammern dürft, das verdankt ihr eurer Befreiung.« Das wäre eine mögliche, in meinem Augen plausible Auslegung des Satzes.

    Eine Präsidentenrede ist aber, zweitens, auch keine Mitteilung einer einzelnen Person. Sie bringt weder eine Meinung noch eine biographische Situation zum Ausdruck. Der Präsident äußert sich weder als Experte noch als Individuum, sondern als Repräsentant. Wenn er »wir« oder »alle Deutschen« sagt, dann spricht eben nicht Vorname+Nachname zu anderen Vornamen+Nachnamen, nicht männlich oder weiblich, nicht Adliger oder Arbeiter, nicht Fachmann oder Laie, nicht Kriegsteilnehmer oder Nachgeborener, sondern es spricht durch die reale Person das Amt und durch dieses ein Kollektivsubjekt. Präsidiale Sätze können überhaupt erst beurteilt – und damit auch kritisiert – werden, wenn man den Amtsträger nicht mit der Privatperson verrechnet. Die immer wieder bemühte Verstrickung in den Fall seines Vaters ist schlicht und einfach irrelevant für RvW als Präsident. Für den, sagen wir, Autor von Memoiren wäre es das nicht, da könnte und müsste man die Frage stellen, ob er das Verhalten seine Vaters richtig eingeschätzt hat. Das mag haarspalterisch klingen, es ist aber, seitdem im spätmittelalterlichen England die Lehrer von »The King’s Two Bodies« entwickelt wurde, die Grundlage moderner Staatlichkeit. Wie ist nun der Freiheitssatz im Hinblick auf seinen repräsentativen Charakter auszulegen? Man muss ihn zunächst übersetzen: Nicht das empirisch-historische, sondern das deutsche Staatsvolk ist am 8. Mai vom Nationalsozialismus befreit worden. Nicht jeder Deutsche, sondern alle Deutschen. We the people of Germany. Zu wem spricht also der Repräsentant des politischen Gemeinwesens? Zu sich selbst.

    Erst mit dieser Unterscheidung erhält im Übrigen auch die tatsächlich wichtige Unterscheidung zwischen dem 27. Januar und dem 8. Mai 1945 ihren Sinn. In Auschwitz wurden reale Opfer von ihren realen Peinigern befreit. Trotz aller Symbolik ist das zuallererst ein konkretes historisches Ereignis, das Täter und Opfer glasklar trennt: die einen werden gerettet, die anderen müssen sich für ihr Tun verantworten. Beim 8. Mai ist es umgekehrt. Natürlich ist die deutsche Kapitulation ein gewichtiges Ereignis; aber historisch ist es vieldeutig, weil nicht jeder das gleiche empfand und sich in der einzelnen Person die Gefühle durchaus mischten: Erleichterung mit Erniedrigung, Angst mit Hoffnung. Bedeutung bekommt dieses Datum daher, anders als die Auschwitzbefreiung, nicht durch seine Faktizität, sondern durch die vereindeutigende Interpretation: Erst als Symbol ist es überhaupt zu greifen. Ist das gesagt, kann man auch im Verhältnis von Tätern und Opfern die faktische von der symbolischen Dimension unterscheiden.

    Historiographisch und moralisch ist die Identifikation der Tätergesellschaft mit den Opfern falsch, um nicht zu sagen: ekelhaft. Ich habe mich am Wochenende in der FAZ ausführlich dazu geäußert. Geschichtspolitisch und verfassungsrechtlich ist sie dagegen geboten. Zu welchem Zweck wollte man denn einen neuen, post-totalitären Staat gründen, wenn nicht um der Verhinderung zukünftiger Opfer willen? Der Historiker und der Moralist hat es mit empirisch nachweisbarem individuellem Verhalten zu tun, und da gibt es keine zwei Meinungen: die einen haben gemordet oder das Morden geduldet, die anderen wurden ermordet. »Deutschland« und »die Deutschen« aber gibt es empirisch gar nicht. Wie alle Kollektivsingulare sind das Fiktionen – notwendige Fiktionen, ohne die kein Staat existieren könnte. Und die staatsgründende Fiktion der Bundesrepublik lautet nun mal, dass dieses Gemeinwesen gegen das »Dritte Reich« gegründet wurde und daher in einem rein technischen, um nicht zu sagen: logischen Sinn vom Nationalsozialismus »befreit« worden sein musste.

    tl;dr: Präsidiale Sätze sind weder wahrheitsfähig, noch äußert sich in ihr eine reale Person. Sie sind auslegungsbedürftig und repräsentativ. Der gemeinte Satz Weizsäckers lässt sich so auslegen: Am dem 8. Mai 1945 wurde das deutsche Staatsvolk als verfassungebendes Subjekt restituiert. Nicht jeder Deutsche wurde befreit, sondern alle: We the people of Germany.

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      Lieber Per Leo, das sind gewichtige Arguemnte, gut vorgetragen, und ich danke dafür. Dennoch. Der Präsident hätte sagen können: „Der 8. Mai war der Tag der Niederlage. Für ein diktatorisches Regime und für alle, die dieses Regime unterstützten und sich mit ihm arrangiert haben. Nur wenige konnte damals erkennen, dass er im Westen den Deutschen die Möglichkeit der Befreiung bot. Diese Befreiung schloss die Reeducation mit ein, die Entnazifizierung und so manche andere Maßnahmen, die notwendig waren, damit sich dieses Volk aus der Unmündigkeit entlassen werden konnte – und das nur im Westteil. Im Ostteil ging eine Diktatur relativ bruchlos in eine andere über. Wir, die wir die Gnade des westlichen Wohnsitzes genießen, haben darum die Aufgabe, die uns aufgezwungene, dann angenommene, schließlich zur Gewohnheit gewordene Freiheit zu verteidigen. Im Osten harrt die Befreiung immer noch ihrer Verwirklichung.“ Das hätte alle Ihre Bedingungen erfüllt und wäre außerdem ehrlich und aufrichtig gewesen. Und unpopulär – bei Rechtskonservativen und Linksliberalen.

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    …ja, Parisien, Sie haben den gleichen Gedanken geäußert, wie ich erst jetzt gelesen habe: „Wir“ Heutigen sind in erster Linie angesprochen; wir wurden von diesem Regime befreit. Wir alle, überall und besonders logischerweise hier in Deutschland.

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    …“fast keiner“ ist etwas übertrieben, aber Sie sehen hoffentlich den Punkt. Wen will Weizsäcker ansprechen? Nur die kriegführende Nazigeneration?

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    @Alan Posener: Selbst wenn man die Rede nur auf „alle Deutschen“, und nicht auf „alle“ bezieht: Ich finde, dass der Sieg über die Nazis in gewisser Weise eine Befreiung für mich darstellt. (Ich bin Deutscher.) Andernfalls müsste ich womöglich in einem unfreien Nazistaat leben. Oder grenzen Sie das „wir alle“ nur auf diejenigen Deutschen, die zu Kriegsende gelebt haben, ein? Dann sind fast alle, die mit „wir“ gemeint sind, tot. Dann bedeutet „wir alle“ = „fast keiner“! Das können Sie kaum ernsthaft meinen.

    Ich halte mich lieber an die einfachste Möglichkeit, d.h. die wörtliche Bedeutung von „wir alle“: wir alle. Ganz einfach. Alle Menschen, ganz allgemein. Die Amerikaner, die Polen, die Grönländer und auch die Deutschen, an die die Rede konkret gerichtet war. Und dem stimme ich zu.

    Und meinen Sie wirklich, Herr v. W. hätte auf Nachfrage präzisiert: „Nein, die Polen fallen natürlich nicht unter dieses ‚wir alle‘; ich habe nur uns Deutsche gemeint“?

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    Lieber Alan Posener, irgendwann muss ich Ihnen das mit den Antideutschen mal in aller Ruhe erklären. Aber es ist zum Glück ein Nebenschauplatz…

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    R.Z. ./. Weizsäcker: ‚Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.‘

    … Weizsäcker ‚kritisiert‘, wofür er und seine Sippe direkte Verantwortung trägt. Zu Weizäcker kann ich nur schreiben: De mortuis nil nisi bene.

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    Lieber Roland Ziegler!
    Ich glaube nicht, dass Posener das meint, wenn er schreibt:
    „Die Deutschen – und die Österreicher – wurden besiegt und besetzt, nicht befreit. Es folgten Demontagen und Demütigungen, Vergewaltigungen und Vertreibungen. Im Osten blieben die Deutschen besetzt und unfrei bis zum Tag der Befreiung am 9. November 1989. Im Westen durften sie sich nach und nach selbst vom Nationalsozialismus befreien. Aber der Prozess dauerte lange und ist noch nicht abgeschlossen.“

    Wenn er das meinte, würde er Vergewaltigungen und Vertreibungen auslassen.

    „Befreit“ wurden außer den in den KZ’s inhaftierten wenigen Überlebenden wir Kinder und später Enkel indirekt, denn wir bekamen nach Gründung der BRD und Entnazifizierung geläuterte Lehrer, neue Lehrer, neue Gedanken, Kontakt schon zu Adenauers und de Gaulles Zeiten zu den Siegermächten; wir wuchsen besser auf als unsere Eltern.
    Daher will ich Weizsäcker verteidigen. Vielleicht meinte er das, das Gesamtprodukt, das entstand. Diese gedemütigten Naziwähler zählten irgendwann nicht mehr und starben auch langsam weg.
    Doch, in einem übergreifenderen Verständnis, das mehrere Generationen umfasst, war es eine grandiose Befreiung, nicht nur von Krieg und NS-Zeit, sondern auch von dem Mief davor. Wenn man das unterschlägt, setzt man die Generosität und grandiose Leistung der Alliierten in der Nachkriegszeit herab. Man vergisst auch, dass wir den Briten zu verdanken haben, dass wir den Morgenthau-Plan nicht bekamen, auch dem amerikanischen Kongress, soweit ich weiß, muss mal wieder nachlesen.
    Doch, es war langfristig eine Befreiung. Und Weizsäcker empfand das so.

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    Übrigens hat Herr v. Weizsäcker – neben der Auflistung der vielfältigen Not, aus der befreit wurde, und anderer Aspekte der Befreiung – die Befreiung folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

    „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“

    Mir fällt schwer zu verstehen, was daran falsch sein könnte. Das stimmt einfach. „Uns alle“ meint nicht nur uns Deutsche, sondern eben: uns alle.

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      Ach, Roland Ziegler. Wer sind „wir alle“? Die Amerikaner? Die Engländer? Die Inder? Die Japaner? Nein, im Kontext der Rede sind explizit alle Deutschen gement. Und das ist sachlich falsch und ideologischer Unsinn.

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      Lieber Ivo Bozic, ob Sie etwas gegen die Antideutschen hören wollen oder nicht, ist für mich wenig maßgeblich, so sehr ich Sie persönlich schätze. Man muss kein Angehöriger und Apologet dieser neomarxistischen Sekte sein, um die Rede von Weizsäckers zu kritisieren. Meine Argumente haben mit jenen der Antideutschen nichts gemein; insbesondere verweise ich auf meine Ausführungen zur Rolle der Sowjetunion in Osteuropa und Ostdeutschland. Die Rote Armee wird von den Mitgliedern Ihres Clubs nach wie vor glorifiziert. Wie „Bomber Harris“ auch. Von mir aber nicht.

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    Leider wahr. Leider. Denn ich habe diesen Tag immer als Befreiung gesehen, als Befreiung von Hitler und den Nazis. Muss ich also noch mal drüber nachdenken, wie ich den Tag für mich künftig einstufen werden.

    Ansonsten volle Zustimmung.Allerdings auch wieder mit einem leider. Es ist erschreckend, dass auch heute noch die Rolle der Eltern und Großeltern bis 45 verharmlost und beschönigt wird, dass unter den Teppich gekehrt wird und niemand jemanden in der Familie hatte, der nicht selbst Opfer der Nazis war….und alles auf die anderen Zeiten geschoben wird und ganz übel, dass selbst Juden ja nicht gewusst hätten, was Hitler da in den KZ machte…

    Und da kaum noch jemand aus der Generation lebt, die Kindergeneration auch ihre Haltung nicht mehr ändern wird, muss man konstatieren, die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen, die viel gerühmte , ist eigentlich nur ein, die anderen waren die Nazis, wir waren selbst nur Opfer Hitlers, und es gab ja so viele auch gute Deutsche und die anderen wie die Polen etc. war auch nicht besser.

    Tja.

    1. avatar

      Ja, liebe Stefanie, „Vergesst Auschwitz!“ ist die Losung der Jahre nach 45. Vergesst Auschwitz! Kämpft gegen die heutige totalitäre Gefahr, die Kommunisten ! Vergesst Auschwitz! Kämpft gegen den US-Imperialismus und den neuen Faschismus in der BRD. Vergesst Auschwitz! Kämpft gegen das Waldsterben, die Atomkraft, den Klimawandel, den Hunger in der Welt! Vergesst Auschwitz! Kämüpft gegen den Holocaust an den Ungeborenen! Vergesst Auschwitz! Kämpft gegen die Islamisten, den Iran und alle Feinde Israels. Aber egal, gegen wen ihr kämpft: vergesst Auschwitz!

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    Wahrscheinlich ist das Verhältnis von Schuld und Not dafür entscheidend, ob man etwas befreit oder besiegt. Nach dem Motto: „Wer an seiner Not selber schuld ist, der hat keine Not, aus der er befreit werden könnte.“ Was natürlich völlig falsch ist. Eher stimmt: „Wer schuldig ist, den befreien wir nicht, sondern den besiegen wir allenfalls.“ Jedenfalls drosseln wir unsere Empathie, wenn wir feststellen, dass jemand an seiner Not selber schuld ist. Wir sagen: „Selber schuld!“ und helfen wenn überhaupt, eher widerwillig, und diese Hilfe hat dann den Charakter eines Sieges bzw. einer Niederlage.

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    Sie wollen doch nicht sagen, dass es in Nazideutschland und außerhalb, im Exil, keine unterdrückten Deutschen gegeben hätte, die durch das Kriegsende befreit worden wären? Diese wären jedenfalls befreit worden. Natürlich könnte man nun sagen, dass diese nicht die Deutschen repräsentieren könnten. Angesichts von Leuten wie z.B. Thomas Mann halte ich das aber nicht für ausgemacht.

    Außerdem ist es falsch, dass man nur von Unterdrückern befreit werden könnte. Sondern man kann auch z.B. vom Krieg befreit werden.

    Meine Familie stammt aus einer Gegend, die überreichlichem Bombenhagel ausgesetzt war. Man verbrachte die Nächte in kalten Kellern unter Todesangst, und ich denke, dass es zutrifft, was meine Mutter mir erzählt hat: dass das Kriegsende eine Befeiung aus dieser Not darstellte.

    Das Kriegsende kann gleichzeitig eine Befreiung und eine Niederlage darstellen. Man kann auch aus der einen Unterdrückung in die andere schliddern (das macht man sogar alltäglich) und trotzdem ist der Übergang eine Befreiung.

    Es gab aber auch viele Leute, für die das Kriegsende ausschließlich eine Niederlage und gar keine Befreiung bedeutete. Wenn Sie also Herrn von Weizsäcker wegen einseitiger Pauschalisierung kritisieren, wäre das in Ordnung, wenn Sie dieser einseitigen Pauschalisierung nicht Ihrerseits eine andere einseitige Pauschalisierung entgegenstellen würden.

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    Von einer „Befreiung Deutschlands“ könnte nur dann mit Recht die Rede sein, wenn Konzentrationslager und ähnliche Einrichtungen (gezielt) befreit worden wären. Das war aber nicht annähernd der Fall.

    Insofern die KZs den Kriegsgegnern Deutschlands so gleichgültig waren wie den Deutschen selbst, kann dann allerdings doch von einer „Befreiung“ die Rede sein, von einer wechselseitigen und nachträglich sehr wirksamen: „Wir? – Die Nazis waren es!“

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