Berthold Kohler, Mitherausgeber der FAZ, hat die Bewaffnung der kurdischen Peschmerga-Kämpfer mit dem Argument unterstützt, da der Einsatz von Bodentruppen für Amerikaner und Europäer im Irak „nach den gemachten Erfahrungen nicht in Frage“ komme, seien die Kurden „die Infanterie des Westens“.
Hier ist der ganze Artikel:
Nun wird in diesen Tagen überall ziemlich viel Unsinn verbreitet. Warum greife ich mir ausgerechnet Herrn Kohler heraus?
Nun, Kohler ist ein einflussreicher Publizist. Und in seinem Kommentar werden gleich mehrere westliche Missverständnisse geradezu exemplarisch deutlich – das Ganze überdies im Duktus des Besserwissers: „Offenbar müssen … deutsche Innenpolitiker noch lernen, dass die mörderischen Auseinandersetzungen in der arabischen Welt nicht allein dadurch einzudämmen sind, dass die Friedrich-Ebert-Stiftung dort Konfliktbewältigungsseminare abhält.“ Höhöhö.
Was die Peschmerga als „Infanterie des Westens“ angeht, so muss man sich nur fragen, ob sich die kurdischen Kämpfer selbst so betrachten, um die neokoloniale Überheblichkeit zu verstehen, die diesem Missverständnis zugrunde liegt. Für die Peschmerga ist der Westen eher der Quartiermeister der kurdischen Unabhängigkeit.
Man kann für oder gegen die Unabhängigkeit Kurdistans sein. Zu glauben aber, die Kurden würden heute als unsere Infanteristen kämpfen, morgen dafür aber nichts einfordern, wäre extrem naiv. Blut gegen Unabhängigkeit: dies war der Deal, der schon – ausgesprochen oder unausgesprochen – dem Einsatz kolonialer oder halbkolonialer Truppen in den Kriegen der Europäer 1914 – 1918 und 1939 – 1945 zugrunde lag. Damals waren die Europäer und Amerikaner stark genug, ihre Versprechen nach den Kriegen wieder zu kassieren – man denke, apropos „arabische Welt“, an die den Arabern für ihren Einsatz als „Infanterie des Westens“ gegen die Türken im Ersten Weltkrieg versprochene Unabhängigkeit, oder an die Wiederaufrichtung der kolonialen Herrschaft der Holländer und Briten nach dem zweiten Weltkrieg in Südostasien.
Heute sind wir, da wir „nach den gemachten Erfahrungen“ nicht bereit sind, im Nahen und Mittleren Osten selbst mit Bodentruppen als Ordnungsmacht einzugreifen, auch nicht in der Lage, diese Region zu ordnen. Man mag das bedauern oder nicht: Es ist eine Tatsache. Niemand agiert dort auf unser Geheiß; und unsere Fähigkeit, den Ausgang der „mörderischen Auseinandersetzungen in der arabischen Welt einzudämmen“, geht gegen Null, ob mit Waffen oder Konfliktbewältigungsseminaren. Einstmals waren Araber, Kurden, Perser und Afghanen Bauern im „Great Game“, das Russland, Großbritannien und einige andere Mächte in der Region spielten. Heute sind wir die Schachfiguren, und das Spiel wird von anderen Akteuren gespielt.
Kohlers beschränktes Verständnis internationaler Politik wird auch in folgendem Zitat deutlich: „Die westlichen Demokratien müssen diesem Zivilisationsbruch und der Ausdehnung dieses totalitären Horrorregimes nicht nur deshalb entgegentreten, weil das ihre Werteordnung und ihr Selbstverständnis von ihnen verlangt. Der ‚Islamische Staat’ stellt eine akute Bedrohung für die ohnehin schon instabile Lage im Nahen Osten sowie eine langfristige Gefahr für die innere Sicherheit Europas und der Vereinigten Staaten dar.“
Warum die Brutalität des IS einen „Zivilisationsbruch“ darstellen soll, der einen Einsatz des Westens zwingend erfordert, allerdings ohne dass wir auch nur ein Soldatenleben aufs Spiel setzen, bleibt Kohlers Geheimnis. In Ruanda geschah Schlimmeres, ohne dass wir uns genötigt sahen, einzugreifen. In Darfur waren bis 2008 – neuere Zahlen habe ich nicht – 300.000 Menschen allein wegen ihrer Hautfarbe umgebracht worden, und im Kongo haben fast sechs Millionen Menschen ihr Leben verloren, für den, wenn man der „Welt“ glauben soll, „vor allem die USA und Europa verantwortlich“ sind:
Wollen wir in der Region bleiben, so wäre darauf hinzuweisen, dass der Bürgerkrieg in Syrien bislang vermutlich über 200.000 Todesopfer gefordert hat. ISIS/IS dürfte nur für einen Bruchteil dieser Toten verantwortlich sein; Hauptverantwortlicher ist das Assad-Regime, das Giftgas gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt hat – eine „rote Linie“, auf deren Verletzung die Bundesregierung in vorauseilendem Gehorsam gegen unseren mit Assad verbündeten Hauptgaslieferanten mit dem Hinweis reagiert hat, man werde such auf keinen Fall an militärischen Aktionen gegen Assad beteiligen. Die Invasion des Irak durch die USA und Großbritannien 2003 forderte allein im ersten Jahr 10.000 zivile Tote; seitdem sind an die 140.000 Zivilisten im Irak getötet worden. In Afghanistan sind es seit unserem Eingreifen dort 40.000.
Oder nehmen wir ein Beispiel aus unserer eigenen Geschichte (nein, nicht das Naheliegende): Im November 1942 sagte der Chef der britischen Bomberflotte voraus, innerhalb der nächsten 18 Monate werde man 900.000 Deutsche töten, eine weitere Million verletzen und 25 Millionen Deutsche „enthausen“ (so Richard Overy in seinem neuen Werk über den Bombenkrieg in Europa 1939 bis 1945). Es handelte sich ausschließlich um Zivilisten, und das explizite Ziel war das Brechen der deutsdchen Moral. Wie bei der – erheblich geringeren – Brutalität der IS-Terroristen. Angesprochen auf das gezielte Töten von Zivilisten im Luftkrieg antworteten die Erzbischöfe von Canterbury und York 1940, die mit dem Sieg der Alliierten verbundene moralische Frage sei „wichtiger als die harte Tatsache des Kampfes mit Mitteln, die man bedauern mag.“ (So viel übrigens zur Forderung an Muslime, sie sollten sich bitte von jedem Terrorakt, der im Namen des Islam oder von Muslimen begangen wird, bitteschön distanzieren.)
Mir geht es nicht darum, die Mörder des IS zu rechtfertigen. Mir geht es schon darum, die Verbrechen des IS zu relativieren und das publizistische Hyperventilieren – „Zivilisationsbruch“ – zu kritisieren. Irrationalität ist keine gute Grundlage für das Eingreifen in die Weltpolitik.
Will man intelligent gegen den IS vorgehen, so muss man die Rationalität des IS begreifen. Er ist nicht aus dem Nichts entstanden, und er wird nicht wieder ins Nichts verschwinden. Er ist ein Produkt des Ringens zwischen Schiiten und Sunniten um die Vorherrschaft in der Region. Der IS konnte nur so stark werden, weil
– in Syrien die mit dem schiitischen Regime in Teheran verbündete Assad-Diktatur so brutal gegen die sunnitische Opposition vorging; weil die „gemäßigten“ Oppositionskräfte so schwach waren; weil Russland Assad stützt; und weil der Westen faktisch mit Assad zusammenarbeitet bei der Liquidierung seiner Chemiewaffen. Und weil
– im Irak die mit Teheran verbündete Regierung Al-Malikis konsequent Sunniten aus allen Ämtern verdrängt und politisch marginalisiert hat. Und weil
– im arabischen Raum finanzstarke Kräfte – man denke an Qatar – die Kriegskoffer des IS auffüllen.
Bedrängte Sunniten in Syrien und im Irak mögen die Brutalität des IS verabscheuen; sie sind dennoch nicht bereit, gegen den IS zu kämpfen, weil sie die Angst der Schiiten in Teheran, Bagdad und Damaskus sehen und darauf zählen, als Preis für ihren Einsatz als „Infanterie der Schiiten“ politische Konzessionen zu erringen. Ob der Westen gut daran tut, den Schiiten in dieser Situation – und ohne selbst Konzessionen errungen zu haben – beizuspringen, darf man immerhin fragen.
Wir haben mit Saddam Hussein den wichtigsten regionalen Gegner des Teheraner Regimes beseitigt und den Irak zu einem faktischen Satellitenstaat des Iran gemacht. Wir haben die sunnitischen Extremisten in Afghanistan zwölf Jahre lang beschäftigt und dadurch dem Teheraner Regime vom Leib gehalten. Wir haben zugelassen, dass der mit Teheran verbündete Assad sein eigenes Land zerstört. Wir haben – entgegen dem Auftrag der Vereinten Nationen – zugelassen, dass Süd-Libanon wieder in die Hände der mit Teheran und Damaskus verbündeten Hisbollah fällt, und dass die Hisbollah wieder aufrüstet. Und was haben wir dafür bekommen? Nichts. Teheran rüstet weiter nuklear auf, unterstützt weiter Assad, die Hisbollah, die irakischen Schiiten und die Hamas.
Die Kurden sind die Infanteristen des Westens? Wer’s glaubt. Möglicherweise sind wir im Westen aus Teheraner Sicht die nützlichen Idioten der schiitischen Erweckung.
Hier ist A.Posener weitestgehend zuzustimmen. Ausnahme sind seine Sicherheiten bezüglich des – zweifellos sozial-reaktionären – iranischen Regimes. Für dessen Streben nach Atomwaffen gibt es keinen Beweis. In Afghanisten hat es mit den USA – im eigenen Interesse – gegen die Taliban kooperiert und tut das heute gegen die einst von den USA und Verbündeten sunnitischen Jihadisten. Auch was Syrien anbelangt: dass die Verantwortung für den Giftgaseinsatz gegen syrische Zivilisten beim Regime liegt, ist keineswegs bewiesen (was natürlich nicht bedeutet, dass das Regime davor aus „moralischen“ Erwägungen zurückschrecken würde, aber damit befindet es sich ja in „guter“ Gesellschaft nicht zuletzt auch mit herausragenden staatlichen Vertretern der westlichen Wertegemeinschaft. Zwei Punkte seien noch anzumerken: 1. wer den Kurden (und anderen Völkern) das Recht auf nationale Selbstbestimmung verwehrt, verlässt den Boden der Demokratie. Die Anerkennung dieses Rechtes ist im übrigen auch eine Voraussetzung für das Recht, gegen einen eigenen kurdischen etc. Staat zu argumentieren. 2. ISIS udgl. Kräfte sind nicht nur das Produkt sunnitisch-schiitischer Konkurrenz, sondern auch des ökonomischen, sozialen und damit moralischen Zerfalls weiter Teile der Region und darüberhinaus der bestehenden (kapitalistischen) Weltordnung. In diesem Zusammenhang ein kleines Zitat, das nur scheinbar eine Situation weit entfernt von der kapitalistischen Peripherie betrifft. Betreffs eines Aktes von Selbstjustiz in Südbaden, bei dem ein 17jähriger den vermutlichen Vergewaltiger seiner Schwester umgebracht hat, sagte der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt: „In dem Maß, in dem der Staat sich aus der öffentlichen Daseinsvorsorge zurückzieht, schwindet das Vertrauen und wächst die Bereitschaft, Dinge selbst in die Hand zu nehmen“. Zu diesen Dingen gehört nicht nur die Unterzeichnung einer privaten Versicherung und die Gründung eines Bauchladens, sondern eben auch die Selbstjustiz und das Streben „kaputt zu mache, was einen kaputtmacht“.