Zu den rührigsten Vertretern der arabischen Sache im Nahen Osten gehört eine Dr. Gabi Weber aus Freiburg, von deren „Café Palestine“ auch ich als Medienvertreter immer wieder Erklärungen und Ankündigungen erhalte. So auch am Freitag letzter Woche. Dr. Weber schrieb:
„Liebe Leserinnen und Leser,
die Ausstellung „Die Nakba – Flucht und Vertreibung der Palästinenser 1948“, die Oberbürgermeister Dr. Dieter Salomon im Herbst 2010 im Alleingang auch in Freiburg verbieten wollte ( Cafe Palestine gewann damals die Klage auf einstweiligen Rechtsschutz vor dem Verwaltungsgericht Freiburg) soll auf dem evangelischen Kirchentag in Hamburg vom 1. – 4. Mai 2013 gezeigt werden.
Wie in vielen anderen Städten bisher, in denen die Wanderausstellung zu Gast sein sollte oder war, kristallisiert sich ein Haupt-Akteur der Gegner der Ausstellung ganz klar heraus: die Deutsch-Israelische Gesellschaft!
Neu im Fall des evangelischen Kirchentages ist jedoch, dass die Deutsch Israelische Gesellschaft Stuttgart die Existenz des palästinensischen Volkes leugnet!“
Zum Beleg dieser angeblichen Leugnung der Existenz des palästinensischen „Volkes“ (man beachte das antikisierende „e“) dient Dr. Weber eine Stelle aus einem Brief, den Bärbel Illi von der DIG Stuttgart – vermutlich an die Organisatoren des Kirchentags – geschickt hat. Die Stelle lautet:
„Es wird in den Tafeln der Ausstellung wiederholt behauptet, dass es vor der Gründung Israels eine palästinensische Nation gegeben habe, deren Land durch die Balfour-Erklärung von 1917 jüdischen Einwanderern versprochen worden sei. Eine solche Nation (in jedem Sinne des Wortes ‚Nation‘) hat es nie gegeben, es ist auch umstritten, ob es sinnvoll ist, von einem „palästinensisches Volk“ zu sprechen, wie es in der Ausstellung geschieht.“
Dr. Weber kommentiert die Stelle wie folgt:
„Vielleicht wurde Frau Illi ja von Newt Gingrich inspiriert, der die Leugnung der Existenz der indigenen Bevölkerung Palästinas zu einem Wahlkampfthema in den USA machte. Er konnte die Wahlen nicht gewinnen, Frau Illi.
(…)
Den Organisatoren des Kirchentages wünsche ich von Herzen, dass Sie ihre Entscheidung, die Nakba-Ausstellung zu zeigen, nicht rückgängig machen. Dies wäre ein weiteres Eingeständnis dafür, dass die Kräfte in unserer Gesellschaft, die versuchen, für Wahrheit, Toleranz, freie Meinungsäußerung, intellektuellen Diskurs und universelle Gerechtigkeit einzustehen, kein Gehör mehr haben. Das dürfen wir nicht zulassen!“
Über die Nakba-Ausstellung habe ich bereits an anderer Stelle geschrieben:
http://www.welt.de/print/die_welt/kultur/article110306703/Propaganda-in-den-Kirchen.html
Man mag darüber anderer Meinung sein, darum geht es mir hier nicht. Worum es mir geht, ist Dr. Webers Versuch, eine kritische Hinterfragung von Begriffen wie „Volk“ und „Nation“ als „Skandal“ hinzustellen. Dies, obwohl sie geradezu ekstatisch Shlomo Sands Buch „Die Erfindung des jüdischen Volkes“ empfohlen hat, in dem – ob zu Recht oder Unrecht, will und kann ich hier nicht erörtern – genau diese Hinterfragung im Hinblick auf die Geschichte des Zionismus geleistet wird. Nun, mit zweierlei Maß zu messen ist natürlich nicht verboten und im Hinblick auf Israel ohnehin eher die Regel als die Ausnahme. Aber auch darum geht es nicht. Worum es mir geht, habe ich Frau Weber geschrieben:
Sehr geehrte Dr. Weber,
Als mein Vater mit der britischen Armee 1945 in Deutschland einrückte, um der Nazi-Herrschaft ein Ende zu machen, schrieb er der vertriebenen Verwandtschaft nach Jerusalem, er habe „als erster Palästinenser den Rhein überquert“. Damals – und bis 1948 – war es völlig klar, dass ein „Palästinenser“ der – jüdische, christliche oder muslimische, arabische oder hebräische – Bewohner des britischen Mandatsgebiets Palästina war.
Als mir 1978 von einem deutschen Gericht die Anerkennung als deutscher Staatsangehöriger verwehrt wurde, geschah das mit dem Hinweis, mein Vater habe „bereits 1937“ – also bevor sie ihm als Juden von den Nazis ohnehin aberkannt worden wäre – seine deutsche Staatsangehörigkeit verloren, indem er „die palästinensische Staatsangehörigkeit angenommen“ habe.
Palästina war jedoch keine Nation. Und die Araber in Palästina verstanden sich auch nicht als Teil einer Nation, schon gar nicht eines eigenen, von anderen Arabern getrennten „Volks“, was auch immer das Wort bedeuten mag. Damals haben auch die anderen arabischen Führer von einem „arabischen Volk“ gesprochen und zumindest rhetorisch eine panarabische Nation angestrebt.
Dass es vor 1918, als das Land Teil des ottomanischen Reichs war, ohnehin weder ein „palästinensisches“ noch ein „jordanisches“ noch ein „syrisches“ oder „libanesisches“ „Volk“ gab, weil es die entsprechenden Staaten nicht gab, ist eine allgemein bekannte Tatsache. Allenfalls Ägypten kann den Anspruch erheben, als Nation schon länger bestanden zu haben.
Darauf möchte Frau Illi, wenn ich sie recht verstehe, hinweisen.
Man kann das alles bestreiten, wie jede Interpretation der geschichtlichen Fakten. Insbesondere kann man das, wenn man eine blutsmäßige Definition des Begriffs „Volk“ unterschreibt und wenn man wider alle bekannten Tatsachen über die arabische Zuwanderung ins Mandatsgebiet nach 1918 und über die Zusammensetzung der Bevölkerung etwa in Jerusalem und Hebron vor 1918 eine Gruppe – nämlich die Araber – zur „indigenen“ Bevölkerung des Gebiets erklärt.
Darüber kann man gepflegt streiten. Aber von einem SKANDAL (Ihre Versalien) zu reden, ist offenkundiger Unsinn.
Frau Illi leugnet, so weit ich es sehen kann, keineswegs die „Existenz“ des palästinensischen Volks; sie fragt sich aber, ob die Bezeichnung selbst nicht ein historisches Konstrukt sei, das man nicht ohne Weiteres zurück projizieren dürfe auf historische Epochen, in denen sich die Gemeinten selbst nicht so nannten.
Mein Vater, nur um ein beliebiges Beispiel aus der Geschichte herauszugreifen, und auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, empfand sich bis 1933 keineswegs als Angehöriger eines „jüdischen Volks“ oder gar als „Palästinenser“, sondern als Teil des deutschen Volks. Das änderte sich aus den bekannten Gründen. Aber nur, weil er 1945 als Palästinenser in seine frühere Heimat zurückgekehrt ist, wäre es doch Unsinn, ihm diese Identität – wie es die Nazis allerdings taten – 1933 schon anzudichten.
Mit freundlichen Grüßen
Lyoner: halte ich es jedoch für (nahezu) ausgemacht, dass eine Gesellschaft, die derartig am falschen Ende schrumpft, nicht in der Lage ist, ökonomisch, ökologisch, sozialpsychologisch die nötigen Integrationsleistungen zu erbringen.
Daran, dass sie dazu in der Lage ist, habe ich mehr als Zweifel. Allein schon deswegen, weil sie nicht will. Weil sie die „Lösung“ nicht will, eben: Zuwanderung nicht will, nimmt sie das Problem schlicht nicht zur Kenntnis.
So ist auf dem Blog niemand von denen, die die Notwendigkeit der Zuwanderung (ebenso wie die eines europäischen Staates – das ist kein Zufall!) bezweifeln, etwa auf die geostrategische Bedeutung des sich rapide leerenden europäischen Raums eingegangen. Und das scheint mir ziemlich repräsentativ zu sein. Die Ignoranz ist flächendeckend.
Wenn überhaupt noch, würden wir uns – wen immer wir zu uns zu zählen bereit sind oder nicht – jedenfalls nicht mehr in irgendwelche alten „klassischen“, z.B. nationalen, Behaglichkeiten integrieren können. Wir wissen das. Aber eben weil wir das wissen, ignorieren wir das Problem. Zuwanderung? Zu ungemütlich!
Von den „Nationalen“ (oder auch „Nationalisten“) habe ich eh nichts anderes erwartet. Sie enttäuschen mich nicht. Beschränkter Horizont – beschränkter Horizont, wörtlich! – ist und war schon immer ihr Programm. (Bleibt ja immer noch die ganz große Gerechtigkeit: Stirbt die Nation, hat sie es eben nicht besser verdient. (So schon vor seinem Abschied ihr Ganz Großer Führer.))
Aber dass die Neoliberalen und Globalisierer, die uns mit Individualismus und Hedonismus, mit Egoismus und Konsum programmatisch(!) in diese Lage geführt haben, jetzt plötzlich ebenfalls und allein schon im Hinblick auf Europa nationale Unzumutbarkeiten erkennen, entsetzt mich.
Welche Große Koalition ignoranter Pfeifendeckel! Das 19.Jahrhundert ist noch lange nicht zu Ende. Wir wiederholen es. Wie schon das letzte Jahrhundert das 19. Jahrhundert wiederholte.
Interessante Diskussion. Insofern schade, dass ich „abwesend“ war und nicht mit dem einen oder anderen Einwurf und der einen oder anderen Frage mitgemischt habe. Ich denke allerdings, dass uns das Thema nicht loslassen, sondern das eine oder andere Mal ergreifen wird. Beeindruckt bin ich von der Schilderung der Prozesse in EJ´s Heimatgemeinde und der Hypothese der „Verteidigung des sich rapide leerenden Raums“ angesichts resignierender, von Deutschland überforderter Kinder . Ich neige ja, wie bekannt, eher zu EJ´s dystopischen Erwartungen, würde es allerdings begrüßen, wenn KJN´s behaglichere (und menschenfreundlichere) Visionen Wirklichkeit werden. Ich frage mich, ob wir den Rubikon bereits überschritten haben, dies ein quasi naturwüchsig ablaufender Prozess ist (allerding von Zeitgenossen wie Posener gewollt) oder politisch noch steuerbar. Bei EJ´s Alternative: entweder massig, massig Kinder oder massig, massig Zuwanderung halte ich es jedoch für (nahezu) ausgemacht, dass eine Gesellschaft, die derartig am falschen Ende schrumpft, nicht in der Lage ist, ökonomisch, ökologisch, sozialpsychologisch die nötigen Integrationsleistungen zu erbringen.
@ Stevanovic
Sie haben natürlich recht, wenn Sie meine Ausführungen zur Kulturidentität der Deutschen als altbacken und oberstudienratsmäßig persiflieren. Ich bitte Sie jedoch meine Nostalgie, hab in, hab in meinem Herzen darinnen, einen wundersamen Schmerz …, nachzuvollziehen, wenn schöne Kulturleistungen im Orkus der Zeit verschwinden. Diese Nostalgie setzt irgendeine herkömmliche Identität voraus; ich muss jedoch gestehen, dass ich keiner der Buchmenschen aus Truffauts Fahrenheit 451 sein könnte (https://www.youtube.com/watch?v=M9n98SXNGl8), glaube jedoch, dass in diesem Zusammenhang Nietzsches Überlegungen zum „Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ durchaus bedenkenswert sein könnten. Deutschland ist eine Kulturnation, siehe: http://www.youtube.com/watch?v=iNM7G5Bb1wM :^). Was meinen Sie? – Es interessiert mich sehr, welche Ziele Sie formulieren würden, „die wir auch erreichen können, so wir denn wollen.“
@ Roland Ziegler
Hier ein Beispiel eines völkischen Verständnisses, in dem genetisch definiertes Volkstum durch Religion gestützt wird: http://www.welt.de/print/wams/.....natan.html
@ Stevanovic
Sie sollten sich – mit Verlaub – nochmals überlegen, ob Sie eine dystopische Fiktion gegen ein realpolitisches Elend ausspielen wollen. Natürlich – da haben Sie recht – ist eine Apokalypse immer um Quantensprünge schlimmer.
@EJ Nachtrag
… zum Demographiegipfel: … natürlich sehr vertrauensgewürzig …