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Wie die Schule schlechtgeredet wird

Die deutsche Schule ist zurzeit wieder heftig unter Beschuss. Der SPIEGEL  präsentierte  auf seinem letzten  Titelblatt  der  Nation  ein bekümmert blickendes junges Mädchen. Auf dem T-Shirt trägt es die Aufschrift „Ich kann nicht mehr“.

Schule macht krank – so die Botschaft der Zeitschrift. Der Philosoph für alle Fälle, Richard David Precht, fordert  in seinem  neuesten Buch nichts weniger als  eine „Bildungsrevolution“. Er hält die gegenwärtige Schule für völlig verfehlt und möchte alles abschaffen: die Noten, die Fächer und die Jahrgangsstufen. Kleine Münze gilt nichts mehr im Schulkrieg. Manche Kommentare zu Prechts Buch übertreffen ihn noch an triefendem Pessimismus. So schreibt der Autor der Süddeutschen Zeitung Peter Praschl, unsere Schulen würden die Kinder zu „fügsamen, still sitzenden und kooperativen Robotern“  abrichten. An die Lehrer-Schelte von Eltern hat man sich inzwischen gewöhnt. Vor einiger Zeit schrieb sich eine frustrierte Mutter den Ärger, den ihre Kinder wohl  mit ihren Lehrern hatten, in einem „Lehrerhasserbuch“ von der Seele. Es wurde ein Bestseller.

Woher kommt die Vehemenz der Kritik an der Schule? Warum gleitet sie so oft ins  Fundamentalistische ab?  Von anderen gesellschaftlichen Einrichtungen kennt man diesen Furor nicht. Wer möchte schon  das ganze  Gesundheitswesen umkrempeln? Wo ist die Fundamentalkritik an unseren  Architekten? Nur in der Kritik an der Schule entladen  sich heftige Emotionen.

Sicher hat es mit der eigenen Schulzeit zu tun, die vielleicht wirklich eine Leidenszeit gewesen ist. Jeder hat mindestens einen schlechten Lehrer, eine schwache Schulleitung oder  eine chaotische Schulorganisation erlebt. Da liegt es nahe, diese punktuellen Negativerfahrungen auf das „System“ hochzurechnen. Viele  Medien berichten  ohnehin lieber über das Scheitern als über das Gelingen. Vorbild ist  das „Prinzip Tagesschau“. 95 % der Dinge, die sich die Menschen in unserem Land  tagtäglich vornehmen, gelingen. Die Tagesschau berichtet über die restlichen 5 %.

Nach 35 Jahren Unterricht an fünf unterschiedlichen Schulen kann ich guten Gewissens behaupten: In unserer Schule gelingt eine ganze Menge. Anders ließe sich auch gar nicht erklären, dass die Kinder und Jugendlichen, die jeden Morgen in die Klassenzimmer strömen, nicht rebellieren. Sie  sind keine Roboter, die zur Fügsamkeit abgerichtet wurden. Das ließe sich die heutige Jugend auch gar nicht gefallen.  Jugendliche sind heute  selbstbewusst, kritisch, durchaus hedonistisch gestimmt, aber auch offen für intellektuelle Anregungen, und – ja, gewiss – auch für Leistung.  Wer die Jugendlichen  für Lernsklaven hält, hat vermutlich schon  lange keine Jugendlichen mehr aus der Nähe  erlebt.

Mein subjektiver Eindruck lässt sich auch durch Zahlen belegen. In den sozialen Begleitstudien zu den drei  PISA-Studien wurde die Schulzufriedenheit der Schüler getestet. Hier schneiden deutsche Schüler erstaunlich gut ab – besser als bei den intellektuellen Leistungen. Französische Schüler staunen, wenn sie in Deutschland zu Gast sind,  über die lockere Atmosphäre, die  in deutschen Klassenzimmern  herrscht. Abrichtung, geisttötendes Pauken? In der Phantasie der Kritiker, nicht in der Realität.

Die Sinus-Jugendstudie von 2012 zeigt ebenfalls, dass die heutige Jugendgeneration keineswegs von Stress geplagt ist. Die meisten der befragten Jugendlichen geben an, dass sie die hohen Leistungsanforderungen in der Schule auch als Herausforderung begreifen. Das Fazit einer Abiturientin lautete: „Hart arbeiten, aber auch  hart feiern“.

Ich vermute, dass die Kritik an der Leistungskultur der Schule vor allem dem Unmut der Eltern entspringt. Im Kern sind es eigene Abstiegsängste, die sie auf ihre Kinder projizieren. Sie sind in der Zeit vor der  Globalisierung zur Schule gegangen und in den Beruf eingetreten. Zumeist hatten sie sichere Arbeitsplätze, die sie ihr  ganzes Leben  ausfüllten. Diese Zeit der beruflichen Sicherheit ist vorbei. Heute zählen flexible Biographien, lebenslanges Lernen, ständiges Sich-Neu-Orientieren. Dass dies  Eltern mit Ängsten erfüllt, ist  nachvollziehbar. Sie wollen ja das Beste für ihre Kinder. Wenn daraus jedoch das  Bild von einer Schule entsteht, die Jugendliche knechtet, ist das problematisch.

Eine Emnid-Umfrage vom September 2012 zeigt, wie die Verunsicherung der Eltern  ihr Bild von der Schule verändert.  Nach ihren Prioritäten für die Bildungspolitik befragt, nannten 84% der Befragten als wichtigstes Lernziel „soziales Verhalten“. An letzter Stelle  rangierte mit nur 28% die „Leistung“.  Leistung als schulisches Kriterium kann nur jemand ablehnen, der seine eigenen Kinder für überfordert hält. Die  Schule als  Ort der freundlichen sozialen Begegnung ist dann allemal die bessere Option. Ihren Kindern tun solche Eltern  keinen Gefallen. In der Schule Leistung zu verlangen, ist nicht unmenschlich, sondern Ausdruck der Wertschätzung der geistigen Gaben unserer Kinder. Das bestätigen Schüler immer dann, wenn sie im Unterricht über sich hinauswachsen  und stolz ihre Lernergebnisse präsentieren. Die Lehrer sollten sich dagegen wehren, dass ständig von außen  die Gleichheitsvorstellungen der Sozialpolitik in die Schulen hineingetragen werden. Da Intelligenz  nie gleich verteilt sein wird, müssen  diese utopischen Sehnsüchte  zu  Enttäuschungen führen. Daraus speisen sich dann die Hasstiraden gegen die  Schule im öffentlichen Diskurs.

Was gelingt in der Schule? Das meiste! PISA und andere Studien belegen es. Rechnet man aus den Ergebnissen der drei PISA-Studien die Anteile der migrantischen Kinder heraus, landen deutsche Schüler auf einem Spitzenplatz. Ausländische Experten (mit Ausnahme der OECD) beneiden uns um unser leistungsfähiges Schulsystem, das noch im letzten Winkel des Landes nach hohen Standards arbeitet. Vor allem das Gymnasium gilt international als Erfolgsmodell. Vielleicht sollte sich der deutsche Selbsthass an den ausländischen Elogen ein Beispiel nehmen.

Was misslingt in der Schule?  Die Schulen müssen lernen, noch besser mit den unterschiedlichen Begabungen und im Elternhaus erworbenen Dispositionen umzugehen. Wenn  – wie in der Allensbach-Umfrage vom 24. 4. 2013 –  80% der Eltern der Meinung sind, dass vor allem Defizite im Elternhaus für die Misserfolge der Kinder  in der Schule verantwortlich sind, ist das ein Alarmzeichen. Hier sind Bildungs- und Erziehungsvereinbarungen zwischen Elternhaus und Schule ein zwingendes Gebot.

Den Kritikern, die alles schlecht reden und das ganze System  umstürzen wollen, sei gesagt, dass diese Alles-oder-Nichts-Haltung letztlich den Schülern am wenigsten hilft, weil sie ihnen die kleinen, aber wichtigen Verbesserungen versagt.  Schule lässt sich nur pragmatisch und in kleinen Schritten reformieren. Das Motto des Reformpädagogen Hartmut von Hentig sollte dabei den Weg weisen: „Wenn die Ziele groß sind, können die Schritte klein sein.“

 

 

 

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7 Gedanken zu “Wie die Schule schlechtgeredet wird;”

  1. avatar

    @ Rainer Werner

    Falls Sie noch mal ‚reinschauen, etwas ganz Kleines: Jeder redet über MINT-Berufe. Wieso muss man eigentlich in Mathematik und Physik so viele Textaufgaben machen? Ich dachte immer, es handelte sich mehr um Zahlen und würde eine Wette darauf abschließen, dass Immigranten mit Zahlen besser zurechtkämen, weil Zahlen überall dieselben sind.

  2. avatar

    *John Ruskin*

    Alles falsche Denken und Sehen kommt zumeist daher,
    daß wir über Dinge denken, die uns nichts angehen,
    und Dinge suchen, die wir sehen wollen,
    statt solcher, die wir sehen sollen.

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    Sehr geehrter Herr Werner!
    Hier haben Sie einen wunden Punkt getroffen:
    „Die Lehrer sollten sich dagegen wehren, dass ständig von außen die Gleichheitsvorstellungen der Sozialpolitik in die Schulen hineingetragen werden. Da Intelligenz nie gleich verteilt sein wird, müssen diese utopischen Sehnsüchte zu Enttäuschungen führen. Daraus speisen sich dann die Hasstiraden gegen die Schule im öffentlichen Diskurs.“

    Diese Gleichheitsvorstellungen führen auch dazu, dass Eltern ihre Kinder verkennen, weil sie Abitur für das einzig Erstrebenswerte halten. Mit der Realität hat das sehr wenig zu tun. Mancher mathematisch und technisch Begabte hat in anderen Fächern weniger Talent. Mancher, der „nur“ Handwerker wird oder ein begabter Koch ist, wird später wohlhabender als ein Akademiker. Man sollte daher den Realschulabschluss deutlich im öffentlichen Bewusstsein aufwerten. Andererseits erscheint es mir sinnlos, dass Schüler, die in Naturwissenschaften begabt sind, sich durch hochdiffiziles Textverständnis quälen müssen und schlechte Noten bekommen, wenn sie nicht literarisch oder philosophisch wertvoll schreiben können. Umgekehrt ist es für sprachlich, also in der Oberstufe auch geisteswissenschaftlich Begabte, nicht nötig, ein extrem hohes Mathematikniveau zu erlernen. Ich wäre also für eine stärkere Spezialisierung ab der neunten/zehnten Klasse.
    Bei der Einstufung von spezifischen Begabungen sollten außenstehende Institute wie das Max-Planck-Institut vorgezogen werden, da Lehrer oft voreingenommen gegen Schüler sind, was sich auch bei der Weitergabe von Noten über Jahre bemerkbar macht. Es ist schwer für Schüler, aus einer Entwicklungsphase, die zu kritischer Einschätzung bei Lehrern geführt hat, herauszuwachsen. Schüler werden oft mit einem Etikett belegt und können daran scheitern.
    Es ist nicht einzusehen, warum Einzelbegabungen nicht gefördert werden und Möglichkeiten bestehen, andere Fächer abzuwählen. Es gibt nur wenige Fächer, die jeder braucht: Die Muttersprache sollte beherrscht werden, desgleichen Englisch, aber Mathematik nur bis zu einem gewissen Niveau. Dabei sollte Schülern und Eltern klargemacht werden, dass gewisse Berufsbilder später ausgeschlossen sind.
    Allroundtalente gibt es in jeder Klasse, maximal zehn Prozent. Diese sollte man bewahren vor Neid und Mobbing. Es ist nicht gesagt, dass sie später die besten Karrieren machen oder automatisch mehr verdienen. Grundsätzlich stimmt in diesem Land etwas nicht bei der Einstufung und Bewertung unterschiedlicher Begabungen und deren Förderung.
    Auch soziale Qualitäten sind unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt Schüler bzw. oft Schülerinnen, die mehr davon haben. Auch diese Qualität braucht nicht jeder zu haben. Es reicht, wenn die Mehrzahl einer Klasse sie hat und im Sinne von gutem Klassenklima durchsetzt. Aber es braucht nicht jeder später Lehrer, Soziologe oder Psychologe zu werden; und sich einzubilden, man könne die Menschheit zu kollektiver Gutartigkeit erziehen, erscheint mir sehr verwegen. Es gibt Altruisten und Egoisten, und diese Mischung muss es machen, nicht die Selektion des Altruisten oder auch die Selektion des fügsamen Strebers.
    Die Errungenschaften der Wissenschaft resultierten oft genug aus dem Ungehorsamen, siehe Galileo Galilei, Kopernikus oder Luther, wenn man die Bibelübersetzungen oder die Verdienste für die Sprache bedenkt.
    Auch Einstein war gewiss nicht fügsam.
    Dass man die Franzosen, ein eher aufmüpfiges Volk, in der Schule zum Stillsitzen zwingt, hat sicher Folgen. Zumindest hat man den Eindruck, dass derzeit nicht viel Großes aus Frankreich kommt, und dass Politiker, die aus Eliteschulen stammen, weder besonders gut regieren, noch vor Entgleisungen gefeit sind.
    Insgesamt bin ich dafür, mehr Geschichte zu unterrichten, die Noten nur in den Fächern Kunst und Musik abzuschaffen zwecks freier Entfaltung und die Bildungswege früher nach Begabung bei gründlicher Beratung von außen aufzusplitten und, wie gesagt, den Realschulabschluss mental aufzuwerten.
    Zum Schluss möchte ich noch anregen, dass ein an Universitäten ganz üblicher Modus, das Wechseln der Unterrichtsstätte bei gleichzeitigem Aufstieg Studienräten auch recht gut täte.
    Es ist zu wenig Bewegung im System, insgesamt. Ich bezweifle, dass das an Noten liegt und fürchte, dass ohne Noten die Schüler noch viel gnadenloser der persönlichen Beurteilung von Lehrern ausgesetzt wären.

  4. avatar

    Moin, moin Herr Werner,
    ich habe eher mittelprächtige Erfahrungen in der Schule gesammelt, war auch nur ein mittelprächtiger Schüler. Immerhinque kann ich lesen und schreiben; mit den Grundrechenarten kenne ich mich auch aus. Ansonsten ist von meinem Schulwissen fast nix mehr vorhanden. Bin dabei wohl in guter (schlechter?) Gesellschaft. Ansonsten stimme ich Ihnen zu.
    Zwei lütte Anmerkungen: Erstens, vergessen Sie Precht! Precht ist eine Medienkreatur, ein geistiges Nichts, ein intellektueller Nobody.
    Zweitens, PISA-Ergebnisse für Deutschland: Schüler iranischer, polnischer und vietnamesischer Herkunft unterscheiden sich in ihren Leistungen nicht signifikant von deutschen Schülern ohne Zuwanderungshintergrund. Das Problem ist, dass die vielen türkischstämmigen (teilweise auch arabischstämmigen) Schüler die Ergebnisse „drücken“. Das hat auch übrigens die letzte Grundschulstudie verdeutlicht. Tja, in Finnland gibt es nur wenige Alis und Mehmets. Hier spielt tatsächlich das mangelnde Bildungsinteresse der Elternhäuser eine wichtige Rolle.

  5. avatar

    @KJN: Bezahlt wird nicht Arbeit, sondern Leistung; eine bestimmte Arbeit innerhalb einer bestimmten Zeitspanne („Deadline“). Ihre Formel für Arbeit kürzt die Zeit heraus u. ergibt eine Tautologie (Arbeit = Arbeit; normalerweise wird Arbeit nichttautologisch beschrieben durch Kraft mal Weg).

    Aber das führt zu weit (nicht dass die schmunzelnden Physiklehrer sich in einem späten Triumph wähnen). In der Schule sollte man sich jedenfalls gehörig Zeit nehmen, um systematisch aufeinander aufgebaute Aufgaben in Ruhe und gründlich zu lösen. Eine permanente Hektik ist schädlich. Und gut dass die Sommerferien so lang sind.

  6. avatar

    @R.Z.
    Leistung = Arbeit/Zeit, also das, was trainiert wird, z.B. in der Schule
    Arbeit = Leistung x Zeit, also das, was bezahlt wird. Je nach Qualität (= Informations-Input bzw. Erhöhung des Informationsgehalts)
    Wirkung = Arbeit x Zeit, also ordnende Präsenz, wenn Sie so wollen. das, wofür Manager bezahlt werden.

    M.E. sollte man sich, wie Sie auch wahrscheinlich meinen, von dem Begriff „Leistung“ in der Arbeitswelt trennen. Was z.B. bei der Personalauswahl gemeint ist, ist „Leistungsfähigkeit“. Betriebswirtschaftlich entscheidend ist aber die Arbeit. Klingt nach Klugscheißerei, scheint mir aber wichtig zu sein.

    Und das scheint interessant zu sein:
    http://www.slow-media.net/leistung-oder-wirkung

    (Bei mir 7 Tage SM-Abstinenz)

  7. avatar

    Leistung ist, wie insb. unsere Physiklehrer immer mit einem recht widerlichen Schmunzeln betont haben, Arbeit durch Zeit. Und das ist auch das Problem an der Leistung: dass sie uns unsere Zeit wegnimmt, indem sie immer mehr in immer kleinere Zeiteinheiten zu zwängen versucht, bis keine Zeit mehr übrig ist. Zeit ist aber das wichtigste Gut, und deshalb muss man sich gegen den Leistungsgedanken wehren. Arbeit leisten – soweit so gut, aber man sollte sich die Zeit nehmen, die man dazu braucht, d.h. die „Leistung“ eher reduzieren. Gerade als Kind. Die Verknappung des Abiturzeitraums auf 12 Jahre war ein Fehler.

    Aber sonst stimme ich Ihnen zu.

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