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Von der eigenen Hände Arbeit leben

Der erste Mörder in der Menschheitsgeschichte, Kain, wird nach der Ermordung seines Bruders Abel  von Gott  damit bestraft, dass  sein   Acker keinen Ertrag mehr  bringen  solle:  Armut und Hunger  als Buße für    Verbrechen und  Sünde.

Im Umkehrschluss  bedeutet  das Urteil  Gottes über den Verbrecher Kain, dass der Schöpfer will, dass  die Menschen von den Erträgen ihrer Hände Arbeit  leben können.  Diese Vorstellung ist so elementar, dass sie sich ins mythische Gedächtnis der Menschheit eingeschrieben hat.  Wer ein Leben lang gearbeitet hat, sollte –  so die zwingende Logik der Bibelstelle – auch ein auskömmliches Ruhestandsgeld erwarten können. In der vormodernen Zeit waren die Familienverbände dafür verantwortlich, den Alten und Gebrechlichen ein menschenwürdiges Leben bis zu ihrem Tod zu garantieren. Der Begriff Gnadenbrot, ursprünglich nicht negativ besetzt,  kündet von dieser moralischen Verpflichtung.

Die Moderne hat die Familienstrukturen aufgelöst, dem Individualismus zum Durchbruch verholfen und dadurch dieses traditionelle Solidarprinzip zerstört. Garant einer auskömmlichen Altersversorgung ist jetzt der Staat.

Unter Bismarck wurde das umlagefinanzierte Rentensystem geschaffen. Es basiert auf einem Generationenvertrag: Die aktiv Tätigen finanzieren durch ihre Rentenbeiträge die Altersversorgung der  Ruheständler. Dies ging so lange gut, wie die Geburtenrate nicht niedriger war als die Sterberate. Seit die deutschen Frauen  im Durchschnitt nur noch 1,36  Kinder bekommen und  die Lebenserwartung der Menschen immer weiter steigt, ist der  Generationenvertrag brüchig geworden.

Durch verschiedene Eingriffe in die Rentenformel, vor allem durch den Einbau  eines demografischen Faktors, soll   das Rentenniveau sukzessiv  auf 43 %  des Erwerbseinkommens abgesenkt werden. Diese Absenkung bedeutet für diejenigen, die während ihres Arbeitslebens wenig verdient haben, den Absturz in die Altersarmut. Sie werden durch die sog. Grundsicherung, eine Form der Sozialhilfe, aufgefangen.

Die zweite Säule der Altersversorgung, die  private Vorsorge, wurde durch die  Euro-Krise  stark geschwächt. Da diese  Vorsorgemodelle (Riester-Rente oder Lebensversicherung)  kapitalbasiert sind, haben die historisch niedrigen Zinsen (der Leitzins der EZB liegt gegenwärtig bei 0,75 %) einen Teil des  Kapitals aufgezehrt. Hinzu kommt, dass der Wert der Aktien, die  den Depots beigemischt sind, durch die Krise stark gefallen ist. Berechnungen von Verbraucherschutzverbänden haben ergeben, dass das auszuzahlende Kapital einer Lebensversicherung sich von 200 000 € auf nur noch 80 000 € verringert hat.

Die beiden großen Volksparteien, SPD und CDU, versuchen – rechtzeitig vor der nächsten Bundestagswahl –  die drohende  Altersarmut   durch Gesetze  zu mindern. Dabei setzt die SPD auf eine steuerbasierte Aufstockung der Niedrigrenten, die CDU auf eine Zusatzrente durch  Umverteilung innerhalb des Rentensystems. Zielmarke ist eine Grundrente von 850 €. Beiden Vorschlägen gemeinsam ist, dass sie eine wichtige Ursache für  niedrige Renten   nicht in den Blick nehmen.

Die Rente eines abhängig Beschäftigten wird nach den Rentenbeiträgen bemessen, die er in seiner aktiven Arbeitsphase in die Rentenkasse eingezahlt hat. Wer als Facharbeiter nie arbeitslos war und stets ein gutes Einkommen hatte, kann eine höhere  Rente erwarten als jemand, der stets in prekären Arbeitsverhältnissen (Niedriglohnsektor, Leiharbeit, geringfügige Beschäftigungsverhältnissen)  gearbeitet hat und/oder über längere Zeit arbeitslos war. Denn die Lohnhöhe und die  Zahl der  Jahre in  Beschäftigung bestimmen  die Rentenhöhe.

In den letzten Jahren ist es üblich geworden, dass immer mehr Menschen zum Jobcenter des Arbeitsamtes gehen müssen, um sich ihren niedrigen Lohn durch eine Sozialleistung aufstocken zu lassen.  Viele Firmen  bemessen die Löhne ihrer Mitarbeiter  – wissend, dass der Staat einspringt –  so niedrig, dass diese  auf  „ergänzende Sozialleistungen“ angewiesen sind. Der unschöne Begriff „Aufstocker“ steht für dieses  moralisch fragwürdige Beschäftigungsmodell.

Ich habe mich immer schon gefragt, warum die Aufsichtsbehörden ein Geschäftsmodell zulassen, das den Beschäftigten keine Löhne gewährleisten kann, von denen sie leben und ihre Familien ernähren können. Wer in Deutschland eine Firma eröffnen will, muss alle möglichen Kontrollen über sich ergehen lassen. Geprüft werden die Arbeitsschutzbestimmungen, die Einhaltung der Hygienevorschriften, die Existenz zweier Toiletten.

Nicht geprüft wird, ob die Löhne so auskömmlich sind, dass man davon leben kann. Die Gewerkschaften und Sozialverbände schätzen, dass die Zahl der Trittbrettfahrer unter den Firmen, die das „Aufstocken“ der Löhne ihrer Mitarbeiter durch den Staat  bewusst einkalkulieren, bis zu  20 % beträgt. Dies ist eine Form des  Sozialbetrugs, die von  der Öffentlichkeit viel zu wenig beachtet und vom Staat nicht  bekämpft wird.

Karl Marx hat in seinen Schriften die Arbeitskraft als Ware charakterisiert, die wie jede andere Ware auf dem Markt angeboten wird. Den Wert dieser besonderen Ware, die Werte schaffen kann, bemaß er mit den Reproduktionskosten, die zur ihrer Erhaltung erforderlich sind. Modern gesprochen könnte man sagen, dass der Lohn der Ware Arbeitskraft so hoch sein muss, dass der Beschäftigte anständig davon leben kann. Er muss die Kosten für  Lebensmittel, Kleidung, Wohnung, kulturelle Bedürfnisse abdecken.

Da die Unternehmer immer das Bestreben haben, den Wert der Ware Arbeitskraft zu drücken, kommt den Vereinigungen der Arbeiter, den Gewerkschaften, die Aufgabe zu, durch Verhandlungen und notfalls  auch durch  Arbeitskämpfe den Wert der Ware Arbeitskraft zu erhalten und zu steigern. Wenn die Zahl der Arbeitslosen steigt, haben sie dabei schlechtere Karten, weil die Konkurrenz um die Arbeitsplätze die Preise (Löhne) senkt. Und umgekehrt. Marx hätte sich bestimmt nicht träumen lassen, dass in einer Phase der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die von einer extrem hohen Produktivität und  volkswirtschaftlichem Reichtum  gekennzeichnet ist, der Wert der Ware Arbeitskraft für einzelne Gruppen von Arbeitern  unter die Reproduktionskosten abgesenkt werden kann – mit  Billigung des Staates.

Dass die SPD  für einen flächendeckenden Mindestlohn per Gesetz eintritt, versteht sich für eine Partei, die ihre Wurzeln von Marx her ableitet, von selbst. Aber auch die CDU hätte,  ihr christliches Fundament ernst nehmend, allen Grund, für einen Mindestlohn  in allen Wirtschaftszweigen einzutreten, der dem oben beschriebenen unsozialen Geschäftsmodel den Garaus macht. Denn seit der Zeit von Jesus Christus hat es immer zum Auftrag eines gerechten Herrschers gehört, dafür zu sorgen, dass die  Untertanen  von ihrer Hände Arbeit leben können. Der CDU ins Stammbuch: Der Apostel Paulus schreibt an die christliche Gemeinde in Kolossä: „Ihr Herren, gewährt euren Knechten das, was recht und billig ist, da ihr wisst, dass auch ihr einen Herrn im Himmel habt“ (Kol 4,1). Ein Mindestlohn, der „recht und billig“ ist,  wäre  in der Tat christlich.

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4 Gedanken zu “Von der eigenen Hände Arbeit leben;”

  1. avatar

    @Alan Posener: Doch gerade auf die Arbeiter im Weinberg kann man sich berufen, wenn man für faire Löhne streitet!
    Die bekamen schließlich nicht nur einen Mindestlohn sondern alle den seinerzeitigen Durschnittslohn. Gerade dieses Gleichnis zeigt den Arbeitgebern, das Gerechtigkeit erst da beginnt, wo jeder mindestens das hat, was er für sich und die seinen zum leben braucht!

  2. avatar

    In der ach so kapitalistenfreundlichen Schweiz hat man ein Rentensystem, daß
    a.) einfacher ist,
    b.) gerechter ist und
    c.) zukunftsfest ist.

    Wie hat man das erreicht ? Ganz einfach:
    1. ALLE zahlen den gleichen Prozentsatz (10%) ihres Einkommens in die Versicherung ein.
    2. Es gibt eine Mindestrente und ein Höchstrente.

    Damit es auch alle kapieren, was in der Schweiz unter ALLE gemeint ist:
    Es gibt keine Sonderrechte für Beamte, Abgeordnete, Freiberufler, Selbständige etc. Auch Zins-, Dividenden und Mieteinnahmen werden berücksichtigt. Ein Einkommensmillionäe zahlt dann mal locker 100.000 Franken ein im Jahr und bekommt dennoch nur die Höchstrente. Bei uns redet man nur von einem solidarischen System, in der Schweiz praktiziert man Solidarität.

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    @Rainer Werner
    Zustimmung und danke für Ihre konservative Haltung im besten Sinne in dieser Frage: Gegner des Mindestlohnes führen an, daß dieser Arbeitsplätze vernichten würde. Der Staat hat also nach Meinung dieser Mindestlohngegner dafür zu sorgen, daß Arbeitsplätze erhalten bleiben. Wenn das kein Wunsch nach Planwirtschaft (für einige „Gleichere“) ist..

    Normalzustand wäre: Wenn ich als Selbständiger (Unternehmer) soviel zu tun habe, daß ich Hilfe brauche, kann ich die Helfer entweder angemessen dafür bezahlen, oder mein Geschäftsmodell ist nicht tragfähig (oder ich will ausbeuten).

    Wenn aber die Betriebskosten z.B. durch Sicherheitsauflagen oder Reglementierungen so hoch werden, und ich deswegen keinen angemessenen Lohn mehr zahlen kann, ist etwas faul.
    Wenn kleine Unternehmen und Geschäfte seit Jahrzehnten massenhaft sterben, ist das kein Naturgesetz, sondern auch Folge falscher Politik auf allen Ebenen. Und wenn die öffentliche Diskussion nur noch von stumpfen Systemextremisten (marktradikal oder sozialistisch) geführt wird, geht nicht nur der gesunde Menschenverstand, sondern auch unsere Freiheit flöten.

    Ganz ehrlich & offenherzig: Ich kann diese Talkrunden nicht mehr ertragen, in denen seit Jahrzehnten in stets gleichen Themen mit stets gleichen Argumenten Ping-pong gespielt wird. Das ist mir schlichtweg zu doof und ich bin daher hochgradig medienverdrossen.

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