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Vorhautkriege

Am Montag bekam ich folgende Mail von einem jungen Blogger, den ich nicht zuletzt wegen seines Eintretens für Israel (aber keineswegs nur deshalb) bewundere:

Lieber Alan Posener,
das war ein ganz interessantes Wochenende. Ich habe am Samstag einen Artikel geschrieben, in dem ich gewisse Zweifel daran erkennen lasse, ob es tatsächlich so selbstverständlich sein muss, dass man kleine Jungs beschneidet. Und schon war es vorbei mit der Entspanntheit in Teilen meines jüdisch-christlichen (was wollen die Christen überhaupt?) Bekanntenkreises. Da haben sich sonst liberal und aufgeklärt fühlende Leute als „Gott will es“-Eiferer probiert und Miniatur-Fatwas in ihre Tastaturen gehauen. Innerhalb von 24 Stunden war ich Nazi, Taliban(!), chinesischer Kulturrevolutionär, Gutmensch (!!) und ein falscher Freund Israels. Spinner, Idiot und sonstige Pausenhof-Beschimpfungen nicht mitgerechnet.
(…)
Egal, solange wir dann morgen wieder alle zusammen auf die Moslems zeigen können, die, weil ja kein Luther und keine Aufklärung, immer so schnell beleidigt sind, ist noch alles gut.

Ich gebe das hier nicht nur wieder als Momentaufnahme aus den gegenwärtigen Vorhautkriegen. Ich könnte – müsste – eigentlich froh sein, scheint doch das Kölner Urteil zur Beschneidung eines muslimischen Jungen, das die religiös begründete Zirkumzision als Körperverletzung kriminalisiert, meine wiederholt – auch hier – vorgetragene Ansicht zu bestätigen, dass sich Juden mit Islam-Feinden nicht gemein machen dürfen. Gestern wurden Burkas und Minarette verboten, heute sind es die koschere bzw. Halal-Schlachtung und die rituelle Beschneidung, morgen vielleicht der intolerante Koran und die blutrünstige Torah.

Eine sich als wild gewordener Säkularismus tarnende christlich-intolerante antisemitische und islamophobe Leitkultur schickt sich an, den Multikulturalismus – den auch so mancher jüdischer Islamfeind mitsamt anderen 68er- und Gutmenschenklumpatsch gern entsorgt hätte – endgültig abzuschaffen. So könnte man versucht sein, das Urteil zu lesen.

Allein, es geht nicht, so sehr mir diese Lesart eine gewisse Genugtuung verschaffen würde.

Und zwar deshalb nicht:

Verteidigt man das Recht einer Frau, die Burka zu tragen – oder eines Mädchens, ein Kopftuch zu tragen, was an Frankreichs öffentlichen Schulen bekanntlich verboten ist –, so verteidigt man ein individuelles Freiheitsrecht, das sich aus Grundgesetz Artikel 1,1 (Menschenwürde) und 2,1 (Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit) ableitet.

http://www.bundestag.de/dokumente/rechtsgrundlagen/grundgesetz/gg_01.html

Nun behaupten die Gegner von Kopftuch und Burka, diese Kleidungsstücke trügen die Frauen und Mädchen nicht aus freien Stücken; sie seien Ausdruck ihrer Unterwerfung unter die Männer der Familie und ihrer patriarchalischen Ideologie. Es sei also die Pflicht des säkularen Staats, diesen Frauen zur Emanzipation zu verhelfen und andere Frauen vor dem von diesen Kleidungsstücken ausgehenden Gruppendruck zu schützen.

Bekanntlich unterstütze ich diese Position, wie sie in Deutschland besonders von einigen Feministinnen und von türkischen Vertretern eines aggressiven, kemalistischen Laizismus vertreten wird, nicht. Ich akzeptiere zwar, dass manche, wahrscheinlich sogar sehr viele muslimische Frauen das Kopftuch nicht als Ergebnis eines herrschaftsfreien Diskurses im Habermas’schen Sinne tragen; aber ich halte es nicht für die Aufgabe des demokratischen Rechtsstaates, die Bürgerrechte davon abhängig zu machen, dass man sie als Ergebnis eines richtigen Bewusstseins wahrnimmt. (Ich würde ja einem 15-jährigen Mädchen auch nicht staatlicherseits verbieten wollen, einen Minirock zu tragen, auch wenn ich annehme, dass sie es tut, weil sie dem Druck der Gleichaltrigen folgt, die ihrerseits den männlichen Blick auf die Frau als Sexualobjekt internalisiert haben. Wenn aber die Eltern dem Mädchen den Rock verbieten – und das Kopftuch verordnen – wollen, so ist das ein Konflikt, der innerhalb der Familie ausgetragen werden muss.)

Die Gedanken sind frei, oder sollten es doch sein.

Würde die Bundesrepublik Deutschland im Namen der  Religionsfreiheit – also der freien Religionsausübung, wie sie in Artikel 4,1 und 4,2 garantiert ist – den muslimischen Eltern, Brüdern, Männern, Imamen usw. das Recht einräumen, ihren Frauen das Kopftuch (oder die Burka) zu verordnen, so würde sie dadurch das individuelle Recht der Frau, das zu tragen, was sie will, im Namen eines Kollektivrechts außer kraft setzen.

Die Grundrechte – auch und gerade jene der freien Religionsausübung – sind aber eben nicht Kollektivrechte, sondern Individualrechte, und niemand hat das Recht, sie einzuschränken. Würde man dem Islam mit der Begründung, hier herrsche „Religionsfreiheit“, das Recht einräumen, seinen Frauen das Kopftuch zu verordnen, so würde man ein Sondergesetz für islamische Frauen und Mädchen schaffen und erklären, für sie gelte das Grundgesetz in Teilen nicht.

So würde aus einem Gesetz, das „Religionsfreiheit“ garantiert, in Wirklichkeit ein Gesetz, das Angehörige einer bestimmten Religion diskriminiert und unfrei macht. Wohlgemerkt: der Islam kann ja fordern (was er ja nicht tut), dass sich Frauen verhüllen. Er hat auch das Recht, das zu fordern. Aber Frauen und Mädchen haben hierzulande ein Recht, sich dagegen zu wehren, wenn sie wollen. Und sie können sich dabei auf unser Grundgesetz berufen.

Analoges gilt für die Beschneidung, das ja im Wortsinn das Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit viel einschneidender verletzt als eine von den Eltern verordnete Verhüllung, weil sie schmerzlich und unwiderruflich ist. Würde man, wie die Bundesregierung es vorhat, den Religionsgemeinschaften ein Recht auf Beschneidung ihrer Kinder einräumen, hieße das eben nicht, dass man gegen eine vermeintliche Diskriminierung von Juden und Muslimen vorgeht, wie sie durch das Kölner Urteil entstanden sei.

Im Gegenteil. Man würde die Grundrechte aus Artikel 1 und 2 für männliche muslimische und jüdische Kinder in Teilen außer Kraft setzen. Man würde muslimische und jüdische Kinder diskriminieren. Ich wüsste nicht, woher die Bundesregierung das Recht nehmen sollte, das zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Bundesverfassungsgericht ein solches Lex Iudorum passieren lassen könnte.

Apropos Bundesverfassungsgericht: Wie ich der Zeitung entnehme, will das BVerfG erst im September über ESM und Fiskalpakt entscheiden. Das ist ein Schlag ins Gesicht des Bundespräsidenten, der bei seinem Antrittsbesuch in Brüssel vorlaut erklärt hat, er sehe nicht, dass unser oberstes Gericht der Regierung bei ihren Euro-Plänen irgendwelche Schwierigkeiten machen würde.

Anstatt in sich zu gehen, gibt Joachim Gauck die Ohrfeige weiter: Die Kanzlerin, so ließ er sich vernehmen, habe es versäumt, dem Volk ihre Europa-Politik zu erklären. Hallo? War das nicht der Mann, der vor seiner Wahl erklärte, er begreife sich als Politikerklärer und Demokratielehrer? Wieso erklärt er dann nicht, weshalb Fiskalpakt und Stabilitätsmechanismus sein müssen und der Demokratie nicht schaden? Und warum nimmt der Ex-Pastor das Kölner Urteil nicht zum Anlass, Grundsätzliches zum Verhältnis von Staat und Religionsgemeinschaften, individuellen Grundrechten und kollektiven Sonderrechten zu sagen? Ist der Lehrer schon jetzt am Ende des Lateins? Kann er nur Grundkurs Demokratie, nicht Leistungskurs? Es sieht so aus.

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69 Gedanken zu “Vorhautkriege;”

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    @ Roland Ziegler

    Ich stimme Ihnen zu, dass das Judentum kein besonders hervorgebener Stein des Anstosses war – aber jedoch auch kein minderer. Meine Argumentation hat sich gegen die antiaufklärerische Haltung eines Hannes Stein gerichtet, für den das primäre Merkmal einer Person/einer Theorie die Haltung zum Judentum/Juden ist, die Gretchenfrage unserer Epoche „Sach mal, wie hälst Du´s mit den Juden?). Der gute Mann würde gerne eine Index aufstellen.

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    …ansonsten muss ich widersprechen, dass das Judentum für die Aufklärer ein besonderer Stein des Anstoßes gewesen wäre; es war ein normaler Stein wie jeder andere. Im Fokus der Aufklärer stand viel mehr das Christentum, als Kulminationspunkt dieser Konrontation kann m.E. Nietsche gelten. Die Konfrontation mit dem Christentum fand aber auch schon z.B. bei Kant statt, in der Kritik der reinen Vernunft (ich möchte allen religiösen Kantianern, die so gerne die „praktischen Vernunft“ lesen, die fundamental-agnostischen Betrachtungen aus der „reinen Vernunft“ empfehlen…)

    Wie dem auch sei, Aufkärung richtet sich auch heute noch gegen die ungebührliche Ausdehnung der Religion auf Felder, auf denen sie nichts zu bestellen hat.

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    @Lyoner: Mit „falsifiziert“ meine ich die pseudowissenschaftlichen Spielarten, die so tun als wären sie Aufklärung. Bei denen die Menschen in Rassen unterteilt und mit unterschiedlichen Eigenschaften ausgestattet werden, nicht weil man an der Biologie des Menschen, d.h. an der Erkenntnis interessiert wäre, sondern um sich abzugrenzen. Ich meine, dies ist aus heutiger Sicht eine falsifizierte Wissenschaftssimulation.

    Daneben gibt es diverse andere Spielarten, die nicht im Gewand der Aufklärung daher kommen, sondern einfach irgendwelche gruppenbezogenen Behauptungen aufstellen, ohne dabei den Anspruch zu erheben, wissenschaftlichen Kriterien zu genügen. Das können unmittelbare Phobien (mit oder ohne realem Kern) sein, Denk- bzw. Sprachreflexe aus dem Stammhirn bzw. Rückenmark, unaufgeklärte Traditionen, verallgemeinerte Antipathien, primitive Welterklärungen, religiöse Konkurrenzen – alles Mögliche emotionaler Natur.

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    Alan Posener schreibt „Moralisch steht das Judentum, das keine Proselyten macht und politischen Quietismus predigt, himmelhoch über Christen und Muslimen, die mit Feuer und Schwert den Menschen die Glückseligkeit bringen wollten, Gottesstaaten errichtet und sich überdies gegenseitig abgeschlachtet haben.“

    Ach ja, und deshalb hat wohl Israel die moralischste Armee der Welt mit den „reinsten Waffen“, das menschenfreundlichste Besatzungsregime seit Erschaffung der Welt und die rechtschaffenste Siedlungspolitik der Welt.

    Alan Posener brauchte wohl keine Sekunde, um diese Behauptung zu überlegen, die kommt tief aus den guts; klingt ja auch total plausibel. Und hier im Kommentariat haben das bisher alle geschluckt ohne einen Mucks zu geben. Also sind alle hier einverstanden?

    Ich möchte dem eine Alternativhypothese entgegenstellen: Der Grad von Moralität im Vergleich Poseners ist korreliert der Verfügung oder Nichtverfügung über die Machtpole. Stellen wir uns die Juden am Machtpol vor: schauen Sie ins Alte Testamenent respektive Tora, von Josua bis Esra, natürlich ist das im Namen des Herrn. Heute: nehmen Sie den „gesetzestreuen“ Levy-Report (http://www.haolam.de/index.php.....38;id=9656, haolam.de ist eine deutsch-israelische Publikation, die die Agenda der Siedlerbewegung und der jetzigen Administration vertritt) zur Kenntnis und versäumen Sie nicht, die hochmoralischen, moralisch skrupulösen Überlegungen zum nuklearen Erstschlag, die uns der kluge Hannes Stein vorgestellt hat (http://www.welt.de/kultur/hist.....ehren.html), zu studieren. Nun ja, hier wird die Erde geheiligt und der Name des Herrn gesegnet, deshalb sind die Juden den Goyim haushoch, Entschuldigung „himmelweit“ überlegen, eine andere Spezies. Umgekehrt wäre das Christentum hypothetisch eine verfolgte unschuldige Gemeinde von Märtyrern geblieben – und höchstwahrscheinlich als eine jüdische Sekte untergegangen, wenn es nicht zur römischen Staatsreligion erhoben worden wäre, damit an den Machtpol gekommen wäre.

    Ich habe den Levy-Report und die Überlegungen Hannes Steins auf meinem Blog kommentiert; wer Interesse hat, kann sich dort kundig machen.

    Mit Verlaub – dieser Bias „himmelweit überlegen“ verbunden mit Selbstgefälligkeit und Arroganz, geht wohlmeinenden Goyim auf den Sack. Die Unterschiede in Sachen Moralität werden wohl im Bereich allzumenschlicher Varianz liegen.

    @ Roland Ziegler

    Chapeau zu den Überlegungen, die Sie zu Hannes Steins „Aufklärung der Aufklärung“ beisteuern. An einer Stelle will ich nachfragen; Sie schreiben

    „Und aus heutiger Sicht darf man hinzufügen, dass die Versuche von Aufklärern und solchen, die es werden wollten, auf den multiplen Gebieten des Antisemitismus in jeder Hinsicht falsifiziert sind.“

    Finden Sie es zulässig, den Terminus „Antisemitismus“, der im 19. Jahrhundert geprägt wurde, zu verallgemeinern und auf historisch vorhergehende Kritik am Judentum anzuwenden? Was meinen Sie mit „in jeder Hinsicht falsifiziert“? Wodurch, wieweit? Sehen Sie das vom „Ende“ her, sub specie Holocaust?

    Ich habe Aufklärung als eine Emanzipation des rationalen Denkens, so unzureichend und schwach es oft ist, von prärationalen Denksystemen, so überzeugend und mächtig sie immer noch sind, verstanden. Warum sollte z.B. Voltaire mit seiner Devise „Écrasez l´infame“ das Judentum aussparen? Waren für die Aufklärer von Voltaire über Kant bis zu Christopher Hitchens nicht die Sittenwidrigkeiten und Gewalttätigkeiten der monotheistischen Religionen, die im Judentum ihren Ursprung haben, ein Stein des Anstosses und haben sie sich nicht an der historischen und philosophischen Anomalie oder Singularität des Judentums, die dem rationalen Denken nur schwer bzw. nicht zugänglich ist, gestossen? Wer keinen Verstand einsetzen will, wird auch nicht irre.

    In unserer Epoche werden alle judenkritische Äußerungen von Adam bis Möllemann in dem siebenbändigen Handbuch des Antisemitismus von Wolfgang Benz gesammelt; antisemitisch sind sie unabhängig von den Kontexten, in denen sie geäußert wurden. Genial wie immer hat das der Urmeter in Sachen Antisemitismus auf den Punkt gebracht:

    „Zunächst einmal hat der Antisemitismus wenig mit Juden und gar nichts mit deren Verhalten zu tun. … Was auch immer der Jude tut (oder unterlässt) , der Antisemit macht ihm das zum Vorwurf. Deswegen nutzt es nichts, wenn der Jude sein Verhalten ändert, um dem Antisemiten entgegen zu kommen… Basiert der Antisemitismus also auf hysterischen Ängsten, Erfindungen, Projektionen und Neidgefühlen, haben die Xenophobie, Islamophobie, Arachnophobie, Agoraphobie e tutti quanti eine reale Basis.“

    Jedes Vorurteil, jede Phobie hat ihren realen Kern, nur nicht ein Vorurteil über Juden. M.E. sind wir damit im Stadium der Gegenaufklärung. Und das ist ein nicht unerheblicher Kollateralschaden des Holocaust.
    Gegenaufklärung

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    j.m.backhaus
    „Wer es nicht verdaut, Gott als evolutionäre Idee zu verstehen, sollte so gesehen bestimmte anspruchsvollere Gedanken der Aufklärung oder der Philosophie meiden..“
    Die Konflikte liegen in den Schnittmengen zwischen meinen „Schubladen“ bzw. den Kompetenzüberschreitungen von Religion und Wissenschaft. Eine Neurobiologie, die z.B. den Menschen die Willensfreiheit abspricht oder Benedikt XVI. der irgendwann vom katholischen Glauben als einer „physikalischen Religion“ (er meinte wohl das Naturrecht) sprach.
    Per Zufall gerade gefunden:

    „Ein atheistischer Wissenschaftler stellt Thesen auf, die der kirchlichen Lehre widersprechen, und die Kirche weist sie vehement zurück; ein theistischer Forscher stellt Thesen auf, die der wissenschaftlichen Lehre widersprechen, und die Wissenschaft weist sie vehement zurück. Bisher resultierte aus solchen kulturellen Kollisionen mehr Hitze als Licht.“

    Klar, die Kirche (die Religionen) haben immer versucht, mit Gott die Welt zu erklären, aber vor allem zu Zeiten, wo es eine so entwickelte und eigenständige Wissenschaft, wie heute noch gar nicht gab und vor z.B. die Scholastiker waren alles andere, als dumpf. (Aber eben nicht ergebnisoffen.)
    Es geht letztenendes bei dem Streit nur um die Deutungshoheit, den Machtanspruch. Ich plädiere auch hier für Pluralismus.
    Wogegen ich also hier und eben auch bei diesem Thema anschreibe, ist die Anmaßung vieler Wissenschaftsgläubiger, die leider vergessen, daß jede ernsthafte wissenschaftliche Theorie irgendwann durch eine Erweiterung platzt, wenn sie das (religiöse) Bad samt Kind darin ausschütten.

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    @ KJN: [ „Religion ist z.B. Meditation, Kultur – Wissenschaft ist Handwerk, Kalkül.]

    Zu Ihren Schubladen kann man Ihnen ja nur gratulieren, passen Sie nur auf, dass Sie keine verwechseln.
    Zu Zeiten Lockes oder Kants, ging man meines Wissens davon aus, dass „Moral“ dass Maximum an verstandesgemäßem Gebrauch des Geistes darstellt, dh. was menschliches Selbstbewusstsein und die Vorstellung von der eigenen Freiheit „maximal“ zu leisten vermag (Ideen vom menschlichen Wesen, moralische Maßstäbe, praktische Vernunft als Sozialwissenschaft. Adrenalin spielte aber wohl bereits seit Einführung von Staatsreligionen eine Rolle). Die Systeme der Philosophen und Religionsstifter, Aristoteles, Epikur, Augustinus, ua. haben sich eigentlich weniger um Meditation bemüht, wenn man von einigen Namen im Mittelalter absieht, zB. Meister Eckehart, als um praktische „Sozialhygiene“. Die Religionsstifter („Schriftgelehrten“), waren durchweg, modern gesprochen, Anthropologen, die das individuelle und soziale Wohl nach ihren „universalen“ Prinzipien oder Erfahrungen gestalteten und damit auf mehr oder weniger Zuspruch trafen (und gegenwärtig eher weniger treffen). Wer es nicht verdaut, Gott als evolutionäre Idee zu verstehen, sollte so gesehen bestimmte anspruchsvollere Gedanken der Aufklärung oder der Philosophie meiden, auch wenn diese oft nicht mehr ganz taufrisch sind. Ihre Gültigkeit behaupten sie zumindest in der Welt der geistigen Disziplinen, die nicht durch Dogmen, Historismus, Offenbarungen oder Aberglauben dominiert werden. Meditation mag ja einem ausgewogenen Blutdruck förderlich sein, eine Erkenntnis der Struktur des menschlichen Geistes und seiner Produkte liefert sie allerdings nicht, auch wenn die Spontanität des Verstandes im allgemeinen nicht darunter leidet.

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    @KJN: So kann man das sehen, und es gibt ja auch viele spirituelle Wissenschaftler (allerdings sind die i.d.R. nicht orthodox-religiös). Solange die Religionen sich auf die spirituelle Sphäre beschränken, gibt es keine Probleme. Die Aufklärung ist bzw. war in ihren Anfängen sehr auf die Religion bezogen, weil die Religion in Bereichen dilettierte (bzw. die Theorie diktierte), in denen sie nichts zu suchen hat. Z.B. bei der Frage, ob die Erde und – als vermeintlicher Herrscher der Erde der Mensch – Mittelpunkt des Universums ist oder nicht. Und so ganz überwunden ist dieser Dilettantismus noch immer nicht. Ich habe neulich mal dem Theologen Hans Küng zugehört. Der ging wie selbstverständlich davon aus, dass unsere Erde der einzige Planet ist, auf dem vernunftbegabte bzw. seelenvolle Wesen wohnen. Warum glaubt er das? Weil ihm die Bibel in diese Richtung hindeutet. Zumindest muss ich das unterstellen, weil die Astronomie de facto genau in die entgegengesetzte Richtung deutet. Ein Exoplanet nach dem anderen wird entdeckt, darunter auch erdähnliche Planeten in der „bewohnbaren Zone“, in der Wasser flüssig ist. Planeten mit einer Sauerstoffatmosphäre wurden noch keine gefunden, aber wir können sowieso nur in einem verschwindend winzigen Bruchteil des Universums überhaupt nachsehen. Und auch prozentual sehr seltene Ausnahmen, wie unsere Welt, müssten eigentlich in Myriaden anderer Fälle auch vorkommen, weil es so unvorstellbar viele gibt. Der Mensch rückt aus dem Mittelpunkt der Schöpfung an den Rand einer gewöhnlichen Milchstraße. Den Religiösen ist diese Tatsache unangenehm, sie steht nicht in ihren Büchern; sie schütteln die Köpfe und verlangen unerschütterliche Beweise, und bevor die nicht vorgelegt sind, wird aus den heiligen Texten auf die Welt geschlossen und an das Gegenteil geglaubt.

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    „Dem Menschen sollte man zwei Dinge wegnehmen: Den Alkohol und die Religion!“ Benito Juarez (1809-1872), Praesident Mexikos welcher den Krieg gegen Oestreich-Frankreich 1862-67 gewann und den Erzherzog Maximillian von Hapsburg fuesilieren liess. Juarez war Zapotec Indianer welcher erst als Jugendlicher die nationale Sprache, das Spanisch gelernt hatte. Spaeter studierte er Jura und wurde Politiker.

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    @ Roland Ziegler
    „Aufklärung ist kein heiliger Prozess, kein Aufbruch ins Reine, Schöne, Gute, sondern zunächst nur ins selbständige Denken.“

    @derblondehans
    „..nix zu leugnen“

    Ich fände es gut, bzw. der allgemeinen Diskussion um Aufklärung, aber auch hier speziell beim Thema, förderlich wenn man akzeptieren könnte, daß Religion und Aufklärung verschiedene Tätigkeiten sind.
    Religion ist z.B. Meditation, Kultur – Wissenschaft ist Handwerk, Kalkül.
    Um es neurobiologisch auszudrücken (ich muß mich dazu überwinden): 2 verschiedene neuronale Erregungszustände oder elektrochemisch und biochemisch stabile Zustände.
    Um es psychologisch auszudrücken: 2 verschiedene Affektzustände.
    Um es spirituell auszudrücken: 2 verschiedene von Gott gegebene Fähigkeiten.

    In beiden Zuständen sind in der Vergangenheit und werden auch in der Zukunft mehr oder weniger gravierende, vielleicht wieder sehr existentielle Fehler gemacht werden.

    @derblondehans, ich nehme an, mit dem Hinweis auf das bis heute andauernde Quartär spielen Sie auf Demut an? Ich habe, glaube ich, kein Problem damit.

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    KJN: Im Ernst: Sie wollen jetzt nicht wirklich leugnen, wie die Kirche den Machtfaktor “Wahrheitsanspruch” verteidigte?!

    … zunächst Mel Brooks. Lustig – wer ihn mag. Ich habe nix zu leugnen. Wussten Sie eigentlich, das vor etwa 2,6 Millionen Jahren das jüngste Eiszeitalter, das Quartär, begann und bis heute andauert?

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    Zu Hannes Steins „Aufklärung der Aufklärung“: Ich denke da liegt ein Missverständnis darüber vor, was Aufklärung überhaupt ist. Aufklärung ist kein heiliger Prozess, kein Aufbruch ins Reine, Schöne, Gute, sondern zunächst nur ins selbständige Denken. Das kann auch, wenns schlecht läuft, furchtbar sein, verbrecherische Züge annehmen. Aufklärung ist ein risikoreiches Projekt, und wenn man garantiertes Glück bevorzugt, sollte man lieber einen religiösen Weg gehen.

    Leute, die sich um das Projekt der Aufklärung verdient gemacht haben, wie z.B. Voltaire oder Kant, können dementsprechend auch antisemitisch oder verbrecherisch gewesen sein; das schließt sich nicht aus. Sogar ein Schwerverbrecher kann Wissenschaft entscheidend voran bringen; man kann Mörder und Mathematiker zugleich sein. Jemand macht sich um die Wissenschaft verdient, wenn er auf einem bestimmten Gebiet gewissen intellektuellen Kriterien genügt. Wenn er ansonsten ein Arschloch ist, tut das diesem Verdienst keinen Abbruch.

    Unterm Strich heißt das, dass die Aufklärung sich um einen Erkenntnisprozess bemüht, der zu Technik und theoretischer Erkenntnis führt. Die Bilanz der Wissenschaften ist beeindruckend und spricht nicht für ein angefaultes Denken. Und aus heutiger Sicht darf man hinzufügen, dass die Versuche von Aufklärern und solchen, die es werden wollten, auf den multiplen Gebieten des Antisemitismus in jeder Hinsicht falsifiziert sind. Was wir also betrachten, wenn wir antisemtische Aufklärer uns vorknöpfen, sind Irrtümer. Aufklärung ist voll von Irrwegen, aber dennoch nicht selber mit einem Irrweg zu verwechseln.

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    @derblondehans
    In katholischen Ländern, wie Spanien und Italien, wurde keine einzige ‘Hexe’ verfolgt.
    „Hexen“ vielleicht nicht, aber „Häretiker“, „Juden“ klingt ja so ähnlich, zumindest am Anfang.
    Im Ernst: Sie wollen jetzt nicht wirklich leugnen, wie die Kirche den Machtfaktor „Wahrheitsanspruch“ verteidigte?!
    Vielleicht auch heute noch – über den säkularen (altgermanischen) Arm – womit wir ja auch wieder beim Thema wären.
    Geschichtunterricht extra für Sie

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    Schön Herr Posener, dass auch Sie(!) das Thema mutig aufgegriffen haben. Was hinter dem „religiösen“ Eifer steht, neugeborene Jungen beschneiden zu müssen, ist die (aus meiner Sicht anmaßende) Annahme, dass männlichen Babies, weil sie noch nicht die Individuierung als Person durchlaufen haben, wie einem herrenlosen animalischen Gegenstand, ein Zeichen des Besitzes verpasst werden müsste. Das Kriterium, menschliche Erscheinung bzw. Gestalt, ist offensichtlich nicht hinreichend um seine Existenz, als künftigem Glied der menschlichen Gesellschaft, ohne verletzenden Eingriff akzeptieren zu können. (Die Auszeichnung von Ware erfolgt ebenso durch Kenntlichmachung seiner Bestimmung als verwertbares Gut.) Das wesentliche Argument für die Rechtmäßigkeit der Beschneidung an Neugeborenen, ist also das Fehlen dessen, was man als „Person“ (Seele) bezeichnet, ansonsten wäre das Beschneiden beliebiger älterer Jungen oder Männer auch kein Straftatbestand? Wenn das Kriterium „Person“ so wesentlich für die Zulässigkeit von (aus meiner Sicht) anmaßender Körperletzung ist, kann sich diese Überlegung leicht gegen jeden verkehren, dessen „Person“ in Absprache steht oder gestellt wird. Es scheint deshalb einfach sinnvoll, nicht auf die Person abzustellen, sondern auf die ästhetische Erscheinung, die den Neugeborenen bereits ihre Zugehörigkeit zur Spezies Mensch sichert und somit auch die Voraussetzung ihrer Religionszuhörigkeit impliziert, zumal ihre Eltern ein beredtes Zeugnis ihrer Religionszugehörigkeit ablegen könnten, und von ihrer Konfession dazu verpflichtet werden könnten in diesem Sinn zu erziehen. (Soll mit „vorhautlichen Auspreisung“ eventuell ein Erziehungsgebot festgeschrieben werden?) Wer einer, der Zeit angemessenen rechtlichen Würdigung der Fakten kategorisch aus dem Weg geht, kann heute allerdings nicht recht ernst genommen werden und wird wohl auch künftig eher sein Dasein am Rande entwickelter kultureller Evolution verbringen? In dieser anarchischen Haltung der Religionswächter verbirgt sich nicht zuletzt auch eine Verachtung der genetischen Erscheinung, wie sie der Züchter einer bestimmten Spezies im Blick haben könnte, der ein bestimmtes Merkmal durch Abschneiden anstrebte. Dass die quasi „religiösen“ Beschneidungsanliegen deshalb nicht auf viel Gegenliebe bei aufgeklärten Geistern hoffen kann, bringe ich hiermit gerne zum Ausdruck. Die Würde des Menschen kann sich nicht nur in seiner Befähigung zu moralischem Handeln ausdrücken, sondern sehr wohl auch in seinem Empfinden für natürliche Ästhetik, auch wenn dies im Zeitalter von Tattoos und Piercing etwas obsolet zu sein scheint. In diesem Sinn meinen Dank für Ihren Beitrag, der auch in gewisser Weise Hoffnung macht, wie die zitierte Email belegt.

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    @derblondehans
    so ist es, die Aufklärung, besonderes der wissenschaftsgläubige Teil davon, gehört mittlerweile auch aufgeklärt.
    Wo wir beide ja jetzt bereits jetzt das zweite Mal einer Meinung sind: „SOZIALISTISCHE“ Grüße 😉

    @Alan Posener
    Toller Artikel über die Higgs-Bosonen. Was Ihre Ahnung von Teilchenphysik betrifft, so vermute ich, daß auch keiner der Teilchenphysiker wirklich Ahnung davon hat, was sich hinter den Messwerten nach Teilchenkollisionen im Cern verbirgt, die mit Hilfe solcher Begriffe, wie „quark“, „up“, „down“, „charming“ sortiert werden. So ist das nun mal mit der Grundlagenforschung. Ich bin mal gespannt auf die Namen der neu postulierten Teilchen, die von der Physikergeneration vergeben wird, die es gewohnt ist, die Tastatur vor dem Bildschirm mit Pizza voll zu krümeln: cheesy, squeeze etc.
    Irgendwie auch ein Beitrag zur Wissenschaftsgläubigkeit?

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    j.z.v.Die Katholische Kirche hat viele tausenden durch die Inquisition in Lateinamerika verbrannt: Juden, Indianer, Protestanten.

    … nun ja, das nehme ich Ihnen ohne Quellenangabe nicht ab. Zur ‚Dummheit‘ von Lateinamerikanern, wie Sie es selber weiter oben schreiben, kann ich nix schreiben.

    Aber Fakt ist, der Hexenwahn war kein ‚katholischer‘, sondern ein altgermanischer Aberglaube, der nach dem Rückgang des Glaubens, Luther lässt grüßen, in Deutschland wieder auflebte.

    Die Hexenverfolgung wurde von weltlichen Gerichten, nicht ausschließlich, aber überwiegend in protestantischen Regionen ‚praktiziert‘. In katholischen Ländern, wie Spanien und Italien, wurde keine einzige ‚Hexe‘ verfolgt.

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