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Die Qualen der Wahlen

Der Wähler ist dumm und frech. Dumm, weil er unsinnig wählt, und frech, weil er trotzdem vernünftig regiert werden will. Die Erkenntnis stammt im Kern von dem Banker Carl Fürstenberg. Er hat gesagt, der Aktionär sei dumm und frech. Dumm, weil er Aktien kauft, und frech, weil er dann noch eine Dividende haben will.

Die Wahlergebnisse sollten Puzzle-Steine sein, die nach der Wahl zusammengelegt ein klares Bild vom Wählerwillen ergeben. Aus den Stimmen der Vielen wird ein Volkswille, idealerweise das Gemeinwohl, jedenfalls ein klarer Auftrag des Souveräns an seine Abgeordneten. Das ist die Theorie.

In der Praxis bricht sich die Politik beide Arme bei dem Versuch, aus bescheuertem Wahlverhalten handlungsfähige Regierungen zu bilden. Wir erleben etwas, für das die Demoskopen einen neuen Begriff haben: die Fragmentierung der Stimmen. Man kennt das vom Turmbau zu Babel.

as Übel liegt an der Wurzel: Wir haben allgemeine, unmittelbare, freie, gleiche und geheime Wahlen. Zu deutsch: Jeder Idiot darf selbst und ohne Kontrolle auf dem Wahlzettel anstellen, was er will. Und es gibt breite Kreise, die ihr Recht auf Dummheit auch tatsächlich in Anspruch nehmen.

Einer der Vorzüge der repräsentativen Demokratie gegenüber einer direkten Volksherrschaft liegt darin, dass die Deputierten sich, sobald sie im Mandat sind, nicht mehr an den Wählerwillen halten. So kann man wenigstens den gröbsten Unsinn anschließend  verhindern.

Ferner hilft ein kompliziertes Wahlsystem. Zum Beispiel die Vermischung von Mehrheitswahlrecht und Verhältniswahl mit der segensreichen Institution der Überhangmandate. Die sind zwar nicht so ganz verfassungskonform, aber haben schon geholfen, die Erfolge einzelner Politiker vor Ort insgesamt wieder ins rechte Lot zu bringen.

In meiner Wahlheimat London ist gerade gewählt worden. Und die Welt war in Ordnung. Es war eine wirkliche Freude. London erlebte einen Lagerwahlkampf. Freiheit oder Sozialismus. Hier war noch nichts fragmentiert, sprich die Welt in Ordnung. Upstairs, downstairs, so heißt das hier.

Es gab einen linken Kandidaten, einen gelernten Trotzkisten aus den proletarischen Vororten, der die Sozi-Rezepte der sechziger Jahre noch nicht ganz vergessen hatte und die Segnungen von Old Labour versprach. Ken Livingston, der Held der Armen und Geknechteten, der Migranten und Transfer-Empfänger. Er riecht wie Müntefering nach Pfefferminz und billigem Rasierwasser und ein wenig nach Bohnerwachs und Arbeitsamt. Aber Ken ist eine ehrliche Haut, na ja, dazu später mehr.

Und es gab aus Eton den konservativen Boris Johnson. Ein spleeniger Kerl mit blonder Wuschelfrisur, respektablem Übergewicht und wirtschaftsliberalen Ansichten. Boris ist Kult. Er versprach für die nächsten vier Jahre 200.000 neue Jobs in London, insbesondere für die jungen Londoner. Er will einen neuen Flughafen bauen, auf einer Insel in der Themse. Boris ist, was man hier posh nennt, bürgerlich im sozialen Sinne, ein lustiger Bourgeois.

Ken, der parfümierte Arbeiterführer, wurde in seinem Wahlkampf von unschönen Spesen- und Steuerthemen erwischt. Handgenähte Schuhe auf Budgetkosten, weil er zum Wirtschaftsgipfel nach Davos musste. Ein Absahner aus den Vorstädten. Er hat verloren. Und ich finde, obwohl ich seiner Partei angehöre, er hat zurecht verloren. Ken war Vergangenheit. Old fishermen don’t die, they just smell like it.

Das ist das Dilemma: Soziale Herkunft oder Parteizugehörigkeit bestimmen nicht mehr das Wahlverhalten, jedenfalls nicht vollständig. Ich bin in der SPD und habe seinerzeit Merkel gewählt, weil ich Müntefering & Schröder loswerden wollte. Die SPD kriegt jetzt meine Stimme, wenn sie Gabriel aufstellt; kommen die mit einem der Stones als Kanzlerkandidaten, werde ich FDP-Wähler. Ich kenne eiskalte Investmentbankerinnen, die grün gewählt haben. Junge-Union-Eleven wählen womöglich die Piraten. Und die Hälfte aller Wahlberechtigten geht gar nicht mehr wählen.

Mit der Fragmentierung der Stimmen kommen zunehmend kandidatenbezogene Kriterien in das Wahlverhalten. Wir wollen Stars, jedenfalls keine Langeweiler. Obama war einfach geil; so geil, dass Ken Livingston in London immer von sich und Obama sprach. Hat nicht geholfen, weil er in der südlondoner Tonlage eines Shop Stewart pöbelte, während Boris eine feine Ironie à la Oxbridge pflegte. Ästhetisierung der Politik. Gesetze der Unterhaltungsindustrie. Großes Kino.

Nun könnte man das Wahlrecht einschränken. Apartheits-technisch. Nur noch die Schlauen wählen, und die Doofen gucken RTL. Weniger banal nennt sich das die Hoffnung auf eine Philosophenherrschaft oder Epistokratie. Das ist das, was Helmut Schmidt heute vertritt, obwohl er zu Amtszeiten nichts weniger war als ein Philosoph. Aber wissen die schwätzenden Eliten („chatting classes“), dass sie keine Philosophen sind?

Die Epistokratie oder Eliten-Herrschaft hilft nicht, weil sie natürlich nicht wirklich funktioniert und sofort zur Diktatur verkommt. Das ist ja das Unglück, dass die Doofen eben dies von sich selbst nicht wissen, sondern sich für schlauer als den Rest halten. Eliten ernennen sich selbst. Das ist politisch gefährlich. Es muss also bei allgemeinen, freien, unmittelbaren, gleichen und geheimen Wahlen bleiben.

Der gute alte Kant: „Dass Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten und auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“ An der Macht würden die Schlauen dumm und frech. Und dann sind wir wieder, wo wir eingangs schon waren.

 

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8 Gedanken zu “Die Qualen der Wahlen;”

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    Vielleicht killt Hollande den Euro, das wäre doch mal was. Aber die Deutschen (die ewigen Nazis), werden zahlen und zahlen und zahlen …

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    Diesen link, Herr Kocks, empfehle ich, mit Kommentaren zu lesen. Und ich glaube nicht, dass Sie FAZ-Leser als „doof“ einordnen würden oder als RTL-Gucker:
    http://www.faz.net/aktuell/wir.....43337.html

    Damit Sie nicht missverstehen: Es mag sogar sein, dass an Frau Merkels Konzept das eine oder andere richtig ist, aber dann muss man das genau erklären. Im Fernsehen, auch im griechischen Fernsehen. Statt dessen sahen wir eine Art Flirt zwischen ihr und Me. Sarkozy und ähnliche Schmuseszenen zwischen ihr und Barroso. Vielleicht dachten die drei wie auch die Medien, das käme gut. Aber das geht gaar nicht.
    Ich kenne viele Franzosen, low und middle class. Am Anfang habe ich Sarkozy noch verteidigt, doch das wurde immer weniger. Und eine Deutsche, die ihnen Politik vorschreibt, lehnen sie ab. Man muss das ernster nehmen, wenn ein Politiker Merkel mit Bismarck vergleicht. Eine so volksferne Politik wie Merkozy sie zusammen mit Brüssel und den meisten Medien betrieben haben, habe ich, glaube ich, noch nicht erlebt. Wie Vera Lengsfeld auf achgut ausrechnet, waren in S-H fast 100 000 CDU-Wähler nicht an der Urne, hochgerechnet natürlich. Chaos ist das nicht. Das ist entweder Apathie oder Kalkül.

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    Offen gestanden, Herr Kocks, ist doof eine Definitionsfrage. Man mag es „doof“ finden, was die Griechen machen und sich fragen, ob die Franzosen es richtig oder falsch gemacht haben. Was aber den Punkt Demokratie betrifft, bin ich hier mehr mit Augstein, der erwartungsgemäß jede Menge Haue kriegt. Aber wer Prügel bezieht, liegt oft richtig, z.B.hier:
    „Es ist nicht nur ein Stück der politischen Folklore, dass Frankreich das Land der Revolution ist. Kein europäisches Land hat eine solch lebendige Tradition des Protests. „La lutte permanente“, der ständige Kampf, ist Teil der französischen Zivilisation. In Frankreich hat sich historisch der Zentralstaat mit dem Volk gegen den Feudalismus verbündet. Dafür ist jetzt wieder die Zeit gekommen. Es ist kein Zufall, dass die Franzosen ausgerechnet jetzt einen Sozialisten in den Elysée-Palast gewählt haben. Von Frankreich wird jetzt ein revolutionäres Signal für ganz Europa ausgehen. Die neuen Feudalherren, gegen die es sich aufzulehnen gilt, sind die Bankiers. “
    http://www.spiegel.de/politik/.....31756.html

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    Non à un duopole franco-allemand:

    Für Französischsprachige:
    „Dans une interview au site Internet slate.fr, le président élu trace les grandes lignes de sa politique étrangère. Selon lui, le rapport franco-allemand a été trop «exclusif».“
    http://www.lefigaro.fr/interna.....lemand.php

    Für mich als überzeugtem Europäer mit Respekt für die übrigen Länder ist Hollandes Weg, die französisch-deutsche Dominanz zu verringern, der richtige, egal, was die überheblichen Märkte dazu sagen. Das Demokratiedefizit wie auch die Gefahr zunehmender Hostilität sind nicht zu übersehen.

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    Gucken Sie, Frankreich. Wie Sie sagen:
    „Eliten ernennen sich selbst. Das ist politisch gefährlich. Es muss also bei allgemeinen, freien, unmittelbaren, gleichen und geheimen Wahlen bleiben.

    Der gute alte Kant: „Dass Könige philosophieren oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten und auch nicht zu wünschen; weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“ An der Macht würden die Schlauen dumm und frech. Und dann sind wir wieder, wo wir eingangs schon waren.“

    Da gibt es etliche, die haben nicht Hollande gewählt, sondern Sarkozy (oft dumm, manchmal frech) einfach abgewählt. Außerdem haben sie abgewählt: Merkozy. Weiterhin: Sarkozy+Merkel+Trichet+Draghi+Monti+Barroso+van Rompuy, eine Art Verbindung. Die Franzosen haben ein genaueres Gespür für sich entwickelnden Faschismus als wir Deutschen. Obwohl ihre Wahl vielleicht nicht sinnvoll ist, muss man ihnen zu ihrem Feingefühl eindeutig gratulieren.

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    Warum nicht den neuen „Trend“ von USA nachahmen ? Fuer alle die Ersatz-AmeriKans in „Germany“ koennte das noch einen weiteren Schritt ermoeglichen zum „Anschluss“ anstatt nur „transatlantische Partnerschaft“! Wer up-to-date informiert ueber den „Partner“ sein sollte – wie Mr. Kocks und Kollegen in Starke Meinungen – alle mit gewissen Einfluss in mitteleuropaeischen Medien, kann sich im Internet unter dem Titel „new voters registration restrictions“ informieren ueber die neuesten Methoden gegen „democracy for everybody“. Das sind wieder Rueckfaelle in die Epoche vor 1964 in welcher nur die „Richtigen“ waehlen konnten. In Florida duerfen noch nicht einmal die unparteiischen Damen der „Women’s League of Voters“ – behinderte und arme Waehler ohne Autos, von Kirchengemeinden zu Wahllokalen transportieren. (Behinderte und Arme waehlen die „linken“ Democrats!). Die anonyme Finanzierung von Wahlkampagnen und politische Propaganda im Fersehen ist auch voellig legalistiert wurden durch den „Supreme Court“, welcher vorher noch geregelt hat dass „Aktiengesellschaften die gleichen Rechte haben wie Menschen“. Sicherlich koennen die Briten und Germans noch von diesen neuen Schamlosigkeiten der „transatlatischen Partner“ lernen.

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    „In meiner Wahlheimat London ist gerade gewählt worden. Und die Welt war in Ordnung. Es war eine wirkliche Freude. London erlebte einen Lagerwahlkampf. Freiheit oder Sozialismus. Hier war noch nichts fragmentiert, sprich die Welt in Ordnung. Upstairs, downstairs, so heißt das hier.“

    Dass das ein Zeichen von Wahl-Intelligenz ist, möchte ich aber auch sehr bezweifeln. Die Welt ist komplex und diese Komplexität per Wahlsystem auf ein updatirs/downstairs zu reduzieren, macht intelligente Politik praktisch genauso unwahrscheinlich wie das deutsche Wahlsystem.

    Demokratie ist nicht die Herrschaft des Volkes, sondern bloß die Möglichkeit, eine Regierung ohne Gewalt los werden zu können. Das ist nicht viel, aber, wenns darauf ankommt, unbezahlbar.

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