Es ist ein düsteres Gedankenexperiment – und doch ein aufschlussreiches: Was wäre gewesen, wenn es 1938 Facebook, TikTok, Telegram und YouTube gegeben hätte? Wenn der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich live als patriotisch unterlegte Story auf dem Reichs-Instagram-Kanal erschienen wäre, mit jubelnden Massen, dramatischer Musik und Kommentaren wie „Endlich wieder vereint!“ versehen? Wenn Hashtags wie #HeimInsReich oder #EinVolkEinReich getrendet hätten – verstärkt durch Bots, Algorithmen und staatlich orchestrierte „Influencer“, die sich für Klicks und Reichweite in den Dienst der Propaganda gestellt hätten?
Und später? Hätte sich die Inszenierung der „Zerschlagung der Rest-Tschechei“ 1939 als notwendiger Schutz deutscher Minderheiten verkauft? Hätte ein inszenierter Vorfall wie Gleiwitz die sozialen Medien geflutet mit kurzen, aufwühlenden Clips, die den Überfall auf Polen als Akt der Selbstverteidigung erscheinen ließen?
All das ist natürlich spekulativ. Und dennoch drängt sich der Vergleich auf, wenn man sich ansieht, wie perfide Desinformation im Jahr 2025 wieder salonfähig ist – diesmal nicht von Berlin aus, sondern aus Moskau. Oder aus Sankt Petersburg, wo Russland umfangreiche „Trollfabriken“ betreibt.
Der digitale Angriff auf die Wahrheit
Die Propagandamaschine des Kreml funktioniert heute so effizient, wie es sich Joseph Goebbels nur erträumen hat können. Mit professionell produzierten Videos, angeblichen Dokumentationen, gefälschten Zitaten westlicher Politiker und emotional aufgeladenen Schlagworten wie „Entnazifizierung“ und „Selbstverteidigung gegen die NATO“ wird ein Angriffskrieg gegen ein souveränes Land als defensive Maßnahme verkauft.
Der Mythos vom angeblichen NATO-Versprechen, es werde keine Osterweiterung geben, taucht regelmäßig in Kommentarspalten, Telegram-Gruppen und Social-Media-Profilen auf – obwohl selbst russische Spitzenpolitiker in den 1990er Jahren wussten, dass ein solches Versprechen nie gegeben wurde. Doch Wiederholung ersetzt Recherche, und Emotion schlägt Argument. So wirkt Propaganda.
Wenn Algorithmen den Gleichschritt fördern
Was die Gleichschaltung der Medien im Nationalsozialismus mit Gewalt und Kontrolle erzwang, erledigen heute oft die Algorithmen sozialer Netzwerke fast von selbst. Wer beginnt, pro-russische Inhalte zu liken, erhält mehr davon. Wer das Narrativ vom „verratenen Russland“ oder „US-gesteuerten Marionetten in Kiew“ teilt, bekommt Bestätigung – nicht Widerspruch.
Filterblasen schließen sich wie ein Tunnel um die eigene Weltsicht. Der Schritt von Desinformation zur Überzeugung ist dann nicht mehr groß.
Geschichte lehrt uns: Weghören ist keine Option
Gerade deshalb ist es wichtig, die Mechanismen zu verstehen – und sie einzuordnen.
Es geht nicht darum, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu relativieren. Im Gegenteil: Der historische Vergleich macht deutlich, wie gefährlich Propaganda ist – egal, in welchem Jahrhundert.
Was damals in aller Konsequenz in den Abgrund führte, beginnt heute oft mit einem geteilten Video, einem falschen Zitat, einem „neutralen“ Kommentar, der in Wahrheit Teil einer bewussten Manipulationskampagne ist. Wer heute glaubt, Russland habe sich gegen die Ukraine nur verteidigt, glaubt womöglich morgen, dass Polen 1939 der Aggressor war.
Zwischen Prinzip und Propaganda – der missbrauchte Pazifismus
Es ist eigentlich ein zutiefst ehrenwertes Prinzip, das aus zwei Weltkriegen geboren wurde: Nie wieder Krieg. Der Pazifismus gehört zu den wertvollsten Konsequenzen aus der Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Doch was, wenn dieses Prinzip zur rhetorischen Waffe wird – nicht für den Frieden, sondern gegen Verantwortung und gegen die Wahrheit?
Gerade in sozialen Netzwerken ist zu beobachten, wie pazifistische Parolen und Friedenssymbole heute häufig mit prorussischer Propaganda verschmelzen. Wer den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine kritisiert, wird als Kriegstreiber diffamiert. Wer sich für Waffenlieferungen ausspricht, als Feind des Friedens gebrandmarkt. Der Pazifismus wird so zum rhetorischen Deckmantel für eine Haltung, die in Wahrheit nicht Neutralität, sondern Gleichgültigkeit gegenüber dem Aggressor bedeutet.
Der Preis des Friedens ist die Bereitschaft zur Verteidigung
Dabei zeigt die Geschichte: Frieden entsteht nicht durch Wegsehen. Nicht durch Schweigen. Und nicht durch die Weigerung, zwischen Täter und Opfer zu unterscheiden. Der Überfall auf Polen 1939 ließ sich nicht durch Beschwichtigung verhindern. Der russische Überfall auf die Ukraine 2022 (im Grunde aber seit etwa 2008) auch nicht.
Wahrer Pazifismus stellt sich gegen Gewalt – nicht gegen diejenigen, die sich dagegen verteidigen. Er verweigert sich der Logik des Krieges, aber auch der Lüge des Gleichgewichts, wenn es keines gibt. Wer heute echte Friedensarbeit leisten will, muss bereit sein, die Realität klar zu benennen – und die Verantwortung dorthin zu legen, wo sie hingehört.
Verantwortung im digitalen Raum
Es liegt an uns allen – als Nutzer, als Journalisten, als Gesellschaft – die Lehren aus der Geschichte auch auf den digitalen Raum zu übertragen. Widerspruch ist nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Aufklärung nicht optional, sondern Pflicht. Und ein Like nie nur ein Klick, sondern eine Positionierung und manchmal eben auch ein Schritt in die falsche Richtung.
Nie wieder ist jetzt.
Wiederholung ersetzt Recherche, Emotion schlägt Argumente, da sind sich „Volksempfänger“, lokale Zeitung, Stammtisch und Vorurteile, damals eben antisemitisch, ähnlich. Die sozialen Medien verlangen keine neuen Sprechblasen, auch keine neuen Techniken.