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Liebes Deutschland – (K)ein Abschiedsbrief

Liebes Deutschland!

Du warst so schön. Ich liebte Dich. Dein Gesicht war ein bisschen schartig von umgewühlten Landschaften, aber das Haar Deiner Wälder war dicht und stark. Deine Sprache war hoch und Deine Gedanken immer schon ein bisschen zerrissen. Aber das warst eben Du. Dein Gang war aufrecht. Dein Lachen war freundlich und mir zugewandt, Deine Haut versprach Schutz und Zufriedenheit. Deine Flagge stand für die besten Traditionen von Freiheit und Selbstbestimmung. Willst Du das alles aufgeben?

Ich bin hier in eine jüdische Familie hineingeboren. Ich habe mir das nicht ausgesucht. Ich war die erste Generation nach dem Holocaust.

Ich bin in Deiner Teilung, liebes Deutschland, im Osten aufgewachsen. Ja, Du warst geteilt, so sehr diese Wunde auch schmerzte, trotzdem warst Du aber eben auch immer noch Deutschland. Diese Teilung hatte trotzdem etwas Beruhigendes. Und als ich begann, selbstständig zu denken, etwas Beunruhigendes. Das Beruhigende war Deine Sicherheit, die Du Deinen Bewohnern gewähreleistet hast. Die Sicherheit eines Gefängnisses, aber eben eine Sicherheit. Man durfte zwar nicht gehen und war dadurch fremd, aber hielte man sich an die Regeln, konnte man im Gänsefüßchenland von der Wiege bis zur Bahre ein sattes, zufriedenes Leben führen.

Du lehrtest mich denken, dank eines Fernsehens und Rundfunks, die die Grenze überfliegen konnten, als gäbe es sie nicht. Und dank meiner Großmutter und Freunde im anderen Teil Deutschlands, die mich mit Büchern versorgten, die in „meinem“ Teil des Landes verboten waren. Auch wenn das, was ich dachte, verboten war, gab es Dich, Deutschland. Du ließest mich die Wohligkeit eines umsorgten Dasein erfahren und die unendliche Sehnsucht nach der Welt. Du hast mich ernährt und geschlagen. Du hast mich verhaftet, verurteilt und dann verkauft.

Und dann habe ich, körperlich versehrt, die Seele vernarbt, die Wiedervereinigung erleben dürfen. Du hast mich damit wieder geheilt, liebes Deutschland, dafür bin ich Dir dankbar. Du hast mich meine Fremdbestimmtheit gegen Eigenverantwortung eintauschen lassen: Ich wurde doppelt frei. Frei von mir und frei von Dir, ohne Dir entsagen zu müssen. Plötzlich konnte ich gehen und wiederkommen, ohne Regression, ohne Gewissensbisse, ohne Scham. Deine Arme waren offen für mich, auch wenn ich begann, Dich immer kritischer zu sehen. Du hast mich ermutigt, genauso zu sein, wie ich nicht anders sein konnte.

Meine Familie lebt hier in Dir, meine Freunde und Menschen, die ich nicht persönlich kenne, aber schätze. Ich kenne mich aus in Dir, liebes Deutschland. Das war, das ist Heimat.

Liebes Deutschland!

Du hast inzwischen alles dafür getan, mir Dich als Heimat auszutreiben. Dein Lachen offenbart faulende Zähne, Deine Tränen sind unecht, Dein Mitgefühl gilt nicht mehr mir. Für mich hast Du nur noch Phrasen übrig.

An Deinem in der Vergangenheit oft aggressiven Wesen, das so wunderbar eingehegt und in einen größeren europäischen Kontext integriert schien, soll nun wieder einmal die Welt genesen. Du machst Täter zu Opfern, Du erfüllst Deine Aufgabe nicht mehr, meine Sicherheit, die meiner Familie und der Menschen, die mir wichtig sind, zu schützen. Willst Du das überhaupt noch?

Du hast Dich aufgegeben, liebes Deutschland. Du hast Deine guten, tradierten Werte aufgegeben, wegen derer man Dich überall auf der Welt schätzte. Du bist nicht mehr ein Beispiel für Stabilität, für Zuverlässigkeit, für gesellschaftlichen Konsens. Das alles bist Du nicht mehr. Dein Kredit, den vier, fünf Generationen mühsam aufgebaut haben, ist aufgebraucht. Du lebst nur noch von der Substanz, die immer weiter schwindet.

Du lässt es zu, dass im Namen Deiner ehemals hehren Werte auf Deinen Straßen wieder danach gerufen wird, mich und meinesgleichen zu ermorden.

Du lässt es zu, dass man Dich Deiner Identität beraubt, nein, Du beraubst Dich selbst dieser Identität.

Du bist nicht mehr stolz auf das, was Du nach dem Grauen, das Du angerichtet hast, wiedergutgemachen konntest.

Jeder konnte zumindest die letzten 30 Jahre gut in Dir leben, egal, wen man liebte, egal woher man kam, egal, wozu man sich bekannte. Es war oft schwierig, aber nicht unmöglich so wie in anderen teilen der Welt.

Das geht jetzt nicht mehr.

Liebes Deutschland!

Inzwischen bist Du auf dem besten Weg ein Fall für den Psychiater zu werden. Du agierst schizophren, masochistisch, irrational. Dein Handeln zeugt von Selbstaufgabe und der Lust daran. Dabei reicht Deine Maskerade immerhin noch dafür, das Gegenteil zu behaupten.

Deine Regierungen und die Menschen, die sie gewählt haben, vertreten einen moralischen Absolutheitsanspruch. Dieser Anspruch passt nicht zu Dir, nicht, nachdem man Deine Geschichte kennt. Nichts ist alternativlos.

Dabei verschließt Du Deine Augen vor den tatsächlichen Gefahren totalitärer Ideologien in der Welt. Oder willst Du sie verschließen? Recht- und identitätslose Kurden in der Türkei, entrechtete und an Leib und Leben bedrohte Sikh in Afghanistan, Christen in Nigeria, die Reihe ließe sich beliebig fortsetzen, interessieren Dich nicht, liebes Deutschland. Stattdessen sympatrhisierst Du offen mit Terroristen, die Frauen zu Tode vergewaltigen, Babys köpfen und ganze Familien entführen. Auf Deinen Bühnen darf offen mit denen Empathie gezeigt werden, die einen neuen Holocaust initiieren wollen. Was ist mit Dir passiert, liebes Deutschland? Wer will Deinen Tod? Willst Du ihn selbst?

Während ich an Dich schreibe, rauschen die Nachrichten des nächsten Einzelfalls durch die Medien. Während ich an Dich schreibe, tobt in den Medien der Wahlkampf, in dem immer wieder das Gespenst eines neuen Faschismus, eines Nationalsozialismus reanimiert wird. Das ist lächerlich, Deutschland. Ich erinnere mich an den Wahlsieg einer Kanzlerin, die eine kleine Deutschlandfahne, die man ihr auf der Bühne ihrer Partei reichte, kopfschüttelnd und voller Verachtung wegwarf. Welches Gespenst war da am Werk?

Deine freie, nahezu unbeschwerte Art zu leben, liebes Deutschland, hast Du abgelegt wie einen alten, verschlissenen Mantel. Was war schlecht an diesem Mantel? Weihnachtsmärkte werden hinter LKW-Sperren eingehegt, Waffenverbotszonen sollen Sicherheit vermitteln, simulieren sie aber lediglich, Volksfeste, Faschings- und Karnevalsumzüge werden aus Sicherheitsgründen abgesagt. Den Satz: „Wir lassen uns unsere Art zu leben, nicht kaputtmachen“ habe ich schon lange nicht mehr gehört. Denn diese Art zu leben hast Du Dir längst zerstört und zerstören lassen.

Syngogen und jüdische Schule stehen unter massivem Polizeischutz. Jüdische Menschen werden in die Unsichtbarkeit getrieben. Wir trauen uns nicht mehr, unsere Identität öffentlich zu zeigen. Wir tragen unsere Symbole unter der Kleidung, wir telefonieren in der Öffentlichkeit nicht mehr in Hebräisch, auf dem Weg zur Syngoge tragen wir keine Kippa mehr. Manche von uns sitzen auf gepackten Koffern, viele von uns denken darüber nach, es ihnen gleichzutun. Willst Du das, liebes Deutschland, sollen wir gehen, egal wohin, nur Dir aus den Augen? Und, was denkst Du, passiert dann, wenn wir wieder mal weg sind? Wärest Du dann plötzlich gesund?

Liebes Deutschland!

Ich erkenne Dich nicht wieder. Du willst nicht mehr Du sein. Warum eigentlich nicht mehr? Was war so schlecht an Dir, dass Du Dich so sehr verleugnest?

Daniel Anderson: Berufsausbildung zum Flugzeugmechaniker. Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Verhaftung. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron), Schriftsteller und Musiker. Studium Vergleichende Religionswissenschaften in Bonn. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.

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4 Gedanken zu “Liebes Deutschland – (K)ein Abschiedsbrief;”

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    Wann herrschte in Deutschland (meinetwegen West-Deutschland) „Stabilität, Zuverlässigkeit, gesellschaftlicher Konsens“? Selbst in den sehr komfortablen 1980er Jahren nicht. Außerdem sind dies statische Attribute, Dynamik würde fehlen.
    Antisemitismus gab es immer, leider. Dass muslimische Migranten hier nicht gerade hilfreich sind, ist klar. Außerdem sind sog. Pro-Palästinenser eine neue und stärkere Gruppe geworden. Aber auch das sind nicht schlicht Antisemiten, sondern historisch ungebildete Typen, die von Post-Imperialismus faseln und nicht begreifen, wes hässliches Lied sie singen.

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      Liebe Monika Frommel,
      vielen Dank für Ihren Kommentar. Mein Blick auf das (West-)Deutland der 80er Jahre mag getrübt sein, ich war nur mittelbar dabei. M.E. jedoch liegen nur in „statischen“ Werten, wie Sie es nennen, die Chancen zur Dynamik, sie ist, wie ich meine, nur darin angelegt.
      Was den zweiten Teil Ihres Kommentars angeht, nun ja, Anisemiten sind, was sie sind UND historisch ungebildet. Das eine mag aus dem anderen resultieren. Das zu wissen, macht es allerdings nicht besser.
      Alles Gute für Sie.

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    „Was war so schlecht an Dir, dass Du Dich so sehr verleugnest?“
    Ich versuche mal eine Antwort, die mir bereits gestern, bevor ich Ihren Text las, in den Sinn kam. Beim Kanzlerduell im Fernsehen. Beide hilflos: Scholz will schärfere Gesetze und mehr ABM-Stellen (Freiheit adė, Steuergeld weg, Inflation) und Merz will Grenzen dicht/ ausweisen (die ‚Grünen‘ werden es verhindern). Beide sehr ehrenwert, mit beiden möchte ich nicht tauschen. Das Problem: Beide werden nicht regieren auch wenn sie drankommen. Denn seit Merkel regieren infantile Jakobiner über die NGOs das Land. Das wieder einzuhegen, bedarf einer gewissen Gewalt. Um den gesunden Menschenverstand wieder einzuüben. Dazu sind zwei Wege vorgezeichnet: 1) mit der linksgrünen Volksfront in die blutige und unfreie Pleite, dann Revolution, vielleicht mit Hilfe der USA. 2) ein deutscher Sonderweg – unter einer anderen Hegemonie, wahrscheinlich der chinesischen. (Putin schafft das nicht). Digitale Sklaverei. Auf jeden Fall: Disruption, aber leider keine selbstbestimmte, aus eigener Kraft. Und ja: Jetzt kann man noch alles verkaufen, hat Geld und findet Aufnahme in einem anderen Land.

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      Lieber Klaus J. Nick,
      vielen Dank für Ihren Kommentar.
      Ja, das ist eine Möglichkeit: Nur weg. Andererseits will ich das, was mal meine Heimat war, nicht den Maschinenstürmern so kampflos überlassen. Und immer noch unbeantwortete Fragen, die sich so viele Menschen durch die Geschichte immer wieder gestellt haben: Wie konnte es soweit kommen?

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