Manche Sätze, die Politiker zu aktuellen Ereignissen in Mikrofone sprechen, erleiden das Schicksal, dass sie sich selbst überleben, weil sie durch die nachfolgende Realität überholt werden. Der berühmteste Satz der jüngeren Geschichte dieser Art ist das „Wir schaffen das.“ Nun, die Wirklichkeit hat diesen Satz damit ad absurdum geführt und damit zu einem Meme gemacht. Dicht gefolgt im Bingo der Textbausteine, denen das selbe widerfuhr ist: „Unsere freiheitliche Gesellschaft wird sich unsere Art, zu leben, nicht durch Terroristen zerstören lassen.“
Auch hier ist die Urheberin Altkanzlerin Merkel, die ihn in ihrer Regierungserklärung vom 18.03.2018 unter nachfolgendem Beifall ins Plenum entließ. Konnte man diesen Text noch als trotzige Reaktion und Kampfansage auf die terroristischen Anschläge der vergangenen Jahre – u.a. Weihnachtsmarkt Berlin – an sicherlich schon im Land befindliche islamistische Todeskultanhänger verstehen, so ist er angesichts des Anschlages in Magdeburg nahezu schon Zynismus. Denn unsere freiheitliche Gesellschaft hat die freiheitliche Art zu leben längst aufgegeben. Die Regierungen seit 2015 haben das wichtigste Kapital des Staates – das Vertrauen – in eben diesen Staat bei großen Teilen der Bevölkerung verspielt.
Leviathan
Der englische Philosoph Thomas Hobbes veröffentlichte 1651 als Reaktion auf die Religionskriege seine Staatstheorie unter dem Titel „Leviathan.“ Hobbes plädiert angesichts des Chaos der Kriege dafür, die Idee einer starken Zentralgewalt in einem Vertrag zwischen Untertanen und Herrscher festzuschreiben, der vor allem inneren Frieden und Rechtssicherheit gewährleisten sollte. Hobbes Schlußfolgerung mag aufgeklärten Demokraten diktatorisch-populistisch erscheinen, denn Hobbes‘ Theorie ist die Ideologie einer Diktatur, auch wenn John Locke später, sich auf Hobbes beziehend, Menschenrechte in die Staatstheorie einbezog. Aber im Kern definiert Hobbes die wesentlichste Aufgabe des Staates, nämlich den Schutz der Bevölkerung vor Bedrohungen innerer und äußerer Feinde. Das Gewaltmonopol fällt an den Staat, der dafür Sorge zu tragen hat, dieses Gewaltmonopol durchzusetzen und somit die Bevölkerung von der Angst vor Gewalt durch jeden Feind zu befreien. Das hat nichts mit Eiapopeia-Ringelpietz-wir-haben-uns-alle-vielfältig und bunt-lieb-Gesängen zu tun. Es ist prosaisch und hart. Es ist die ganz und gar unromantische Bedingung, dass Staat funktioniert. Setzt der Staat nicht sein Gewaltmonopol durch, ist Vertrauensverlust die unweigerliche Konsequenz.
„In Großgruppen ist unter der Annahme wechselnder Interaktionspartner und individueller Optimierung Kooperation nicht stabil,“ sagt Hobbes, daher sei die Macht auf den Staat zu übertragen. Wird dieses Prinzip aufgeweicht, „wankt“ (waving) die einmal hergestellte Ordnung, jedes Wanken macht den Staat angreifbarer bis hin zur „Auslieferung an das Chaos,“ in deren Schlepptau die Selbstauflösung schon ihr Grinsen zeigt.
Für die freiheitliche Demokratie ist das der Todesstoß. Michel Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ denkt diesen Vorgang zu Ende. Aus Angst vor dem Tod der Demokratie durch rechte Populisten, begeht die Demokratie Suizid, indem sie sich einer religiös-faschistoiden Ordnung ausliefert. Nach kurzem Gemetzel wird das Individuum vollständig vergesellschaftet, Freiheit, allgemeine Menschenrechte, Frauenrechte, alldas, wofür die Demokratie steht, existieren nicht mehr, stattdessen bedingungsloses Patriarchat, kurz: Unterwerfung. Ein Rückfall in die Zeiten des Kalifats oder des mittelalterlichen Kirchenstaates.
Gehen Sie bitte weiter, hier gibt’s nichts zu sehen
Der Anschlag von Magdeburg hat die bundesdeutsche Demokratie so tief erschüttert wie bisher noch keiner dieser Vorfälle. Wäre dieser Anschlag bereits vor sechs Jahren passiert, wäre man vielleicht – wie nach den Anschlägen von Berlin, Iller-Kirchberg, Ansbach et al. – nach kurzem Innehalten einfach zur Tagungsordnung übergegangen und hätte sich wieder mit ein paar Demos gegen Rechts das Gewissen beruhigt. Das alles mit dem Wissen, auf der Seite der moralisch Überlegenen zu stehen. Das funktioniert jetzt nicht mehr, nicht mehr mit der widersprüchlichen Figur des Attentäters, nicht mehr mit dem verherrenden Ausmaß des Anschlags, nicht mehr mit dem enormen sozialen Sprengstoff, den die hausgemachte Wirtschaftskrise darstellt. Die Wirklichkeitsverweigerung, der wir bisher ausgesetzt waren und die sich in den ewig gleichen Textbausteinen manifestiert, geht jetzt an die Subtanz unserer Demokratie. Inzwischen befinden sich ganze Elefantenherden im Raum, die jetzt tatsächlich nicht mehr zu ignorieren sind.
Machen wir uns nichts vor: Kein Staat kann Gewalt vollständig verhindern, denn, nach Hobbes nihilistischer Meinung nach ist der Mensch von Natur aus dem Menschen ein Wolf: Homo homini lupus. Doch der Unterschied zwischen der Gewalt, die aus niederen Motiven resultiert, oder der Gewalt, die sich gegen die Gesellschaft (Staat) richtet, ist prinzipiell. Der Angriff auf den Staat als Konzept ist Gewaltausübung gegen alle und nicht nur gegen einzelne. Und je größer die Zahl der Opfer ist, desto eindrücklicher wird diese Erkenntnis.
Das macht den Anschlag von Magdeburg ganz sicher zum Kipppunkt in der Wahrnehmungsdimension. Dieser Anschlag galt dem deutschen Staat, unserer liberalen Demokratie, mehr als alle vorherigen Anschläge. Auch wenn die üblichen Betroffenheitsbekundungen von allen Seiten so klingen wie immer, glauben viele Staatsbürger und Staatsbürgerinnen diesen hohlen Phrasen nicht mehr bzw. lassen sich davon nicht mehr beruhigen. Das eindeutige Zeichen dieses Anschlags ist: Der Staat WILL dich nicht schützen, zumindest nicht vor denen, die die Bevölkerung als sichtbaren Teil der verachteten Demokratie angreifen.
Während einer Rentnerin auf einem Weihnachtsmarkt bei einer Taschenkontrolle durch die Polizei ein Schweizer Messer abgenommen wird und sie einen Strafbefehl zu erwarten hat, rast der Täter mit einem schweren Auto über einen anderen Weihnachtsmarkt und tötet und verletzt. Wie absurd muss das selbst dem letzten erscheinen, wenn der eigentlich demokratisch-freiheitlich verfasste Staat, auf das Ziel solcher Feinde des Staates ihn zu vernichten, damit reagiert, in die Freiheit der Bevölkerung so massiv einzugreifen. Damit hat sich unsere freiheitliche Gesellschaft, ihre Art zu leben, selbst kaputtgemacht.
Zu diesen selbstzerstörerischen Akten gehören auch die Duldung der respektlosen Demos über Weihnachtsmärkte, die den Sieg einer radikal-islamischen Miliz mit Alahu-akbar-Rufen feiern. Diese Demonstrationen sind Landnahme und Machtanspruch. Sie befinden sich in einer Reihe mit den nun dauerhaft gestatteten Gebetsrufen in Köln und den Vierteln in deutschen Großstädten, in denen Gegengesellschaften etabliert wurden. Auch das im Namen der Vielfalt, die in Wahrheit Segregation und identitätspolitische Geisterfahrerei ist.
Schwacher Staat – gar kein Staat
Der Attentäter von Magdeburg, angeblich ein Ex-Moslem, der aber auf seinem X-Account den Wahhabismus als einzig wahres Religionskonzept feiert, ist mit der Waffe Auto eben nicht in eine Moschee gerast oder in den Zaun der Saudi Arabischen Botschaft in Berlin. Nein, er hat sich einen Weihnachtsmarkt im Advent ausgesucht. Man kann das für ein Paradoxon halten, aber es ist keins. Paradox dagegen ist, dass der Mann polizeibekannt war, eine Anzeige wegen Androhung eines Sprengstoffanschlags gegen ihn lief, andere Menschen die Behörden vor der Gefährlichkeit des Mannes gewarnt hatten und trotzdem nichts passiert ist. Der Staat war als Abwehrorgan von Angst und Gefahren für seine Bevölkerung einfach nicht präsent. Der Attentäter erschien nicht zu einem Gerichtstermin, na gut, dann eben nicht, auch das hat offensichtlich die Behörden nicht beunruhigt. Das kennt man, wenn Menschen abgeschoben werden sollen und die Polizei sie nicht an der Meldeadresse antrifft, dann geht man eben wieder. Tja, kann man nichts machen. Dass der Attentäter von Magdeburg einen saudi-arabischen Pass besaß, obwohl er doch angeblich aus seiner Heimat geflohen ist, war auch noch nicht Anlass genug, da vielleicht genauer hinzusehen. Jetzt allerdings, wo seine Aktivitäten auf X recherchiert werden, stößt man u.a. auf AfD-Posts, die er gelikt hat, alles andere blendet man geflissentlich aus. Damit ist für Teile des medialen Komplexes klar, dass man es hier mit einem Rechtsextremisten zu tun hat, folglich auch der Anschlag rechtsextremistisch zu sein hat.
Als Mensch mit gesundem Menschenverstand kommt man ob dieses Framings vor Lachen kaum in den Schlaf, wäre es nicht so gefährlich, derartig populistischen Unsinn zu verbreiten, gefährlich für unsere Demokratie. Denn, ja, die populistische AfD und das populistische BSW werden auf jeden Fall von diesem Anschlag bei der anstehenden Bundestagswahl profitieren. Nicht, weil es sich bei dem Attentäter möglicherweise um einen psychisch gestörten Islamisten handelt, der die Demokratie verachtet, sondern weil sich der demokratische Staat als so schwach präsentiert hat. Es handelt sich um Staatsversagen, dass der Mann, nach allem, was er sich an Verhöhnung des Staates in der Vergangenheit geleistet hat, immer noch in Deutschland war, alimentiert von Steuergeldern derjenigen, die er zum Ziel des Anschlags machte. Dieses Staatsversagen ist Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Und genau diese Selbstauflösungserscheinungen spielen jedwedem Feind unserer Demokratie in die Hände. Dass sich viele Demokraten durch Schweigen, relativieren, infantilisieren, diffamieren und Verweigerung eines kritischen, sachlichen Diskurses als Blödmannsgehilfen derer verdingen, die „unsere Art zu leben“ zerstören wollen, ist besonders bitter.
Daniel Anderson: Regiestudium an HFF „Konrad Wolf“ in Babelsberg. Berufsverbot als Filmregisseur in der DDR. Oberspielleiter, Autor und Schauspieler am Theater Senftenberg. Nach dem Mauerfall freier Regisseur, Autor (TV-Serie, Theater, Synchron), Schriftsteller und Musiker. Studium Vergleichende Religionswissenschaften in Bonn. Gründer und Leiter der „Theaterbrigade Berlin.“ Anderson lebt in Berlin und immer mal wieder in Tel Aviv.